| # taz.de -- Weniger Rechte für Heimkinder: „Wir wollten gern zur Schule“ | |
| > Die heute 22-jährige Isabell* hat ihre Kindheit in Heimen verbracht – | |
| > Jahre davon ohne Schule. Der Fall ist typisch und ein Ärgernis. Ein | |
| > Protokoll. | |
| Bild: Für viele Heimkinder ein Traum: ganz normaler Unterricht | |
| Ich wurde ganz normal mit sechs Jahren eingeschult, das war 2002 in Bremen. | |
| Ich lebte damals schon in einem Kinderheim. Und ich ging gern zur Schule. | |
| Natürlich war manches schwieriger. Einmal sollten alle Kinder zeigen, wo | |
| ihr Zuhause ist. Ich lebte ja nicht bei meinen Eltern. Da kamen alle Kinder | |
| der Klasse zu uns ins Heim zum Frühstück.In der 5. Klasse bin ich dann | |
| umgezogen, in ein Heim in Schleswig-Holstein. Das war ein Hof im Kreis | |
| Schleswig-Flensburg. Die ersten drei Monate ging ich nicht zur Schule, weil | |
| ich mich eingewöhnen sollte. Dann wurde ich erneut in die 5. Klasse im Dorf | |
| eingeschult, mit einer Schulbegleitung dabei. | |
| Ich ging dort gern zur Schule. Und ich hatte auch viele Freunde in der | |
| Klasse. Ein paar Wochen musste ich zur Beobachtung in ein anderes Heim, das | |
| nur für Jungs war. Die Regeln dort waren streng, und es ging keiner zur | |
| Schule. Zum Glück durfte ich wieder zurück auf den Hof.. Ich besuchte eine | |
| ganz normale Hauptschule mit Fächern wie Deutsch, Mathe, Englisch, | |
| Geschichte und Sport. Ich sollte sogar in die Realschule wechseln, weil ich | |
| mich in den meisten Fächern langweilte. Aber in Mathe war ich dafür zu | |
| schlecht. | |
| Eines Tages holte mich ein Betreuer direkt von der Schule ab und fuhr mich | |
| zurück nach Bremen. Es hieß, dass ich dort meine Eltern besuchen darf. Erst | |
| als ich in Bremen war, erfuhr ich, dass ich dort weg musste, weil es in | |
| Schleswig-Holstein nicht mehr ging. Ich wurde einfach „umgetopft“. Warum, | |
| weiß ich nicht. Ich wäre gerne dort geblieben. | |
| In Bremen kam ich dann erst mal in einer Übergangseinrichtung für Mädchen. | |
| Ich habe dem Jugendamt gesagt, dass ich zur Schule möchte. Die haben | |
| gesagt, dass sie mich nicht anmelden, weil es noch keine feste Einrichtung | |
| gibt. Ich war schon in der 7. Klasse. Ich bin dann hin zu einer Schule und | |
| habe versucht, mich anzumelden. Das ging nicht, weil ich dafür eine nötige | |
| Unterschrift vom Amt nicht bekam. Das zog sich dann ein Jahr lang hin. Ich | |
| war von zwölf bis 13 in vielen Einrichtungen, die alle nur Übergangsphasen | |
| waren. Ich wäre gern in eine 7. Klasse gegangen. Es hieß, das geht nicht. | |
| Heute weiß ich durch einen Diagnostik-Test, welche enormen Lücken ich in | |
| allen Rechengebieten im Fach Mathematik habe. | |
| ## Aufgaben im Zimmer | |
| Mit 13 kam ich dann in ein geschlossenes Heim in Brandenburg. Da gab es | |
| keine richtige Schule. Ich bekam Aufgaben ins Zimmer, um allein zu lernen. | |
| Es gab eine Gruppenbeschulung mit vier, fünf Bewohnern, die man sich | |
| verdienen konnte, wenn man seine Punkte bekam. Und es gab eine Heimschule | |
| auf dem Gelände. Ich war nur in Einzel- und Gruppenbeschulung. Und am Ende | |
| bekam ich ein 6.-Klasse-Zeugnis ohne Noten von einer Grundschule, die ich | |
| nie zu sehen bekam. Dabei wäre ich eigentlich längst in der 7. | |
| Danach mit 14 kam ich in ein Heim in einem nördlichen Vorort von Berlin. Da | |
| habe ich zuerst nur die Heimschule besucht. Es gab eine Klasse auf dem | |
| Gelände, da wurde auf Förderschulniveau unterrichtet. Das war echt | |
