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# taz.de -- Fehlende Aufarbeitung des Heim-Skandals: Die Reste der Haasenburg
> In einem lange verlassenenen Haasenburg-Heim entdeckt ein Filmteam
> Fixiergurte und persönliche Akten. Anzeige wegen Datenschutzverstoß ist
> gestellt.
Bild: Fund im Keller: ein Karton mit Ledergurten. Ein Screenshot des Kinderheim…
Hamburg/Berlin taz | Für die Bremerin Christina Witt gab es kürzlich einen
traurigen Anlass, sich an ihr Kinderheim, die Haasenburg, zu erinnern.
Jonas L., ein ehemaliger Mitinsasse aus Hamburg, hatte sich mit 24 Jahren
das Leben genommen. [1][Die taz berichtete davon]. Seine Mutter, Eva L.,
sagte nach der Beerdigung: „Die Haasenburg hat meinen Sohn psychisch kaputt
gemacht.“ Sie kritisierte, dass es keine Hilfe für die Opfer gibt.
Die drei Haasenburg-Heime wurden 2013 von der brandenburgischen
[2][Jugendministerin Martina Münch (SPD)] geschlossen, nachdem eine
[3][Untersuchungskommission ihren Bericht] vorlegte, in dem die von der taz
recherchierten Vorwürfe bestätigt wurden. In der Kritik standen
drangsalierende Regeln, eine zu lange währende Isolation auf dem Zimmer,
körperliche Begrenzungen der Kinder und Jugendlichen mit [4][teils
schmerzenden Grifftechniken] und – bis zu deren Verbot Ende 2009 – die
Fixierung mit Fixiergurten auf Liegen.
Für Münch war das Heim „nicht reformierbar“. Für die Schließung spreche
nicht nur der „hochproblematische Umgang“ mit den jungen Bewohnern, sondern
besonders deren „latente Gefährdung“ durch „jederzeit mögliche körperl…
Zwangsmaßnahmen“. Zugleich gab es damals an die 70 Strafanzeigen von
Betroffenen, die jedoch [5][bis auf wenige Ausnahmen eingestellt] wurden.
## Betroffene würde gern ihre Akten sehen
Christina Witt, die auch 2014 rund 40.000 [6][Online-Unterschriften gegen
die damals kurzeitig drohende Wiedereröffnung] sammelte, erkundigte sich
dieses Frühjahr, ob es Neues zur Haasenburg gibt. Und fand auf Youtube ein
Video mit dem Titel [7][„Das H*rror-Kinderheim!“.] Ein Filmteam, das
unbekannte Orte, „UnknownWorlds“, aufspürt, hat bereits im November 2020
einen Streifen ins Netz gestellt, der das ehemalige Haasenburg-Haus in
Jessern am Schwielochsee zeigt.
Die Filmer führen den Zuschauer dabei in den Keller, wo ein Karton mit
braunen Fixiergurten zu sehen ist, den sie laut ihrem Bericht in einem mit
Brettern abgedeckten Schacht fanden.
Außerdem finden sie beim Gang durch das gespentisch leere Haus, das zu
DDR-Zeit ein Gästehaus des Rats der Stadt Cottbus war, Akten von
Mitarbeitern und Jugendlichen, etwa einem Mädchen, das weglief, sowie die
Röntgenbilder, die zum Alter der Ex-Insassen passen.
Christina Witt, die heute 24 Jahre alt ist, hatte mit 19 ihre
Jugendamtsakten bekommen. Sie war in mehreren Heimen, davon ein Jahr in der
Haasenburg. „Ich wunderte mich damals, dass deren Akten fehlten“, sagt sie.
Sie würde sie eigentlich gern haben. Gudrun Gärtner*, eine Bekannte von
Witt, erstattete am 14. Mai bei der Internetwache Berlin Anzeige wegen
Verletzung des Datenschutzes und verwies – es gibt noch ein weiteres – auf
die Videos.
