# taz.de -- Konsequenz aus dem Haasenburg-Skandal: Lösungen für „Systemspre… | |
> Hamburgs „Koordinierungsstelle individuelle Hilfen“ soll Alternativen zum | |
> Wegsperren von Jugendlichen finden. Die Fünfjahres-Bilanz ist positiv. | |
Bild: Hamburg verzichtet weitgehend auf die geschlossene Unterbringung von Kind… | |
HAMBURG taz | In Hamburg gibt es derzeit keinen einzigen Jugendlichen, für | |
den die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung in der Jugendhilfe | |
vorliegt. Das ist der Stand von Ende April. Und das ist seit 2017 so. | |
Dieser Trend dauert schon fünf Jahre an. Seit 2013 die Haasenburg-Heime | |
geschlossen wurden (siehe Kasten), waren laut schriftlicher Antworten des | |
Hamburger Senats auf Anfragen allenfalls mal ein oder zwei Minderjährige | |
aus Hamburg in einem geschlossenen Heim der Jugendhilfe. Das könnte an | |
einem neuen Ansatz liegen. | |
Seit 2014 unterstützt die „Koordinierungsstelle individuelle Hilfen“ | |
Hamburgs Jugendämter in besonders schwierigen Fällen. Anlässlich des 5. | |
Geburtstags der Koordinierungsstelle zog das beim Paritätischen | |
Wohlfahrtsverband angedockte Team jetzt Bilanz. „Es wurden bis jetzt genau | |
100 Fälle bearbeitet und Lösungen gefunden“, sagt Sprecher Christian Böhme. | |
Das Projekt besteht nur aus anderthalb Stellen, die Leiterin Maren Peters | |
und eine Kollegin bekleiden. Ein Träger-Verbund berät dann jeden Fall und | |
erarbeitet mit den Jugendlichen, deren Familien und den beteiligten | |
Institutionen eine individuelle Lösung, die eine Perspektive bietet. | |
„Die Kinder haben viel Schlimmes erlebt“, sagt Peters. 41 Prozent seien | |
mindestens einmal straffällig geworden, fast die Hälfte alkohol- oder | |
drogensüchtig. Und 61 Prozent gerieten durch unkontrollierte Impulsivität | |
„immer wieder in Konflikte“. Bei zwei von drei dieser Kinder und | |
Jugendlichen seien psychiatrische Erkrankungen diagnostiziert worden, die | |
oft Folge traumatischer Erlebnisse seien. | |
Ganz wichtig sei, „den jungen Menschen, über die viel gesprochen wird, eine | |
Stimme zu geben“, sagt die Diplompädagogin Peters. Die Wünsche und Sicht | |
der Kinder gehörten deutlich in den Vordergrund. Auch um ihre teilweise | |
gewalttätigen, selbstgefährdenden oder kriminellen Handlungen zu verstehen, | |
müsste man mit den Kindern sprechen und „ihre Bedürfnisse ernst nehmen“. | |
## Anonymisierte Fallverläufe | |
Zur Anschauung schildert Peters fünf anonymisierte Fallverläufe, die sie im | |
Laufe der fünf Jahre Koordinierungsstelle erlebt hat. Die 19-jährige Mona* | |
zum Beispiel habe nur schlechte Erfahrungen mit dem Jugendamt gemacht. | |
Heute sage sie, sie könne dem Jugendamt in Hamburg endlich vertrauen. Sie | |
wohnte früher bei ihrer Mutter. Doch ihr Vater und andere Männer hätten die | |
Frau geschlagen. Mit zwölf habe Mona angefangen, Drogen zu probieren und | |
Alkohol zu trinken. Dann verbrachte sie viele Jahre ihres jungen Lebens in | |
der Psychiatrie und in einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen. | |
Die Ärzte nannten ihr die Diagnose Borderline, von der sie selber nicht | |
verstehe, was die damit meinen. Ihr größter Wunsch sei, zur Schule zu gehen | |
und eine Ausbildung zu machen. Mit Hilfe der Frauen der | |
Koordinierungsstelle fand sie nun zusammen mit dem Jugendamt eine | |
Wohngruppe. Sie habe zum ersten Mal das Gefühl, dass außer ihrer Mutter | |
jemand sich Mühe gibt, sie zu verstehen, berichtet Peters. | |
Viele Jugendliche hätten zu viele „innere Konflikte“, um bei ihren Eltern | |
oder in einer Jugendwohngruppe leben zu können. Doch jeder Abbruch einer | |
Maßnahme führe zu Vertrauensverlust. „Das Hilfesystem trägt selbst dazu | |
bei, sogenannte Systemsprenger zu produzieren“, sagt Peters. | |
Ein weiteres Beispiel ist der 16-jährige Kevin*, der in Einrichtungen lebt, | |
seit er zweieinhalb ist. Als Kleinkind hatte ihn seine Mutter mehrfach | |
allein gelassen. Mit vier Jahren kam er in eine Lebensgemeinschaft, wo sie | |
ihn manchmal zur Strafe kalt abduschten. Seit er sieben ist, lebte er in | |
verschiedenen Heimen, und kennt seine Eltern kaum noch. Überall haben sie | |
ihn wieder abgegeben. Er wurde wütend, zerstörte Möbel und griff Betreuer | |
an. „Niemand fand einen Ort, wo er sich wohl fühlte und gemocht wird“, | |
berichtet Peters. Mit Hilfe der Koordinierungsstelle habe er so einen Ort | |
