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# taz.de -- Misshandlungen im Kinderheim: Hinter Milchglas
> Fünf Betroffene berichten von Isolation und Polizeigriffen in einem
> Brandenburger Kinderheim. Ein Jugendlicher hat Anzeige erstattet.
Bild: Einst isoliert hinter Milchglas – „Elvis“, ein ehemaliges Heimkind,…
Wir treffen Elvis in einem Wohnprojekt für Straßenkinder im Bahnhof Jamlitz
im Süden von Brandenburg. Seit März lebt er dort, hat sich seiner
Betreuerin Anett anvertraut. Vorher lebte er anderthalb Jahre in einem Heim
namens „Neustart“, betrieben vom Arbeiter Samariter Bund (ASB) in Lübben,
gelegen in einem Wald bei Jänschwalde. „Der Aufenthalt dort hat Elvis
schwer traumatisiert“, sagt die Sozialpädagogin.
Elvis redet leise, guckt auf den Tisch. „Das ist wie eine geschlossene.
Also man sitzt den ersten Monat allein im Zimmer“, berichtet er. Da habe er
„Reflexionsaufgaben“ schreiben müssen und ein Namensschild aus
Papierkügelchen basteln. „Da ist alles angeschraubt, die Betten und Tische.
Die Fenster sind zur Hälfte zugeklebt. Man hat nur einen Schrank. Aber der
ist verschlossen“, sagt der junge Mann, als er in Begleitung seiner
Betreuerin mit uns spricht.
Sechs Jahre ist es her, dass nach Recherchen der taz drei Heime der
[1][Haasenburg] GmbH geschlossen wurden, weil die dortigen Methoden nicht
mit dem Kindeswohl vereinbar waren. Der Heimalltag dort sei von
„überzogenen, schematischen und drangsalierenden [2][Erziehungsmethoden]
geprägt gewesen“, sagte die damalige Jugendministerin Martina Münch (SPD)
nach Lektüre eines Untersuchungsberichts und entzog die Betriebserlaubnis.
Zugeklebte Fenster als Form des Reizentzugs, auch das gab es in der
Haasenburg.
## Hat sich nichts geändert?
Wir fragen nach. Gab es wirklich zugeklebte Fenster? Elvis sagt: „Na, unten
zumindest. Und auf die Heizung darfst du nicht, um rauszugucken. Also den
ersten Monat sollst du keinen sehen.“ Erst nach zwei Wochen habe er einmal
an die frische Luft gedurft für eine Stunde Sportprogramm. Aber auch das
nur in einem Fußball-Käfig, der hinter ihm abgeschlossen worden sei. „Und
dann warst du doch wieder im Zimmer.“
Fast das ganze erste Jahr von Elvis’ Aufenthalt spielt sich in und um „Haus
1“ ab, ein beiger Putzbau, in dem laut Zeitungsberichten früher mal die
Bundespolizei war. Im ersten Stock ist die Gruppe 1 für die Neuen, im
Erdgeschoss die Gruppe 2 für jene, die schon länger da sind. „Da zieht man
hin, wenn man das alles verstanden hat“, sagt Elvis. Wir sprechen in den
nächsten Wochen mit vier weiteren Jugendlichen, die Elvis’ Schilderung
bestätigen. Die Bewohner der Gruppe 1 dürfen nach ihren Aussagen nur in
Begleitung der Erzieher ins Freie und sich tagsüber einen Großteil der Zeit
nicht ohne Erlaubnis zwischen den Zimmern bewegen.
Elvis, der wie alle ehemaligen Bewohner des Heims in diesem Text in
Wirklichkeit anders heißt, ist knapp 1,80 Meter groß, etwas schüchtern und
trägt immer eine Mütze. Er weiß noch, was am ersten Tag in Jänschwalde
passierte, als er seine Mütze nicht absetzen wollte. Sie hätten ihn
deswegen zu zweit fixiert, sagt er. „Sie haben mich auf den Boden gedrückt.