| „Kindergarten“, ich habe mich zum Teil verarscht gefühlt. Nach einem Jahr | |
| dort durfte ich endlich wieder eine richtige Schule besuchen. Es ging jeden | |
| Tag acht Stunden, ich war nur vier Stunden dort, um mich einzugewöhnen. Die | |
| Mitschüler waren etwas sauer, dass ich früher gehen darf. | |
| ## Von Bundesland zu Bundesland | |
| Als Heimkind ist es genau anders herum. Wir wollten gern zur Schule. Ich | |
| habe dort an der neuen Schule gemerkt, wie schwierig es ist, von einem | |
| Bundesland zum anderen zu wechseln. In Bremen ist die Schule leichter als | |
| in Brandenburg. Nach vier Monaten habe ich aufgegeben, dahin zu gehen. | |
| Ich war schon 16 und zog nach Bremen zurück. Dort lebte ich wieder in einer | |
| Notunterkunft und bin fast ein Jahr nicht zur Schule gegangen. Das waren | |
| nun fast drei Jahre ohne Schule. Es hieß auch, mit 17 Jahren sei ich zu | |
| alt. | |
| Ich habe mir dann selber einen Platz an einer Oberschule gesucht. Die | |
| Schulleiterin war ganz erstaunt. Dass eine selber zu Schule will, habe sie | |
| noch nicht erlebt. Ich besuchte dort die 9. Klasse mit jüngeren | |
| Mitschülern, die 15 waren. Das ging eine Zeit gut. Ich habe dort aber | |
| aufgehört, als meine Jugendhilfemaßnahme auf der Kippe stand und diese | |
| große Unsicherheit mich sehr belastete. Ich bekam am Jahresende einen | |
| Abschluss ohne Prüfung, der ganz schlecht war. Durchschnittnote 5,5. | |
| ## Lücken im Lebenslauf | |
| Ich kenne sehr viele ehemalige Heimkinder, die keinen Schulabschluss haben | |
| und darunter heute leiden. Und ich kenne keinen, der durchgängig zur Schule | |
| gegangen ist. Es entstehen Lücken im Lebenslauf, die sich schwer wieder | |
| aufholen lassen. Man leidet daran ein Leben lang. | |
| Das Leben im Heim ist eindeutig besser mit Schule. Man möchte auch was | |
| Neues lernen und nicht immer nur unter den gleichen Leuten sein. Ich lerne | |
| gerne. Wenn ich nicht raus darf, ist es sehr schwierig. | |
| Wir haben uns im Heim oft gelangweilt. Man sitzt nur rum, alle auf einem | |
| Haufen. Wenn man im Heim ist, freut man sich auf die Schule. Es gibt | |
| weniger Zeit zum Blödsinnmachen. | |
| ## Schulpflicht für Heimkinder | |
| Ich finde, es sollte eine Schulpflicht für Heimkinder geben wie für ganz | |
| normale Kinder. Oder man sollte sie alternativ wenigstens bei einer | |
| Fernschule anmelden. Man muss die Wissbegier ernst nehmen. Ein Problem ist, | |
| dass in Heimen meist Förderschullehrer sind, die auf Förderschulniveau | |
| unterrichten. | |
| Inzwischen bin ich schon 22 und wohne seit drei Jahren alleine. Ich habe | |
| eine Ausbildung in Haus- und Familienpflege angefangen und wieder | |
| abgebrochen. Dann habe ich mit Hilfe des Jobcenters einen Kurs für einen | |
| erweiterten Hauptschulabschluss gemacht mit externer Prüfung. Ich hatte | |
| eine 2,0 und war eine der Klassenbesten. Demnächst mache ich den | |
| Realschulabschluss, auch mit externer Prüfung. Danach mache ich vielleicht | |
| eine Ausbildung in Richtung Kinderpflegerin. | |
| Mein Lieblingsfach ist heute Mathe, was früher mein Hassfach war. Wir | |
| nehmen gerade Stochastik und Wahrscheinlichkeitsrechnung durch. In Mathe | |
| bin ich besser als in allen anderen Fächern. | |
| *Name geändert | |
| Mehr zu Heimkindern ohne Schule lesen in der taz am Wochenende oder | |
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| 22 Feb 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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