# taz.de -- Misshandlungen im Kinderheim: Hinter Milchglas | |
> Fünf Betroffene berichten von Isolation und Polizeigriffen in einem | |
> Brandenburger Kinderheim. Ein Jugendlicher hat Anzeige erstattet. | |
Bild: Einst isoliert hinter Milchglas – „Elvis“, ein ehemaliges Heimkind,… | |
Wir treffen Elvis in einem Wohnprojekt für Straßenkinder im Bahnhof Jamlitz | |
im Süden von Brandenburg. Seit März lebt er dort, hat sich seiner | |
Betreuerin Anett anvertraut. Vorher lebte er anderthalb Jahre in einem Heim | |
namens „Neustart“, betrieben vom Arbeiter Samariter Bund (ASB) in Lübben, | |
gelegen in einem Wald bei Jänschwalde. „Der Aufenthalt dort hat Elvis | |
schwer traumatisiert“, sagt die Sozialpädagogin. | |
Elvis redet leise, guckt auf den Tisch. „Das ist wie eine geschlossene. | |
Also man sitzt den ersten Monat allein im Zimmer“, berichtet er. Da habe er | |
„Reflexionsaufgaben“ schreiben müssen und ein Namensschild aus | |
Papierkügelchen basteln. „Da ist alles angeschraubt, die Betten und Tische. | |
Die Fenster sind zur Hälfte zugeklebt. Man hat nur einen Schrank. Aber der | |
ist verschlossen“, sagt der junge Mann, als er in Begleitung seiner | |
Betreuerin mit uns spricht. | |
Sechs Jahre ist es her, dass nach Recherchen der taz drei Heime der | |
[1][Haasenburg] GmbH geschlossen wurden, weil die dortigen Methoden nicht | |
mit dem Kindeswohl vereinbar waren. Der Heimalltag dort sei von | |
„überzogenen, schematischen und drangsalierenden [2][Erziehungsmethoden] | |
geprägt gewesen“, sagte die damalige Jugendministerin Martina Münch (SPD) | |
nach Lektüre eines Untersuchungsberichts und entzog die Betriebserlaubnis. | |
Zugeklebte Fenster als Form des Reizentzugs, auch das gab es in der | |
Haasenburg. | |
## Hat sich nichts geändert? | |
Wir fragen nach. Gab es wirklich zugeklebte Fenster? Elvis sagt: „Na, unten | |
zumindest. Und auf die Heizung darfst du nicht, um rauszugucken. Also den | |
ersten Monat sollst du keinen sehen.“ Erst nach zwei Wochen habe er einmal | |
an die frische Luft gedurft für eine Stunde Sportprogramm. Aber auch das | |
nur in einem Fußball-Käfig, der hinter ihm abgeschlossen worden sei. „Und | |
dann warst du doch wieder im Zimmer.“ | |
Fast das ganze erste Jahr von Elvis’ Aufenthalt spielt sich in und um „Haus | |
1“ ab, ein beiger Putzbau, in dem laut Zeitungsberichten früher mal die | |
Bundespolizei war. Im ersten Stock ist die Gruppe 1 für die Neuen, im | |
Erdgeschoss die Gruppe 2 für jene, die schon länger da sind. „Da zieht man | |
hin, wenn man das alles verstanden hat“, sagt Elvis. Wir sprechen in den | |
nächsten Wochen mit vier weiteren Jugendlichen, die Elvis’ Schilderung | |
bestätigen. Die Bewohner der Gruppe 1 dürfen nach ihren Aussagen nur in | |
Begleitung der Erzieher ins Freie und sich tagsüber einen Großteil der Zeit | |
nicht ohne Erlaubnis zwischen den Zimmern bewegen. | |
Elvis, der wie alle ehemaligen Bewohner des Heims in diesem Text in | |
Wirklichkeit anders heißt, ist knapp 1,80 Meter groß, etwas schüchtern und | |
trägt immer eine Mütze. Er weiß noch, was am ersten Tag in Jänschwalde | |
passierte, als er seine Mütze nicht absetzen wollte. Sie hätten ihn | |
deswegen zu zweit fixiert, sagt er. „Sie haben mich auf den Boden gedrückt. | |
Einer hat sein Knie auf meinen Rücken gedrückt und mich festgehalten. Und | |