Einer hat sein Knie auf meinen Rücken gedrückt und mich festgehalten. Und
der andere hat mir die Mütze weggenommen und mich so lange festgehalten,
bis ich ruhig war.“ Ob das wehgetan hat? „Ja, klar, das war ein
Polizeigriff.“
Er spricht leise. Es fällt ihm nicht leicht, zu berichten. Von dem
umständlichen Toiletten-Ritual zum Beispiel. Er erzählt, dass er an seine
Zimmertür klopfen musste, wenn er aufs Klo wollte, und dann musste er
warten – bis ein Erzieher kommt. Diesen musste er dann um Erlaubnis fragen,
für jeden einzelnen Abschnitt seines Gang zur Toilette. Darf er raus auf
den Flur? Rein ins Bad? Raus aus dem Bad? Zurück in den Flur? Wieder rein
ins Zimmer? Vor jeder Türschwelle eine Frage. Insgesamt sechs, sieben
Fragen, um einmal pinkeln zu gehen.
Auch das erinnert an Berichte aus der [3][Haasenburg]. Elvis berichtet,
dass ehemalige Mitarbeiter von dort in Jänschwalde arbeiten, „die haben
mal drüber erzählt“. Er nennt fünf Namen, einer findet sich auch auf einer
alten Mitarbeiterliste, die der taz vorliegt. Elvis kam erst nach einem
halben Jahr im Haus nach unten in die „Gruppe 2“. Auch dort habe er nach
allem fragen müssen. „Man hatte so eine Liste zum Abarbeiten“, sagt er. Der
letzte Punkt, den man dort erreichen konnte, war „selbstständig gehen“ –
sich also im Haus frei zu bewegen, ohne einen Erzieher um Erlaubnis fragen
zu müssen.
So ähnlich ging es wohl den „Zöglingen“ in der Dzierzynski-Kommune des
sowjetischen Hauspädagogen Makarenko zur Stalin-Zeit. In dem Buch
„Beschädigte Seelen“ beschreibt Kulturwissenschaftler Manfred Franz die
Lage eines Neuankömmlings so: „Selbst um tagsüber seinen Schlafsaal zu
betreten, brauchte er eine schriftliche Erlaubnis“. Und jederzeit konnte
ein Kommunarde bei Fehlverhalten auf die „nahezu rechtlose Stufe des
Zöglings zurückgestuft werden“.
Zu „Neustart“ gibt es alte Zeitungsberichte. 2013 gewährte das vom
ASB-Lübben betriebene Heim einer Reporterin der Märkischen Allgemein
Einblick. „Neustart ohne Türschlösser“, titelte die Zeitung. Und weiter:
„Der Alltag im Heim ist hart, und manche Jugendliche reißen deshalb auch
aus. Kein Kunststück, da die Türen offen stehen“. Aber stimmt das noch?
Elvis sagt, die Tür zwischen dem Eingang und seiner Gruppe war
abgeschlossen. Den Schlüssel hätten die Erzieher.
## Der Nachwuchs lerne, „Defizite zu beseitigen“
Als wir Ende August das Jugendministerium konfrontieren, leitet dieses die
Anfrage an die Staatsanwaltschaft Cottbus weiter, um dem Verdacht der
Freiheitsberaubung nachzugehen. Zudem seien Mitarbeiter des
Jugendministeriums vor Ort gewesen, um den Vorwürfen nachzugehen. Weitere
Gespräche mit dem Träger und Prüfungen würden folgen. Es handele sich um
eine offene Einrichtung – „jede freiheitsberaubende Maßnahme ist nicht
gestattet“. Weitere Nachfragen will die Behörde nicht beantworten.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke müsste vertraut sein mit
„Neustart“. Auf einem Foto, das die Lausitzer Rundschau am 8. April zeigte,
hält der SPD-Politiker einen roten Adler aus Holz in den Händen, den ihm
Heimkinder überreichten. „Ministerpräsident vom Projekt ‚Neustart‘
beeindruckt“, lautet die Titelzeile. In dem Text steht, der ASB betreue in
Jänschwalde Jugendliche mit „massiven Verhaltensstörungen, die sich Regeln
und Normen verweigern“. In dem Projekt lerne der Nachwuchs, seine „Defizite
zu beseitigen“. Wie die Mitarbeiter dies angingen, habe Woidke imponiert.
