# taz.de -- Ehemalige Heim-Insassen klagen an: Tränen im Publikum | |
> Jugendliche aus den Haasenburg-Heimen und Mütter, die Kontaktverbot zu | |
> ihren Kindern haben, sagten vor einem Hamburger „Tribunal zur | |
> Heimerziehung“ aus. | |
Bild: Musste sich in der Haasenburg sogar das Recht auf Putzen verdienen: Ex-In… | |
Hamburg taz | „Ich war nur in der roten Phase“, sagte der heute 26-jährige | |
Fabian*. Er sagte am Dienstag beim „Tribunal zur Heimerziehung“ in Hamburg | |
über seine Zeit in einem geschlossenen Heim der Haasenburg GmbH aus. Fabian | |
war einer von drei Mittzwanzigern, die aus den inzwischen geschlossenen | |
Brandenburger Skandalheimen berichteten. Im Publikum flossen dabei bei | |
manchem Tränen. | |
Die „rote Phase“ – das bedeutete für Fabian: Er war nur in seinem Zimmer, | |
durfte seine Eltern nicht sehen, musste klopfen, wenn er auf Toilette | |
wollte, und erst mal fragen, ob er eine Frage stellen darf. Dann erst | |
durfte er fragen, ob er auf die Toilette darf. | |
Fabian musste täglich „Verhaltenspunkte“ einhalten wie „Ich stelle keine | |
Forderungen“ oder „Ich habe keinen Elternkontakt“. Nur dann bekam er einen | |
„Chip“, den er gegen Selbstverständlichkeiten einlösen konnte. Alles muss… | |
Fabian sich so verdienen, sogar das Recht, sein Zimmer zu putzen oder nicht | |
mehr allein im Zimmer zu essen. Die Briefe wurden kontrolliert. „Ich musste | |
meinen Eltern eine heile Welt vorspielen.“ | |
Worunter er am meisten gelitten habe, wollte Jury-Mitglied Sandra Küchler | |
wissen. „Das Eingesperrtsein, die extreme Strenge“, nannte Fabian. „Die | |
Isolation, keinen Kontakt zu den anderen zu haben. Dass ich nichts selbst | |
entscheiden kann. Nicht mal, wann ich zur Toilette gehe.“ | |
Was für Fabian ein Jahr dauerte, musste Julia, heute 25, doppelt so lange | |
ertragen. Sie kam mit zwölf in ein Haasenburg-Heim. Zwei Jahre war sie in | |
der strengen Phase „Rot“. Sie habe sich eigentlich nie den Chip verdient, | |
sagt die junge Frau. Sie berichtet auch von Zwangssport, Zwang zu | |
Kniebeugen. „Man hatte nichts zu sagen, man hatte das auszuführen. Macht | |
man das nicht, wird man bestraft.“ Sie habe oft widersprochen. „Hätte ich | |
nicht so viel diskutiert, hätte ich mir die Zeit leichter gemacht.“ | |
An die frische Luft habe er nur in einem vergitterten Bereich gedurft, | |
berichtete der heute 28-jährige Renzo. In der roten Phase sei man ein | |
„Quasi-Sträfling ohne Rechte“ gewesen. Mit 13 Jahren begann sein Martyrium | |
in der Brandenburger Einrichtung, zu dem auch längere Fixierungen auf einer | |
Liege gehörten. Auch er schaffte es in drei Jahren Haasenburg nur kurz in | |
die „Gelbe“ und nie in die „Grüne Phase“. Wer es dorthin schaffte, dur… | |
in Bungalows wohnen und sich frei auf dem Gelände bewegen. | |
„Dressur zur Mündigkeit?“, haben die beiden Organisatoren Timm Kunstreich | |
und Wolfgang Rosenkötter das sechsstündige Tribunal genannt, für deren Jury | |
sie anerkannte Fachleute aus der ganzen Republik gewinnen konnten. Dazu | |
aufgerufen hatten das „Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung“ und | |
der „Arbeitskreis kritische Sozialarbeit“. Die 2013 geschlossenen | |
Haasenburg-Heime gelten vielen als „Spitze des Eisbergs“ einer insgesamt | |
problematischen Entwicklung. | |
## Unvollendete Heimreform | |
Die Heimreform der 1968er- und 1980er-Jahre sei „irgendwo stecken | |
geblieben“, sagte Kunstreich bei der Begrüßung. Es gebe die gute | |
Heimerziehung und die andere, die Demütigung und Begrenzung von Kindern | |
beinhalte und „Regeln ohne Ansehen der Person“. Er hofft, die Ergebnisse | |
des Tribunals in einen Bericht zur Überwachung der Einhaltung der | |
UN-Kinderrechtskonvention einzuspeisen. | |
Phasenmodelle, also etwa strikte Tagesstruktur, Einschränkung von | |
Heimurlaub, Handynutzung oder Kontakten zu Eltern, sind in Jugendheimen | |
weit verbreitet. Das hatte 2015 eine Anfrage der Hamburger Linksfraktion | |
ergeben, wie deren Referent Ronald Priess als Sachverständiger vor dem | |
Tribunal berichtete. | |
Die Stadt hat rund 1.700 Kinder in 405 Einrichtungen in anderen | |
Bundesländern untergebracht. Und Heime sehen in der Regel vor, dass es in | |
den ersten zwei bis acht Wochen keinen Heimaturlaub gibt. 79 dieser Heime | |
räumen so eine Isolierungs-Eingangsphase offen ein, 42 haben Phasenmodelle | |
und 115 Punktesysteme zur Verhaltensbewertung. 61 Heime haben eine | |