gefunden, so Peters. | |
Noch kein so gutes Ende hat die Geschichte des 19-jährigen Django*. Als er | |
14 war, heiratete seine Mutter einen extrem religiösen Mann. Er konnte | |
nicht mehr zu Hause wohnen, keine Wohngruppe wollte ihn haben. Auch er fand | |
mit Hilfe der Koordinierungsstelle eine Wohngruppe. Hatte dort aber alle | |
anderen Bewohner gegen sich. Da hat er mit einem Kumpel das Büro | |
leergeräumt. „Das war’s dann“, heißt es in der Fallschilderung. Nun ist… | |
sogar im Knast und macht seinen Hauptschulabschluss. Cool sei, dass ihn ein | |
ehemaliger Betreuer dort manchmal besucht. | |
Es könne passieren, dass ein Jugendlicher seinen Rauswurf aus einer | |
Wohngruppe provozieren will, sagt Peters. In solchen Fällen, in denen der | |
Verbleib infrage steht, könne eine Auszeit sinnvoll sein, nach der der | |
junge Mensch wieder in die Gruppe zurückkehren könne. | |
Auch das Mädchen Luna* hat viel Gewalt erlebt, heißt es in den | |
Fallberichten. Als sie klein war, pendelte sie zwischen Mutter und Oma hin | |
und her. Die Mutter war krank, hat sie mal in der S-Bahn vergessen. Schon | |
mit zehn Jahren kam sie in die Psychiatrie, dann in ganz viele Wohngruppen. | |
Da wollte sie nie sein. Sie wollte lieber gucken, ob es der Mutter gut geht | |
und bei der Oma wohnen. Das durfte sie auch, aber es ging nur gut, bis die | |
Mutter dazu kam. Sie wünschte sich einen Menschen für sich allein. Heute | |
hat sie eine Betreuerin nur für sich. | |
Und der fünfte Fall, den Peters schildert, ist der von der 16-jährigen | |
Janie*. Vor drei Jahren trennten sich ihre Eltern. Sie lernte einen Freund | |
kennen, der auch aus einer Wohngruppe rausflog, und auf der Straße lebt. | |
Sie zog mit ihm in eine Hippie-WG im Keller. Die Koordinierungsstelle | |
sorgte dafür, dass die Jugendämter beider Kinder Kontakt aufnahmen. Jetzt | |
wohnen beide Tür an Tür in trägereigenem Wohnraum, und wünschen sich, dass | |
die Helfer sich nicht immer in ihr Leben einmischen. | |
## Alle an einem Strang | |
Die Zusammenarbeit zwischen freien Trägern und öffentlicher Hand habe sich | |
mit den Jahren verändert, resümiert Kristin Alheit, Geschäftsführerin des | |
Paritätischen in Hamburg. Früher habe es mehr Reibereien und Druck gegeben, | |
eine schnelle Unterbringung zu finden, „was für die Jugendlichen nicht | |
immer das Beste war“, so Alheit. Nun zögen alle an einem Strang. Das | |
Projekt für sogenannte „Systemsprenger“sei beispielgebend für andere | |
Länder. Bremen hat ein ähnliches Modell, Berlin auch. | |
Die anderthalb Stellen werden noch bis Jahresende von der Hamburger | |
Sozialbehörde bezahlt. Die Behörde plane, dies fortzuführen, versichert | |
Sprecher Martin Helfrich der taz. „Die Gespräche hierzu werden in Kürze | |
beginnen.“ Es sei wichtig, dass die Jugendämter, die dies wünschen, die | |
Arbeit der Koordinierungsstelle weiter in Anspruch nehmen können. Das Ziel | |
sei, flexible Hilfen zu schnitzen, die für sehr belastete Kinder und | |
Jugendliche „eine große Chance sein können“. | |
Die Grundidee eines „Kooperationspools“ für schwierige Fälle hatten berei… | |
2013 Michael Lindenberg und Tilmann Lutz von der Evangelischen Hochschule | |
im Rahmen ihrer Mitarbeit beim „Aktionsbündnisses gegen geschlossene | |
Unterbringung“ entwickelt. Damals galt es, Alternativen zur Haasenburg | |
aufzuzeigen. | |
„Diese Bilanz nach fünf Jahren zeigt, dass geschlossene Unterbringung | |
weitestgehend zu verhindern ist“, sagt Tilmann Lutz heute. Er sei | |
überzeugt, dass noch mehr Handlungsoptionen in der Jugendhilfe geschlossene | |
Heime dauerhaft vollständig überflüssig machen. | |
„Die Arbeit dieser Stelle muss nicht nur fortgesetzt, sondern auch | |
verstärkt werden“, fordert auch die Linke Jugendpolitikerin Sabine | |
Boeddinghaus. Denn sie trage entscheidend dazu bei, statt Geschlossener | |
Unterbringung (GU) „wirklich tragfähige Lösungen zu finden“. | |
„Ich finde das auch schön“, sagt Leiterin Maren Peters, zur Tatsache, dass | |
es in Hamburg keine GU gibt. Die Koordinierungsstelle habe mit Fällen zu | |
tun gehabt, wo GU „drübersteht“ und dies durch andere Lösungen ersetzt. Es | |
sei aber nicht wissenschaftlich evaluiert, ob es die Korrelation gibt, oder | |
ob sich auch „die Haltung geändert hat“. | |
*Namen geändert | |
16 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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