Elvis sagt, man sollte das Heim zumachen: „Ich war aggressiver danach als
davor.“ Irgendwann stieg er in die Gruppe 3 im Nachbarhaus auf, das mehr
Freiraum bietet. Aber nachdem er dort weglief, kam er zurück in die
Eingangsphase. Nach anderthalb Jahren schließlich flog Elvis raus, wie er
berichtet, nachdem er sich mit einem Erzieher geprügelt habe. Das Jugendamt
findet für den 17-Jährigen eine normale Jugendwohnung in Cottbus. Doch nur
bis zu seinem 18. Geburtstag. Dann steht der Junge ohne Obdach da.
Das war im März. So kam Elvis nach Jamlitz zu dem alternativen
Straßenkinder-Projekt des Trägers „Karuna“, das ganz anders arbeitet. Sei…
Betreuerin mischt sich ins Gespräch ein. „Ist das, wenn du jetzt darüber
erzählst, Elvis, ist das für dich schwer?“ – „Ja“, antwortet er, „w…
weiß, wie es den anderen da geht, die jetzt da sind. Die sitzen da im
Zimmer.“
## Chips als Bezahlmittel für Telefonate mit den Eltern
Auch in der Gruppe 2 blieb das Leben sehr reglementiert. Für die Teilnahme
am Spieleabend, ein längeres Telefonat mit den Eltern oder dafür, sich zu
schminken oder zu „stylen“, musste mit „Chips“ bezahlt werden, die die
Jugendlichen sich durch Wohlverhalten verdienten. Alle zwei Stunden,
erinnert Elvis, habe er einen Chip „anmelden“ können. Danach habe der
Betreuer ihm gesagt, ob er ihn verdient hat oder nicht. Normal gab es drei
Minuten Telefonzeit die Woche, berichtet er. „Hat man zehn Chips, darf man
13 Minuten telefonieren“.
Die Betreuerin von Elvis regt das alles auf. „Am meisten dieses Klopfen“,
sagt sie, „dann nicht zu wissen, wann kommt der jetzt eigentlich. Wie viel
Zeit man dort verwartet.“ Auf Toilette gehen sei ein Grundbedürfnis des
Menschen. „Das kann nicht reglementiert werden.“
Wir entschließen uns, selber zu schauen, ob es Milchglasfolie gibt. Ende
Juni fahren wir nach Jänschwalde in die Niederlausitz. Den Besuch kündigen
wir bei der Heimleitung nicht an, weil wir fürchten, dass die
Milchglasfolie schnell verschwinden könnte.
Wir parken anderthalb Kilometer entfernt, um vom Waldrand einen Blick auf
die Fassade zu werfen. Die brütende Sonne scheint durch die Kiefernwipfel,
hier und da liegen leere Flaschen auf dem trockenen Waldboden.
Spaziergänger gibt es hier nicht, nur Jäger-Hochsitze und zugewachsene
Wege. Im Umkreis befindet sich kaum etwas außer einem ehemaligen
Militärflughafen und einer Tagebau-Marslandschaft. Wir klettern den kleinen
Hang hinauf und sehen zwischen Tannen und Birken rote Dachziegel. Das ist
das Heim.
Wir sehen den beigen Putzbau vom Gruppentrakt eins und zwei. Obwohl wir
keine 100 Meter vom Haus entfernt sind, herrscht Stille. Kein Kind ist am
frühen Nachmittag draußen. Es ist, wie Elvis gesagt hat: Im ersten Stock
sind vier Zimmerfenster verklebt. Drei je zur Hälfte, ein viertes komplett.
Wir machen Fotos.
## Zugeklebte Fenster, matratzenloose Betten
Das Heim hat eine Facebookseite. Wir lesen dort einen Chat aus dem Jahr
2016. Ehemalige befürworten rückblickend die Härte und sorgen sich, dass
ihre Nachfolger zu viel Luxus haben, etwa eigene Handys. Eine junge Frau
fragt dort die Heimleitung, „ob es immer noch so ist, dieses
Aufnahmeverfahren mit dem Aufnahmezimmer wo man voll abgeschirmt von allem
ist“. Darauf antwortet die Heimleitung, es gehe jetzt im Nachbarhaus
„lockerer“ zu. „Aber es gibt immer noch Haus 1 und das Konzept hat sich
dort nicht wesentlich verändert.“
Im Netz finden sich auch Hinweise auf ehemalige Jugendliche. Wir schreiben
Sabine aus Sachsen an. Die 19-Jährige ist bereit, mit uns zu telefonieren.
