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# taz.de -- Streit um Bildung für Heimkinder: Der lange Weg zur Schulpflicht
> In Schleswig-Holstein drückt sich die Regierung darum, eine Schulpflicht
> für Heimkinder von außerhalb einzuführen. Neuer Erlass entpuppt sich als
> alt.
Bild: Die Vorbereitung auf die echte Schule im Heim kann schon mal über zwei J…
Hamburg taz | Lisa (Name geändert) hofft ganz doll, bald zur Schule gehen
zu dürfen. Über zwei Jahre lebt das Kind schon in einem kleinen Heim hoch
im Norden. Doch ihr Wunsch, nach draußen zur Schule zu gehen und damit
täglich mehr Kontakte zu Gleichaltrigen auch außerhalb ihrer Einrichtung zu
haben, wurde Monat um Monat verschoben. Erst seit Kurzem sieht es so aus,
als ob sich der Wunsch erfüllte.
Schleswig-Holstein ist das einzige Bundesland, in dem Kinder, die in Heimen
leben und aus anderen Bundesländern kommen, [1][nicht grundsätzlich der
Schulpflicht unterliegen]. Letzten Juli sah es kurze Zeit so aus, als würde
sich das ändern. Die frischgebackene [2][Sozialministerin Aminata Touré]
(Grüne) erklärte in den Kieler Nachrichten, sie wolle diesen Sonderweg
beenden und eine „echte Schulpflicht“ für alle Heimkinder verankern.
Danach war erst mal Funkstille. Touré tausche sich mit ihrer Kollegin, der
CDU-Bildungsministerin Karin Prien aus, um „praktikable und rechtssichere“
Regelungen sicherzustellen“, teilte ihr Haus mit. Weiteres war nicht zu
erfahren. Bis nun am 19. Januar das Thema im „Bildungsausschuss“ des
Landtags auf die Tagesordnung kam. Die Überraschung: Es gibt keine
Gesetzesänderung. Es bleibt dabei, dass die rund 3.000 Heimkinder aus
anderen Bundesländern keine Schulpflicht haben, wenn sie, wie meistens der
Fall, weiter in ihrer Heimat gemeldet sind.
Dass das ein Problem ist, weil die Beschulung dieser Kinder nicht sicher
ist, hatten die Wohlfahrtsverbände vor Ort schon vor zehn Jahren
kritisiert. Die [3][Ombudsfrau Samiah El Samadoni] von der Beschwerdestelle
für Kinder und Jugendliche warnte 2019 in der taz gar vor einem
„[4][Verschwinden“ der Kinder] in den Heimen und berichtete von einem
Jungen aus Bayern, der drei Jahre nur heimintern beschult wurde und dem
ohne Abschluss nur die Perspektive auf Tätigkeit in einer geschützten
Werkstatt blieb.
## Regierung hat Daten-Lücke
Schon damals berichtete die taz von der lückenhaften Statistik. Das
Bildungsministerium hatte nur Daten von 3.373 schulpflichtigen Heimkindern,
obwohl es etwas doppelt so viele Heimplätze gab. Niedersachsen, in dem alle
Kinder gleich schulpflichtig sind, kann dagegen für alle Heimkinder genau
sagen, welche Bildungsinstitution sie besuchen.
Dass Schleswig-Holstein hier eine Daten-Lücke hat, wurde auch in einem
„[5][Regierungsbericht“] aus dem September 2021 klar, den die
SSW-Abgeordente [6][Jette Waldinger-Thiering gefordert] hatte, die seit
Jahren für die Heimkinder-Schulpflicht kämpft. CDU-Ministerin Prien hatte
zwar im [7][Oktober 2017 einen Erlass verfügt], der vorsah, dass ein Kind
wie Lisa „grundsätzlich“ Anspruch auf den Besuch einer Schule hat und Heime
die Kinder der Schulaufsicht melden sollen. Deshalb sollten die Schulkreise
„Konzepte“, „Routinen“ und „Formblätter“ entwickeln. Doch bevor di…
Kinder den Fuß in eine Schule setzen, wird geguckt, ob sie Förderbedarf
haben. Können sie aus „erzieherischen Gründen“ keine Schule besuchen, so
hat das Heim für eine interne „pädagogische Förderung“ zu sorgen. Und zw…
zur „Vorbereitung auf die Schule“ und „nur vorübergehend“.
