# taz.de -- Anerkennung für Haasenburg-Opfer: Das Leiden hat kein Ende | |
> Die Skandalheime der Haasenburg GmbH sind seit 2013 geschlossen. Doch die | |
> ehemaligen Bewohner:innen ringen immer noch um eine Entschädigung. | |
Bild: Was hier passierte, lebt in den Köpfen der Betroffenen fort: Haasenburg-… | |
HAMBURG taz | „Jonas lebt nicht mehr“, schrieben wir [1][in der taz am 23. | |
März]. Er war zwei Wochen zuvor in einem Ruhewald bei Pinneberg beerdigt | |
worden. Sein Name steht auf einem Schild an einer Buche neben fünf anderen, | |
die 2021 starben. Mit seinen 24 Jahren war er der Jüngste. | |
Der junge Mann hatte sich das Leben genommen. Er hatte in den Monaten vor | |
seinem Tod viel Übles erlebt, wurde Opfer einer Gewalttat. Doch im Grunde, | |
sagt eine Mutter Eva L., war ihr Sohn seit Jahren psychisch kaputt. 2009 | |
war er auf Druck des Jugendamtes als Zwölfjähriger in eines der autoritären | |
Brandenburger Haasenburg-Heime gekommen. | |
Die Mutter war damals erschrocken, als sie ihr Kind nach sechs Wochen | |
besuchten durfte. Sie bekam mit, wie er bei jeder Zimmertür die Betreuer | |
unterwürfig fragen musste, ob er durchgehen darf. „Ich dachte, was für | |
Stasi-Methoden!“, erinnert sich Eva L. „Wenn ich mit ihm telefonierte, | |
weinte er oft. Er hatte Angst, auf die Fixierliege zu kommen“. | |
Jonas selbst hatte der taz 2013 ein Interview gegeben, und von | |
[2][Misshandlungen durch die Betreuer] berichtet. Der Satz „als sie ihn | |
körperlich begrenzten, tat ihm das weh“, steht sogar in einem | |
Hilfeplanprotokoll des Jugendamtes Hamburg-Eimsbüttel aus dem März 2009. | |
Eva L. hat auch noch einen Brief, in dem der Junge mit kindlicher Schrift | |
schrieb: „Ich habe an den Schultern Blaue Flecken.“ | |
Eva L. schaffte es 2010, ihr Kind aus dem Heim wieder rauszuholen. Und sie | |
gehörte drei Jahre später zu einem Kreis von Müttern, die sich nach | |
Berichten in der taz für die Schließung der Heime engagierten. Dazu kam es | |
drei Jahre später. Die damalige Brandenburgische Jugendministerin Martina | |
Münch (SPD) entschuldigte sich bei den Jugendlichen dafür, dass man ihnen | |
vorher nicht geglaubt und sie nicht vor Übergriffen geschützt hatte. | |
Doch die Entscheidung, junge Menschen dorthin zu schicken, hatten die | |
Jugendämter getroffen. 52 Kinder und Jugendliche aus Hamburg hatte dieses | |
Schicksal ereilt. Und der Hamburger Senat hat sich dafür bis heute nicht | |
entschuldigt. Der damalige Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) hatte im | |
Sommer 2013, wenige Monate vor der Schließung der Heime, erklärt, Hamburger | |
seien von den Missständen nicht betroffen, und das auch später nicht | |
revidiert. | |
Für Eva L. und Regina S., eine weitere betroffene Mutter, war das schwer zu | |
verstehen. „Mit wem haben Sie darüber gesprochen?“, fragten sie im | |
[3][Januar 2015 in einem Offenen Brief], „Mit uns und unseren Kindern | |
nicht!“ Doch als die taz beim Senator nachhakte, ob er zu einem Gespräch | |
mit den Frauen bereit sei, lehnte sein Sprecher das ab. Als Grund nannte er | |
die damals noch laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aufgrund von | |
Anzeigen gegen Betreuer. | |
Die sind inzwischen längst [4][abgeschlossen]. Doch als die taz anlässlich | |
von Jonas’ Tod nun im Büro von Scheeles Nachfolgerin Melanie Leonhard (SPD) | |
nachfragte, ob sie heute bereit wäre, mit den beiden Müttern zu sprechen, | |
erklärte ihr Sprecher, solche Anfragen müssten schon die Betroffenen selbst | |
stellen. | |
Eva L. ist der Ansicht, dass die Ex-Haasenburg-Bewohner entschädigt werden | |
müssen. „Fast alle, die ich kenne, haben heute große Probleme, stehen ohne | |
Schulabschluss da und haben das Vertrauen in das Hilfesystem verloren“, | |
sagt sie. | |
Am 17. Juni schrieb sie direkt eine Mail an Senatorin Leonhard und bat | |
darum, dass sie mit ihr spricht. „Ich weine, während ich diese Zeilen | |