Sie sagt, sie wohnt heute alleine und hat mit der Jugendhilfe nichts mehr
zu tun. Aufgeregt erzählt sie, wie sie mit 15 in das Heim kam: „Also, ich
bin ins Zimmer rein, das Fenster war zugeklebt. Das Bett war leer. Keine
Matratze drauf. Alles angeschraubt.“ Elvis kennt sie nicht. Sie wünsche
keinem, dort reinzugehen. „Das ist ja wirklich schlimmer als Knast. Also
vielleicht in Gruppe 2 würde ich jemanden reinschicken, aber nie in die
Gruppe 1. Das ist wirklich Horror, das ist krank.“
Tagsüber habe sie auf dem angeschraubten Stuhl sitzen müssen. „Also, da tat
schon mein Popo weh.“ Sehr lästig sei die Klopf-Regel. Ein Erzieher war
besonders streng. „Ich hatte denen gesagt: ‚Ich will jetzt auf Toilette
gehen.‘ Und da meinte der: ‚Nee, du gehst jetzt nicht auf Toilette.‘ Obwo…
ich pissen musste. Und dann habe ich gesagt:,Soll ich hier auf den Boden
pinkeln?' Und dann meinte der: ‚Nee. Aber du redest mit mir ordentlich.‘“
„Du darfst nie was Falsches sagen, sonst wirst du übelst bestraft“,
erinnert sie. Zum Beispiel mit „Zimmeraufenthalt“. Auch Sabine berichtet,
dass andere begrenzt wurden. Und sie erinnert sich, wie sie Chips
verdiente. Welche Sätze sie auswendig lernen und aufsagen musste, um die
begehrten Papiermünzen zu bekommen. Wir schicken Sabine das Foto mit den
verklebten Fenstern. Sie malt weiße Kreise drauf und schickt es zurück, um
uns zu zeigen, in welchem Zimmer sie war. Sie sagt, es gebe an der Seite
noch mehr Zimmer mit Fensterfolie, insgesamt sechs oder sieben.
Der Kontakt zu Sabine bricht wieder ab. Sie kommt nicht zu einem
vereinbarten Treffen. Doch wir interviewen noch drei weitere Jugendliche,
mit denen wir im Austausch bleiben. Janina zum Beispiel kam mit 15 nach
Jänschwalde, weil sie aggressiv zu ihrer Mutter war und gelegentlich
kiffte, wie sie sagt. „Meine Mama meinte nur zu mir, dass ich in eine
Einrichtung komme. Und dass es so eine ist, hätte ich echt nicht gedacht“,
sagt sie. „Die ersten vier Wochen war ich in diesem Zimmer, wo die Fenster
abgeklebt sind.“ Wegen des angeschraubten Stuhls habe sie sich öfter auf
den Boden gesetzt, denn auf dem Bett lag keine Matratze. „Man hat sich halt
irgendwie wie in einer Geschlossenen gefühlt.“ In den vier Wochen allein im
Zimmer ging es ihr „nicht gut. Gar nicht gut“.
Martin ist 16 Jahre alt und war neun Monate da – ebenfalls zuerst in einem
Zimmer mit Milchglas. Auch er bestätigt die abgeschlossenen Türen, die
Fragerituale und dass er anfangs keine anderen Jugendlichen zu Gesicht
bekam. Aus dem Fenster konnte er ebenfalls nicht rausschauen: „Man musste
auf das Fensterbrett steigen, um drüber zu gucken“, sagt er.
Er beschreibt auch, wie andere Jugendliche mit Handgriffen zu Boden
gebracht wurden. „Der hat schon geweint, aber die Erzieher haben nicht
aufgehört.“ Martin erinnert sich an vieles nicht ganz genau, aber als wir
nach seinen „Verhaltenspunkten“ fragen, zitiert er problemlos aus dem Kopf:
„Ich höre auf alle Anweisungen der Erzieher und erledige alle Aufgaben
ordentlich und gewissenhaft.“ Warum er überhaupt dort war? Er habe viele
Geschwister und habe sich zu Hause „nicht so benommen“.
