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# taz.de -- Schikanen in Kinderheim in Brandenburg: Gardinen statt Milchglas
> Nach einem taz-Bericht wird die strenge Aufnahmephase im Kinderheim
> „Neustart“ ausgesetzt. Das Heim bekam unangemeldeten Besuch von der
> Aufsicht.
Bild: So sieht es jetzt wohl nicht mehr aus: abgeklebte Fenster des Kinderheims…
HAMBURG taz | Der [1][taz-Bericht „Hinter Milchglas“] über die Zustände im
brandenburgischen Kinderheim „Neustart“ vom vergangenen Wochenende hat das
zuständige Landesministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS) zum
Handeln veranlasst. Gleich am Montag habe man vom Träger die Zusicherung
abverlangt, [2][das bisherige „Aufnahmeverfahren“ bis zum Ende einer
Überprüfung auszusetzten], teilte Sprecherin Antje Grabley mit.
Der Träger des Heims gab am Mittwoch bekannt, man werde „konzeptionell
daran arbeiten“, das bisherige „Aufnahmeverfahren“ nicht mehr anzuwenden.
Und zwar unabhängig vom Ausgang der Überprüfung. Das Heim „Neustart“ mit
rund 30 Plätzen für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18
Jahren befindet sich abgelegen in einem Wald bei Jänschwalde, nicht zu
verwechseln mit gleichnamigen Heimen in anderen Teilen des Landes. Träger
ist der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) in Lübben.
Fünf Jugendliche, die in dem Heim gelebt hatten, berichteten der taz von
Isolation und sehr strengen Regeln. Sie schilderten unter anderem, dass die
Türen nach draußen abgeschlossen waren, sie die ersten Wochen allein in
ihren Zimmern verbrachten und nicht ohne umständliche Fragen zur Toilette
gehen durften. Auch seien sie erst nach zwei Wochen an die frische Luft
gekommen.
„Wir haben den Träger der Einrichtung aufgefordert, sich zu den nunmehr
konkretisierten Vorwürfen zu äußern“, sagte Antje Grabley am Montagabend.
Es handle sich um eine intensivpädagogische Einrichtung für Kinder und
Jugendliche mit besonders schwierigem Verhalten. Da es aber eine offene
Einrichtung ist, sei jeglicher Freiheitsentzug unzulässig.
Die jetzt erhaltene Zusage beziehe sich auf eine Phase der „Gruppe 1“ im
Haus 1 des Heims, die nach Schilderungen der Ehemaligen restriktive
Maßnahmen enthielt. „Nunmehr ist sichergestellt, dass derzeit keine Kinder
und Jugendlichen diesem Aufnahmeverfahren unterzogen werden“, sagte die
MBJS-Sprecherin. Es scheint zu sichtbaren Änderungen zu kommen.
## „Hilfestellung zur besseren Lebensbewältigung“
Eine Ehemalige, die noch Kontakt zu Bewohnern des Heims hat, schrieb der
taz am Dienstagabend, „Vielen Dank, dass sie uns und den Jugendlichen, die
da noch wohnen, geholfen haben.“ Ihr sei berichtet worden, dass „in Gruppe
1 und 2 das Milchglas abkommt und dafür Gardinen drankommen, dass alles
abgeschraubt wird, die Türen von 8 bis 18 Uhr geöffnet bleiben und dass
sich Jugendliche aus der Neuaufnahme unterhalten dürfen mit anderen
Jugendlichen.“
Die taz wollte vom Ministerium und vom ASB-Lübben am Mittwochfrüh eine
Bestätigung dafür. ASB-Lübben-Geschäftsführer Sven Meier äußerte sich am
Telefon nur kurz. „Wir schreiben ein Konzept fort. Das sind Veränderungen,
die immer stattfinden.“
[3][In einer mittags verschickten Stellungnahme kündigt der ASB-Lübben]
eingangs erwähnte Änderungen an und weist darauf hin, dass er zu einzelnen
Behauptungen derzeit keine Stellung nehmen könne – wegen der über die
Presse mitgeteilten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. In der Einrichtung
würden ausschließlich die „in der Wissenschaft bekannten
intensivpädagogischen Maßnahmen“ angewandt. Die Tätigkeit werde jedoch
nicht „von Gewalt, körperlichen Bestrafungen o. ä. begleitet“.
Ziel der Einrichtung sei, Jugendlichen, bei denen herkömmliche Methoden der
Sozialpädagogik nicht erfolgreich waren, eine „Hilfestellung zur besseren
Lebensbewältigung zu geben“, so der Träger. Man habe nur Maßnahmen
ergriffen, die für die Entwicklung des jeweiligen Jugendlichen „geeignet
und erforderlich“ waren.
Das Jugendministerium reagierte erst am Nachmittag auf unsere Anfrage und
teilte mit, dass es an diesem Tag [4][einen unangemeldeten Besuch der
Heimaufsicht] bei „Neustart“ in Jänschwalde gab. Die MBJS-Mitarbeiter
hätten dort überprüft, ob die am Montag abgegebene „verbindliche Erklärun…
zur Änderung des Aufnahmeverfahren und zur Ausstattung der Räume in die
Praxis umgesetzt wurde. „Der Besuch hat ergeben, dass deutliche Änderungen
vorgenommen worden sind“, teilt Grabley mit. „Gleichwohl sei mit diesem
Besuch „die Prüfung der Vorwürfe nicht abgeschlossen“.
## Warten auf den Prüfbericht
Wegen des Vorwurfs der verschlossenen Türen hat das Ministerium schon vor
vier Wochen die Staatsanwaltschaft Cottbus informiert. Dessen Sprecher
Horst Nothbaum sagte der taz, es seien zu wenig Sachverhalte bekannt, die
Grundlage für eine Ermittlung sein könnten. Das Jugendministerium arbeite
zusammen mit dem Landkreis an einem Prüfbericht. „Darauf warten wir jetzt.“
„Es ist gut, dass schnell reagiert wird. Denn [5][was die Kinder- und
Jugendhilfe und ihre Behörden zulassen], ist zunehmend furchteinflößend“,
sagt Holger Ziegler, Professor für Soziale Arbeit der Uni-Bielefeld. Doch
es sei auch ein Problem, dass Behörden nun Praktiken überprüfen, über die
sie im Prinzip Bescheid gewusst haben müssen.
Jörg Richert, der Leiter des Trägers „Karuna“, der den Jugendlichen
betreut, der der taz als Erster von den Zuständen berichtete, hat nun einen
Brief an Familienministerin Franziska Giffey (SPD) geschrieben. Darin
bittet er, eine bundesweite Diskussion über „auf Anpassung und Angst
ausgerichtete Konzepte“ zu führen, damit man zu einem
„liebevollen-respektvollen“ Umgang kommt. Richert: „Wir haben es hier mit
einem Erbe zu tun, dem wir uns nach 1945 nicht ausreichend gestellt haben.“
26 Sep 2019
## LINKS
[1] /Misshandlungen-im-Kinderheim/!5624827
[2] https://mbjs.brandenburg.de/aktuelles/pressemitteilungen.html?news=bb1.c.64…
[3] https://www.asb-luebben.de/ASB-Luebben/Pressemitteilungen/Stellungnahme-zum…
[4] https://mbjs.brandenburg.de/aktuelles/pressemitteilungen.html?news=bb1.c.64…
[5] /Neue-Vorwuerfe-gegen-Kinderheim/!5299344
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Kinderheim
Schwerpunkt Haasenburg Heime
Brandenburg
Geschlossene Kinderheime
DDR
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