schreibe. Es tut so unfassbar weh“, schrieb die gebürtige Dänin. „Warum | |
bekamen die Kinder damals keine Hilfe? Kein Respekt oder Anerkennung? Es | |
ist nicht zu spät. Die Stadt Hamburg hat so viele Kinder in die | |
Haasenburg-Heime geschickt. Keins davon hat es geschafft, ein normales | |
Leben zu führen. Wie wäre es endlich mit einer ernstgemeinten | |
Entschuldigung? Und einer Entschädigung?“ | |
Immerhin bekam sie eine Antwort vom Leiter des Amtes für Familie, der sein | |
Beileid ausdrückte. Doch er erwähnte weder die Haasenburg noch lud er die | |
Mutter zum Gespräch ein. | |
Abseits der Stadt berührte Jonas’ Tod viele. Die Brandenburgische | |
Abgeordnete [5][Isabelle Vandre (Die Linke) stellte eine Anfrage], in der | |
sie Jonas’ Mutter zitiert und fragt, ob es für die ehemaligen Bewohner | |
Entschädigung gibt. In der Antwort der Landesregierung heißt es, für | |
Entschädigungen wegen schlechter Pädagogik gebe es „keine Rechtsgrundlage�… | |
Diese könne nur individuell auf Basis des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) | |
erfolgen. | |
Doch ob dieses Gesetz auch Heimbewohnern aus jüngerer Zeit hilft, die wie | |
Jonas zum Beispiel Schmerzen bei im Haasenburg-Jargon „Begrenzungen“ | |
genannten körperlichen Übergriffen erlitten, ist offen. Das | |
Jugendministerium für Bildung, Jugend und Sport erklärt, dazu lägen „keine | |
Informationen vor“. | |
Die ehemalige Bewohnerin Christina W. regte die Antwort der Landesregierung | |
so sehr auf, dass sie eine [6][Online-Petition für Entschädigung] der | |
ehemaligen Kinder der Haasenburg-Heime startete. Denn unbestreitbar sei | |
ihnen das Recht auf gewaltfreie Erziehung genommen worden. In wenigen Tagen | |
unterschrieben über 30.000 Menschen. | |
Die frühere Ministerin Münch hatte zwar im Sommer 2014 zu einem kurzen | |
„Aufarbeitungs-Workshop“ eingeladen, zu dem neben Christina auch | |
Ex-Bewohner Renzo Martinez und zwei weitere kamen. Davon gibt es ein Foto. | |
„Aber passiert ist seither nichts“, sagt Christina. | |
Deshalb hat sie Ende September auch eine Mail an die heutige | |
Jugendministerin Britta Ernst (SPD) geschrieben. „Dass uns damals keiner | |
geschützt hat, macht uns traurig. Die Aussage, dass es für eine | |
Entschädigung keine rechtliche Grundlage gibt, ist für uns unfassbar“, | |
heißt es darin. Dies passe mit dem gesetzlichen Verbot von körperlichen | |
Strafen nicht zusammen. „Also bitte tun Sie endlich etwas.“ | |
Erst kurz vor Weihnachten erhielt Christina Post. „Ich bedaure zutiefst, | |
welches Leid, das bis heute nachwirkt, Ihnen zugefügt wurde“, schrieb die | |
Leiterin der dortigen Brandenburger Heimaufsicht im Auftrag von Ministerin | |
Ernst. Dann erinnert sie an den Workshop, der bis heute „nachhaltig“ auf | |
die Selbstbestimmung junger Menschen in ganz Deutschland wirke. Denn die | |
ehemaligen Bewohner der Haasenburg könnten für sich in Anspruch nehmen, | |
jene Änderungen in Gang gesetzt zu haben, die im Juni 2021 mit dem neuen | |
„[7][Kinder- und Jugendstärkungsgesetz]“ in Kraft traten. | |
Also etwas Ehre für die Opfer. Jugendeinrichtungen, schreibt die Leiterin | |
der Heimaufsicht weiter, müssten heute so gestaltet werden, dass Kinder sie | |
„nicht als totale Institution erleben“. | |
So müsse es heute jedem Heimkind möglich sein, auch extern Beschwerden zu | |
äußern, die „nicht von der Einrichtung gefiltert oder gesteuert“ werden. | |
Dadurch werde gesichert, dass „Kinder und Jugendliche nicht dafür büßen | |
müssen, wenn sie von ihrem Beschwerderecht Gebrauch machen“. | |
Ferner habe der Fall Haasenburg gezeigt, dass gewisse Heime „engmaschiger | |
beaufsichtigt werden“ müssten, etwa durch „unangemeldete örtliche | |
Prüfungen“. Eben dies sei nun „ausdrücklich gesetzlich verankert“. | |
## Dysfunktionales Gesetz | |
Allerdings ist das neue Gesetz hier sehr widersprüchlich. Früher durfte die | |
Heimaufsicht bei Besuchen mit Heimkindern sprechen. Fortan muss sie dafür | |
das Einverständnis der Sorgeberechtigten einholen. Da sie deren Adressen | |