Die taz erhielt eine Kopie der Anzeige. Der Fund schien nicht
uninteressant. Hatte die taz im Frühjahr 2014 doch Hinweise erhalten, dass
im Keller des Heims Jessern Unterlagen oder gar eine Fixierliege versteckt
oder eingemauert sein könnten und dies seinerzeit an die Staatsanwaltschaft
Cottbus weitergegeben. Denn die war laut einem Bericht der [8][Märkischen
Onlinezeitung aus Januar 2014] dem Vorwurf auf der Spur, ob trotz des
Verbots auch nach 2009 noch Kinder und Jugendliche auf Liegen
festgeschnallt wurden. Hatte sie doch auf einer Liege DNA-Spuren genommen,
die einem Jungen zuzuordnen war, der Anzeige erstattet hatte. Doch auch von
dieser Ermittlung hörte man nichts mehr.
Als die taz vor wenigen Tagen bei der Pressestelle der Staatsanwaltschaft
anrief, waren dort weder die Filme noch Gärtners Anzeige bekannt. Gefragt
nach dem Hinweis von damals sagt Sprecherin Petra Hertwig, man habe damals
den Keller durchsucht. „Da war nichts eingemauert. Alle Akten, die wir
brauchten, haben wir bekommen.“ Wegen der Anzeige rät sie, die Polizei zu
fragen.
## Polizei holte 96 Umzugskisten mit Akten raus
Ein paar Telefonate später landen wir bei der Polizei Dahme-Spreewald. Und
die kennt Gärtners Anzeige. Die sei einem Verfahren zugeordnet worden, das
es längst gibt. „Der Sachverhalt war hier bekannt. Wir waren dort,
mehrmals“, sagt ein etwas genervter Beamter. Am 9. August 2019 habe man 96
Umzugskisten mit Akten aus dem früheren Heim geholt. Die stünden jetzt bei
der Staatsanwaltschaft. Nach einer neuen Anzeige vom Juni 2020 sei man noch
mal hin und habe zweieinhalb Kisten mit Akten geholt. Die stünden auf der
Wache im Keller.
Der Beamte nennt das Aktenzeichen. Dieses sagt nun auch der
Staatsanwaltschaft etwas. „Das Verfahren dürften wir haben“, sagt
Sprecherin Hertwig. Allerdings sei die zuständige Staatsanwältin gerade im
Urlaub. Die beiden Videos böten keinen Anhaltspunkt für eine Straftat, da
darin nicht ersichtlich sei, ob die Akten von außen frei zugänglich waren,
so Hertwig. Auch inhaltlich von Interesse sind die Funde offenbar nicht.
Man habe damals mitgenommen, was man für die Strafverfahren brauchte.
Der Anstoß für die Aktenaktion kam wohl von der
Landesdatenschutzbeauftragten. Denn das Haus am See, das als das härteste
der drei Haasenburg-Heime galt, hatte offenbar längst einen anderen
Besitzer. Laut Medienberichten wollte dort 2015 eine Firma Flüchtlinge
unterbringen. 2019 berichtet das Magazin reise vor9, dort sei ein
Luxushotel mit 130 Zimmern geplant. Betreiberin wäre die Seelandhaus GmbH.
Nach Auskunft des Landkreises Lieberose ruht der Vorgang derzeit. Die für
ein Hotel nötige Nutzungsgenehmigung sei noch nicht erteilt.
Astrid Oehme vom Büro der Datenschutzbeauftragten sagt, dort habe man
Anfang August 2019 den Hinweis auf die Akten erhalten und dann die Polizei
in Lübben informiert. Da die Ex-Heimbetreiberin, die Haasenburg GmbH, der
neuen Eigentümerin das Gebäude offensichtlich „mit hoch sensiblen Sozial-
und Gesundheitsdatensystem“ überlassen habe, gebe es den Anfangsverdacht
der Verletzung der Schweigepflicht nach Paragraf 203 Strafgesetzbuch. Zudem
gab es den Verdacht, dass sich der Verantwortliche die Entsorgungskosten
erspart haben könnte, was ein Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz
wäre. Nach Oehmes Kenntnis läuft das Verfahren noch.
Auch das brandenburgische Bildungsministerium weiß vom „Fund der
Unterlagen“. Die Heimfirma selbst, die inzwischen in Thüringen sitzt,
reagierte nicht auf Fragen, ebenso wenig die Hotelfirma.