Für den Regierungsbericht hatte das Sozialministerium im Mai 2021 den 306
Heimträgern einen Fragebogen geschickt. Doch nur 52 hatten geantwortet, da
dies freiwillig war. Parallel befragte das Bildungsministerium die 15
Schulämter und kam zu dem Ergebnis, dass 2.807 Heimkinder zur Schule gingen
und 590 Heimunterricht erhielten. Kinder wie Lisa waren häufiger im
Heimunterricht. Eine lückenlose Aufschlüsselung für die rund 6.000
Heimkinder bot der Bericht nicht. Es gebe bei den Daten eine „riesengroße
Lücke“, sagte Waldinger-Thiering. Sie verstehe nicht, warum es keine
Schulpflicht für diese Kinder gibt. „Scheitert es daran, dass die Kreise
dann dafür bezahlen müssten?“
Sozialministerin Touré gab der SSW-Frau „absolut recht“, dass die Datenlage
„nicht dahingehend zuverlässig ist, dass man sagen kann, so sieht die
Situation in Schleswig-Holstein aus“. Doch die Grüne hat sich überzeugen
lassen, das Problem anders zu regeln. Touré: „Wenn wir das mit dem Erlass
hinbekommen, dass die Praxis gut läuft und die Kooperation, dann ist mir
eine Gesetzesänderung egal“.
Dabei sprachen beide Ministerinnen von einem neuen Erlass aus November
2021, dessen Umsetzung in der Praxis Zeit und Unterstützung brauche. Doch
vergleicht man die beiden Schriftstücke, ist der 2021er Erlass von dem aus
2017 kaum zu unterscheiden. Es wird nur an einer Stelle das Wort
„Schülerakte“ durch „Daten“ getauscht und klargestellt, dass Aufnahmen…
Kinderheime nur gemeldet werden müssen, wenn sie auch die Schule
wechseln.Neu, aber nicht im Erlass erwähnt, ist auch, dass es in den
Schulkreisen „Runde Tische“ zwischen Schulaufsicht, Jugendamt und
Heimträgern gibt und dass die Schulämter in den Kreisen vom
Sozialministerium die Daten der Heime erhielten, damit die wissen, wie
viele davon es bei ihnen gibt. Bis Juli will man mit den Runden Tischen
durch sein.
Nur, hilft das Kindern wie Lisa? Gefragt, was denn gegen die gesetzliche
Schulpflicht spricht, sagte Prien, es sei nicht ihre Herangehensweise, alle
Kinder gleich zu behandeln, sondern allen Kinder „gerecht“ zu werden. Die
Kinder kämen „natürlich mit einem Paket an Themen“, und gucke man dann die
räumliche Konzentration der Einrichtungen an, dann käme man in diesen
Regionen in „sehr schwierige Situationen“. Ein Problem sei, dass
Schleswig-Holstein kaum noch Sonderschulen und eine hohe Inklusionsrate
habe.
El Samadoni, die auch in der Ausschusssitzung des Landtags saß, bezeichnete
Priens Argumentation als „schräg“. Ihr begegneten regelmäßig Kinder, die
sich sehr lange im Heim in den schulvorbereitenden Maßnahmen befänden. Im
Gespräch mit der taz sagte sie später: Über zwei Jahre, das finde sie „sehr
lang“: „Da steht im Raum, ob die Maßnahme nicht gescheitert ist.“ Sie
stelle nicht infrage, dass es Kinder gebe, die eine heiminterne Schule
brauchen. „Ich sage nur, dass die Stelle, die diese Entscheidung trifft,
keinen Interessenkonflikt haben darf. Das kann nur die Schulaufsicht sein,
die die Aufgabe hat, die Schulpflicht durchzusetzen.“ Die zuständigen
Jugendämter für diese Kinder liegen weit entfernt und sind deshalb zu wenig
präsent.
Interessant ist, dass auch die Jugendhilfe für die Schulpflicht eintritt.
So schrieb zum Beispiel der Verband privater Kinder- und Jugendhilfeträger
(VPK) 2018 in einer Stellungnahme, besagter Erlass von 2017 sei nicht
ausreichend, da er „weiterhin Unsicherheiten“ für die Kinder eröffne.
Immerhin erteilten Prien der gesetzlichen Schulpflicht keine endgültige
Absage. Sie wolle „nicht für alle Ewigkeit ausschließen, das wir das tun“.
Ihre Kollegin Touré sei ja eigentlich eh dafür.
30 Jan 2023
## LINKS
[1] /Recht-auf-Bildung/!5572922
[2] /Aminata-Toure-ueber-ihren-neuen-Job/!5865442
[3] /Schleswig-Holsteins-erste-Ombudsfrau-fuer-Heimkinder/!5262846
[4] /!5573014/
[5] https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl19/drucks/03200/drucksache-19-0326…
[6] https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl19/drucks/02600/drucksache-19-0268…
[7] https://www.schleswig-holstein.de/DE/fachinhalte/S/schulrecht/Downloads/Erl…
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
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