erst bei den Heimen erfragen muss, ist also ein Überraschungsbesuch kaum | |
möglich. „Das Gesetz wurde durch den Einbau dieser Hürde verschlechtert“, | |
sagt der Hamburger Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer, und spricht von | |
einer „Fake-Regelung“. | |
Das sieht auch Renzo Martinez so, der Sprecher der | |
„[8][Interessengemeinschaft der ehemaligen Haasenburg-Kinder]“, die sich | |
inzwischen als Reaktion auf Jonas’ Tod gegründet hat. „Wir wollen aus der | |
Unsichtbarkeit herauskommen“, sagt Martinez. | |
Auch die jüngsten Ehemaligen sind heute Erwachsene, die sich artikulieren | |
und zum Beispiel am 4. März an der [9][Fachtagung „Konflikte um | |
Heimerziehung und Einschluss heute“ des Aktionsbündnisses gegen | |
geschlossene Unterbringung] in Hamburg teilnehmen wollen. Neben einer | |
Entschädigung und Anerkennung des Leids fordert Martinez auch, dass alles | |
getan wird, um eine Wiederholung dieses Heim-Skandals zu verhindern. „Diese | |
Gesetzesänderung scheint mir im Punkt Heimaufsicht das Gegenteil davon“, | |
kritisiert er. | |
## Antrag nach Opferentschädigungsgesetz | |
Die Leiterin der Brandenburger Heimaufsicht legt in ihrem Brief Christina | |
und ihren Mitstreitern ans Herz, doch einen Antrag auf Entschädigung nach | |
Opferentschädigungsgesetz zu stellen: „Für Sie, die Sie die | |
Haasenburg-Einrichtungen in einer Form erlebt und durchlitten haben, die | |
heute nicht mehr möglich wäre, gibt es die Möglichkeit, Ansprüche auf | |
Entschädigung für individuell erlittenes Leid prüfen zu lassen.“ Bei den | |
Anträgen berate das Landesamt für Soziales und Versorgung, dort wären „auch | |
die Betroffenen der Haasenburg sehr gut aufgehoben“. | |
Christina und Renzo wollen das jetzt versuchen, sind allerdings skeptisch. | |
Falls das scheitert, erwägen sie eine Petition für Entschädigung an den | |
Bundestag. | |
Auch Eva L. hat Anfang des Monats den Leiter der Hamburger Heimaufsicht | |
noch mal um ein Gespräch gebeten. Aussprache, Entschuldigung und | |
Entschädigung seien wichtig, sagt sie. Erst wenn das passiert sei, könnten | |
die Betroffenen „endlich abschließen“. Bis jetzt kam keine Resonanz. | |
27 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Tod-eines-ehemaligen-Heimkindes/!5756902 | |
[2] /Heime-der-Haasenburg-GmbH/!5060823 | |
[3] /Kritik-an-Heimpolitik/!5021932 | |
[4] /Missbrauch-in-Haasenburg-Heimen/!5253825 | |
[5] https://isabelle-vandre.de/kleine-anfrage-entschaedigungen-fuer-die-kinder-… | |
[6] /Gewalt-gegen-Kinder-in-Haasenburg/!5804644 | |
[7] https://www.dijuf.de/files/downloads/2021/DIJuF-Synopse%20KJSG%20(Stand%201… | |
[8] https://www.facebook.com/ehemalige.haasenburgkinder/ | |
[9] https://www.geschlossene-unterbringung.de/2021/11/wenn-du-nicht-brav-bist-k… | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Haasenburg Heime | |
Hamburg | |
Brandenburg | |
Opfer | |
Jugendhilfe | |
Gewalt gegen Kinder | |
Kinderheim | |
Geschlossene Kinderheime | |
Schwerpunkt Haasenburg Heime | |
Schwerpunkt Haasenburg Heime | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Betroffener über Gewalt im Jugendheim: „Man schuldet uns etwas“ | |
Psychische Gewalt und Fixierungen: Ehemalige Haasenburg-Insassen erzählen | |
in Hamburg ihre Geschichte und stellen Forderungen. | |
Aufarbeitung des Haasenburg-Skandals: „Opfer eines Systemversagens“ | |
Ehemalige Bewohner der Haasenburg-Heime fordern Entschädigung. Doch die | |
Brandenburger Bildungsministerin ignoriert das. | |
Gewalt gegen Kinder in Haasenburg: Ex-Heimkinder fordern Entschädigung | |
Frühere Haasenburg-Bewohnerinnen fordern Wiedergutmachung vom Land | |
Brandenburg. Die zuständige Ministerin setzt nur auf Einzellösungen. | |
Fehlende Aufarbeitung des Heim-Skandals: Die Reste der Haasenburg | |
In einem lange verlassenenen Haasenburg-Heim entdeckt ein Filmteam | |
Fixiergurte und persönliche Akten. Anzeige wegen Datenschutzverstoß ist | |
gestellt. |