Lina hatte schon zwei andere „Jugend-WGs“ hinter sich, als sie nach
Jänschwalde kam. Sie hatte positive Erwartungen, „aber dann, wo ich da
hingekommen bin – Katastrophe“, erinnert sie. Zu den verklebten Scheiben
wurde ihr gesagt, das sei, „damit die anderen einen nicht sehen“. In die
Folie, berichtet sie, war ein kleines Loch gepult. Dadurch konnte sie Elvis
im Hof sehen und hat ihm manchmal gewunken.
Die Existenz dieser Folie, die dem optischen Eindruck nach von außen
angeklebt ist, bestreitet selbst der zuständige Landkreis Spree-Neiße
nicht, als wir danach fragen. Die Milchglasfolie bedecke die untere Hälfte
der Sprossenfenster und diene der „Wahrung der Privat- und Intimsphäre“,
antwortet die Büroleiterin Petra Rademacher im Auftrag des CDU-Landrats
Harald Altekrüger.
Das beträfe „das Aufnahmezimmer und den Sanitärbereich in den Gruppen“.
Ausschließen, dass Jugendliche nicht rausschauen können, kann das Amt
nicht. Auf die Frage, warum Jugendliche kleinteilig danach fragen müssen,
ob sie aufs Klo gehen dürfen, antwortet die Büroleiterin: „Der Punkt
Wertevermittlung ist in der Konzeption verankert. Das Konzept ist
Bestandteil der Betriebserlaubnis.“ Eltern und Jugendamt müssten sich
vorher „mit der Konzeption einverstanden erklären.“
Für Lina war der harte Stuhl ein Problem. Die Matratze gab es auch bei ihr
erst abends. „Ich habe mich dann auf den Boden gelegt, weil es in den
Zimmern so kalt war“, erinnert sie. „Und dann habe ich mich immer an die
Heizung gekuschelt.“ Der Landkreis schreibt nur, die räumliche Ausstattung
sei in der Konzeption verankert. Lina schaffte es nach einem halben Jahr
runter in Gruppe 2. Auch dort hielt sie es nicht aus. Sie sei mehrfach mit
Polizeigriff festgehalten worden. Sie habe geweint und gefleht, der
Erzieher solle aufhören, und hinterher zwei Tage Schmerzen gehabt und das
Gefühl, es sei etwas in der Schulter gebrochen.
Der Landkreis schreibt zur Frage nach Polizeigriffen und Fixierungen auf
dem Boden, solche „Handlungsstrategien“ und gegebenenfalls Betroffene,
seien dem Jugendamt „nicht bekannt“. Das Jugendministerium, dem die
Heimaufsicht unterliegt, prüft die Vorwürfe noch. Grundsätzlich könnte es
nötig sein, eine Gefahrensituation auch mit Polizeigriff abzuwenden. Hätte
diese Handlung „Auswirkung über den Augenblick hinaus, wäre das in jedem
Fall zu melden“.
## Heimkind im Hungerstreik
Irgendwann lief Lina weg. Sie tat so, als wolle sie draußen Wäsche
aufhängen, schnappte sich heimlich ihr Portemonnaie und lief durch den Wald
zum nächsten Bahnhof: Jänschwalde Ost. „Da sind die mit dem Auto
hinterhergefahren, haben mich eingesackt.“ Und dann musste sie wieder von
vorn anfangen. „Auch wieder diese vier Wochen. Und da habe ich mich so
geweigert. Ich habe zwei Wochen nichts getrunken und gegessen. So weit war
ich da.“ Lina bezweifelt, dass die positiven Kommentare auf Facebook
authentisch sind. „Wer würde positiv darüber urteilen, wenn man
eingeschlossen ist? Warum hauen denn dort so viele ab, wenn es angeblich so
gut dort sein soll?“ Und dann nennt sie aus dem Kopf acht Namen von
Jugendlichen, die dort weggelaufen seien.
Das Ministerium schreibt, wenn Jugendliche weglaufen, muss ein Heim dies
melden. Man spreche nicht von „Flucht“, die würden sich „entziehen“. W…
wollten auch der Einrichtung „IP Neustart“ Fragen stellen. Wir fragen, ob
wir vorbeikommen dürfen. Als wir eine Absage bekommen, befragen wir den
Träger der Einrichtung, ASB Lübben, schriftlich zu den geschilderten
Sachverhalten. Wir geben drei Tage Zeit für die Beantwortung.