Ein Mitglied der Videofilmer Unknownworlds, das nicht genannt werden
möchte, sagt, dass auch im Sommer 2020 in Keller und Nebenhaus Akten lagen,
darunter Krankschreibungen und Protokolle. Folglich hatte da die Polizei
noch nicht alles geholt. Die Fixiergurte seien teilweise im Karton unter
Brettern gewesen, „hingen vereinzelt aber auch an einer Wand im Keller“.
Das Gebäude habe offen gestanden, Türen und Fenster im Erdgeschoss seien
kaputt gewesen. „Während unseres Besuchs kamen auch andere ins Gebäude und
haben es sich angeguckt.“
## Ex-Heimkinder fordern Opferrente
Für ehemalige Insassen ist das Video von Bedeutung, darauf deuten die
vielen Kommentare auf Youtube. Eine junge Frau schreibt, wie schlimm sie
die Fixierung fand. Eine andere berichtet, sie habe eine Traumadiagnostik
gemacht und erreicht, dass sie eine Opferrente bekommt. Doch das scheint
ein Einzelfall zu sein. „Ich habe Opferrente beantragt und es wurde
abgelehnt“, sagt Ex-Bewohner Marcel Ramminger. „Es müsste eine Opferrente
geben für alle“, sagt sein früherer Mitinsasse Renzo Martinez. „Die meist…
von uns sind arbeitsunfähig und dauerhaft traumatisiert“. Auch Jonas L.
hatte zu Lebzeiten Entschädigung gefordert.
Die Linksfraktion in Brandenburg nimmt diesen Fall zum Anlass für [9][eine
Anfrage]. Denn auch wenn Münch sich 2013 bei den Jugendlichen
entschuldigte, erhielten sie keine Entschädigung. „Wer in den Heimen der
Haasenburg Zwang, Gewalt oder Misshandlungen erlebte, leidet bis heute“,
sagt die [10][Abgeordnete Isabelle Vandre]. Das Land schulde den Opfern
umfassende Aufklärung. „Außerdem erwarte ich, dass sie für ihr Leid
entschädigt werden.“
*Name geändert
Aktualisierung: Nach Erscheinen dieses Textes online und in der
Printausgabe der taz am 6. August antwortete der Anwalt der Haasenburg
GmbH, Jens Hennersdorf, doch noch auf die Fragen der taz. Die GmbH
existiere noch. Ob sich das Gebäude in Jessern noch in ihrem Besitz
befinde, sei „ohne Relevanz“ und unterliege der anwaltlichen
Schweigepflicht. Die Filme zeigten entweder, „wie kriminelle Menschen
widerrechtlich ins fremdes Eigentum einbrechen und das dann filmen und
posten“ oder seien „fake-news“ und „so oder so keine schöne Sache“. …
Frage, ob Unterlagen ehemaliger Bewohner aufbewahrt werden, um
Aufbewahrungsfristen einzuhalten, schreibt der Anwalt, er werde sich hüten,
Orte für weitere Einbrüche bekannt zu geben. Bei der Aufbewahrung würden
gesetzliche Vorgaben „selbstredend beachtet“.
6 Aug 2021
## LINKS
[1] /Tod-eines-ehemaligen-Heimkindes/!5756902
[2] /Schliessung-der-Haasenburg-Heime/!5055500
[3] /fileadmin/static/pdf/2013-11-06_Endbericht-der-Kommission-zur-Haasenburg_D…
[4] /Frakturen-in-der-Haasenburg-GmbH/!5055610
[5] /Missbrauch-in-Haasenburg-Heimen/!5253825
[6] /Moegliche-Wiederoeffnung-der-Haasenburg/!5044773
[7] https://www.youtube.com/watch?v=SFB9R5h3xrQ
[8] https://www.moz.de/nachrichten/brandenburg/neue-vorwuerfe-gegen-haasenburg-…
[9] https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parlad…
[10] http://xn--Die%20Haasenburg%20GmbH%20betrieb%20bis%202013%20drei%20Heime%2…
## AUTOREN
Kaija Kutter
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