generelle Kontakteinschränkung, 32 ein generelles Handyverbot und 183 eine | |
interne Beschulung. Die Linke hatte die Anfrage nach Bekanntwerden der | |
Zustände in den schleswig-holsteinischen Friesenhof-Mädchenheimen gestellt, | |
die Hamburg ebenfalls mit Jugendlichen belegt hatte. | |
## Schmerzhafte Kontaktsperre | |
Wie schmerzhaft allein eine Kontaktsperre aus Elternsicht ist, schilderten | |
zwei Mütter, die ihre Söhne seit Jahren nicht sehen dürfen, damit sie im | |
Heim „ankommen“. Wenn eine andere Mutter sie fragen würde, was sie tun | |
soll, wenn sie ein schwieriges Kind hat und das Jugendamt an sie heran | |
tritt, sagte die eine Frau, dann „würde ich raten, sich eine Anwältin zu | |
nehmen und ganz weit wegzulaufen“. Wolfgang Rosenkötter, Opfer der brutalen | |
Heimerziehung der 1960er-Jahre, beendete seine Befragung mit der beherzten | |
Forderung: „Ich plädiere dafür, Heime völlig abzuschaffen.“ | |
Tribunal-Veranstalter Kunstreich ließ das Für und Wider in einer Art | |
Gerichtsverhandlung „Über die Verletzung von Kinderrechten in der | |
Heimerziehung“ abwägen. Die Kritik daran spitzten die Sozialwissenschaftler | |
Helga Cremer-Schäfer und Friedhelm Peters zu. Geschlossene Unterbringung, | |
von der etwa 1.000 Kinder im Jahr betroffen sind, sei „Ideologieproduktion | |
mit Menschenopfern“, sagte Cremer-Schäfer. Für diese gebe es keine | |
rechtliche Grundlage. | |
## Stichwort „Intensivpädagogik“ | |
Doch zusätzlich hätten sich seit Beginn der 2000er-Jahre in einer Grauzone | |
unter dem Stichwort „Intensivpädagogik“ neue Heimformen mit Zwangscharakter | |
entwickelt, die mit Euphemismen werben, wie etwa dass sie „starke Grenzen | |
setzten“, Kinder in „reizrame Gegenden“ verfrachten, klare „Strukturen | |
vorgeben“ oder hohe Verbindlichkeit einfordern. Auch diese Einrichtungen | |
trügen Züge einer „totalen Institution“, etwa weil Kinder in einem sozial… | |
Raum festgehalten und ihre Handlungsweisen ständig überwacht und an Normen | |
gemessen würden. | |
Über deren „zerstörerische Folgen“ gebe es seit Anfang des 20. Jahrhunder… | |
„fundiertes empirisches Wissen“, so die beiden Forscher. Ziel totaler | |
Institutionen sei der „kulturelle Sieg“ über die Insassen – um den hohen | |
Preis, ihren Willen zu brechen. Der Wille aber sei Voraussetzung für | |
gelingende Jugendhilfe. | |
Die „Verteidigung“ in diesem gespielten Prozess übernahmen die | |
Sozialwissenschaftler Tilmann Lutz und Florian Muhl. Sie zitierten den | |
Berliner Hochschullehrer Matthias Schwabe, der schon 2007 proklamierte: | |
„Zwang und Kinderrechte müssen kein Widerspruch sein.“ Zwangsanwendung, wie | |
sie über die Haasenburg geschildert wird, sei in der Form nicht legitim. | |
„Das hat uns genauso schockiert und betroffen gemacht.“ Gleichwohl sei es | |
falsch, deshalb im Umkehrschluss die „notwendige Enttabuisierung von Zwang | |
in der Erziehung“ sowie Phasenkonzepte und den in Einzelfällen für das Wohl | |
des Kindes notwendigen Einschluss „pauschal zu verurteilen“. | |
## Keine pädagogische Rechtfertigung | |
Die elfköpfige Jury kam nach längerer Diskussion zu dem Fazit, dass es | |
„Dressur zur Mündigkeit“ nicht geben könne und die geschilderten | |
Schlaglichter aus der Praxis „schlicht rechtswidrig“ waren, so der Sprecher | |
Burkhard Plemper. Es gebe „keine Erziehungswissenschaftliche | |
Rechtfertigung“ für eine solche Behandlung von Kindern und Jugendlichen. | |
Nötig seien vielmehr unterstützende Angebote. Die Praktiker müssten den | |
Jugendlichen zuhören und Gespräche und sichere Orte anbieten. | |
Ein Problem sei, dass die Jugendhilfe „marktförmig“ organisiert ist. „Es | |
wird damit Geld verdient“, sagte Plemper. „Es gibt ökonomische Interessen, | |
die denen der Betroffenen zuwider laufen.“ Die Jury schlug – in Anlehnung | |
an die 60er- und 80er-Jahre – eine „Heimkampagne 3.0“ vor. „Es spricht | |
nichts dagegen, es jetzt noch mal zu versuchen.“ | |
Das Schlusswort hatten die jungen Leute. Renzo schilderte, wie die | |
Erinnerung an die Haasenburg ihn in Albträumen verfolge und daran hindere, | |
ein normales Leben zu führen. Formen wie Phasenmodelle und „Chip“-Systeme | |
dürfe es nicht mehr geben, sagte Fabian: „Die Meinung von Kindern und | |
Jugendlichen muss ein höheres Gewicht haben.“ | |
*Name geändert | |
2 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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