Der Geschäftsführer Sven Meier antwortet uns nur allgemein: Man erkläre
jedem Jugendamt und Sorgeberechtigten sehr genau die dortige Arbeit. Und
diese träfen die Entscheidung, „ob unser Angebot die passende Hilfeform
darstellt“. Unsere tendenziösen Fragen zusammen mit der Fristsetzung hätten
ihn sehr befremdet. Auf die einzelnen Fragen geht er nicht ein, bietet
dafür nun aber doch einen Vor-Ort-Termin an, allerdings erst zwei Monate
später, aufgrund der „Urlaubszeit der Leitung“.
Der Landkreis Spree-Neiße bringt selber Jugendliche bei „IP Neustart“ unter
und schreibt, Beschwerden seien dem Jugendamt nicht bekannt. Die Mehrzahl
der Kinder und Jugendlichen hätte vorpsychiatrische Erfahrungen, sie seien
teilweise traumatisiert und erforderten eine „engmaschige pädagogische
beziehungsweise therapeutische Betreuung“. Die Maßnahmen seien im Konzept
beschrieben und würden vorab den Sorgeberechtigten und den Kindern
transparent dargestellt. In der Anfangsphase gebe es eine
Eins-zu-eins-Betreuung.
Tilman Lutz, Professor für Soziale Arbeit an der evangelischen Hochschule
Hamburg, findet die Praxis im Heim untragbar: „Das, was die jungen Menschen
schildern, ist Gewalt. Vom anfänglichen Freiheitsentzug über die
degradierenden Fragerituale bis zu den körperlichen Übergriffen. Das Recht
auf gewaltfreie Erziehung gilt auch in Einrichtungen.“ Dies als
Wertevermittlung zu bezeichnen, sei „zynisch und ignoriert die Rechte der
Kinder.“ Das Konzept sei auf Dressur ausgelegt und nicht auf Pädagogik.
Erziehung sollte etwas mit Aushandlung zwischen Subjekten zu tun haben –
hier würden die Jugendlichen zu Objekten gemacht, die verändert werden
müssen. „Das widerspricht Würde und Kinderrechten“, sagt Lutz. Die
Aufsichtsbehörden müssten sich darum kümmern, dass die Rechte von Kindern
gewahrt werden.
Lutz forscht seit fünf Jahren zur Wirkung von sogenannten Stufenmodellen
und verweist auf den Deutschen Ethikrat. Der zweifelt schon länger an
Punktesystemen und Phasenkonzepten, wie sie in Jänschwalde praktiziert
werden. In seinen Empfehlungen zu Zwang in Sorgebeziehungen aus dem Herbst
2018 schreibt er: „Intensiv-pädagogische Konzepte sind nicht zu
rechtfertigen“. Denn sie würden aufseiten des Kindes oder Jugendlichen „zu
Ohnmachtserfahrungen und zu äußerer Anpassung aus Resignation führen,
sodass die eigentlich verfolgten wohltätigen Absichten konterkariert
werden“.
Ähnlich schätzt es auch Heuser-Collier ein, Direktorin der Klinik und
Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner
Charité. Sie sagt: „Horror. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es eine
solche Einrichtung gibt.“ Bei den Jugendlichen könnten solche Maßnahmen
dazu führen, dass sie sich noch mehr verhärten und sich das Gefühl von „ich
bin ja eh allen egal“ verfestige. „Keine Ahnung, wie da die
Erfolgsaussichten sein sollen.“ Diese Methode jedenfalls könne nicht von
Erfolg gekrönt sein, weil den Jugendlichen beigebracht werde: Es gibt
niemanden, der sich wirklich für sie interessiert.
Das Ministerium, welches das Konzept erlaubt hat, antwortet
[4][schmallippig] auf unsere Fragen, zeigt sich aber alarmiert. Es wäre
hilfreich, „wenn sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen direkt an uns
wenden“, sagt Sprecherin Antje Grabley. Die Hinweise würden vertraulich
behandelt. Die Staatsanwaltschaft Cottbus bestätigt, dass ein
„Prüfverfahren“ läuft – aber Näheres oder genaue Delikte seien noch ni…
bekannt. Zumindest einer der Jugendlichen, mit denen die taz sprach,
erstattete mittlerweile Anzeige bei der Polizei.
23 Sep 2019
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## AUTOREN
Gareth Joswig
Kaija Kutter
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