der andere hat mir die Mütze weggenommen und mich so lange festgehalten, | |
bis ich ruhig war.“ Ob das wehgetan hat? „Ja, klar, das war ein | |
Polizeigriff.“ | |
Er spricht leise. Es fällt ihm nicht leicht, zu berichten. Von dem | |
umständlichen Toiletten-Ritual zum Beispiel. Er erzählt, dass er an seine | |
Zimmertür klopfen musste, wenn er aufs Klo wollte, und dann musste er | |
warten – bis ein Erzieher kommt. Diesen musste er dann um Erlaubnis fragen, | |
für jeden einzelnen Abschnitt seines Gang zur Toilette. Darf er raus auf | |
den Flur? Rein ins Bad? Raus aus dem Bad? Zurück in den Flur? Wieder rein | |
ins Zimmer? Vor jeder Türschwelle eine Frage. Insgesamt sechs, sieben | |
Fragen, um einmal pinkeln zu gehen. | |
Auch das erinnert an Berichte aus der [3][Haasenburg]. Elvis berichtet, | |
dass ehemalige Mitarbeiter von dort in Jänschwalde arbeiten, „die haben | |
mal drüber erzählt“. Er nennt fünf Namen, einer findet sich auch auf einer | |
alten Mitarbeiterliste, die der taz vorliegt. Elvis kam erst nach einem | |
halben Jahr im Haus nach unten in die „Gruppe 2“. Auch dort habe er nach | |
allem fragen müssen. „Man hatte so eine Liste zum Abarbeiten“, sagt er. Der | |
letzte Punkt, den man dort erreichen konnte, war „selbstständig gehen“ – | |
sich also im Haus frei zu bewegen, ohne einen Erzieher um Erlaubnis fragen | |
zu müssen. | |
So ähnlich ging es wohl den „Zöglingen“ in der Dzierzynski-Kommune des | |
sowjetischen Hauspädagogen Makarenko zur Stalin-Zeit. In dem Buch | |
„Beschädigte Seelen“ beschreibt Kulturwissenschaftler Manfred Franz die | |
Lage eines Neuankömmlings so: „Selbst um tagsüber seinen Schlafsaal zu | |
betreten, brauchte er eine schriftliche Erlaubnis“. Und jederzeit konnte | |
ein Kommunarde bei Fehlverhalten auf die „nahezu rechtlose Stufe des | |
Zöglings zurückgestuft werden“. | |
Zu „Neustart“ gibt es alte Zeitungsberichte. 2013 gewährte das vom | |
ASB-Lübben betriebene Heim einer Reporterin der Märkischen Allgemein | |
Einblick. „Neustart ohne Türschlösser“, titelte die Zeitung. Und weiter: | |
„Der Alltag im Heim ist hart, und manche Jugendliche reißen deshalb auch | |
aus. Kein Kunststück, da die Türen offen stehen“. Aber stimmt das noch? | |
Elvis sagt, die Tür zwischen dem Eingang und seiner Gruppe war | |
abgeschlossen. Den Schlüssel hätten die Erzieher. | |
## Der Nachwuchs lerne, „Defizite zu beseitigen“ | |
Als wir Ende August das Jugendministerium konfrontieren, leitet dieses die | |
Anfrage an die Staatsanwaltschaft Cottbus weiter, um dem Verdacht der | |
Freiheitsberaubung nachzugehen. Zudem seien Mitarbeiter des | |
Jugendministeriums vor Ort gewesen, um den Vorwürfen nachzugehen. Weitere | |
Gespräche mit dem Träger und Prüfungen würden folgen. Es handele sich um | |
eine offene Einrichtung – „jede freiheitsberaubende Maßnahme ist nicht | |
gestattet“. Weitere Nachfragen will die Behörde nicht beantworten. | |
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke müsste vertraut sein mit | |
„Neustart“. Auf einem Foto, das die Lausitzer Rundschau am 8. April zeigte, | |
hält der SPD-Politiker einen roten Adler aus Holz in den Händen, den ihm | |
Heimkinder überreichten. „Ministerpräsident vom Projekt ‚Neustart‘ | |
beeindruckt“, lautet die Titelzeile. In dem Text steht, der ASB betreue in | |
Jänschwalde Jugendliche mit „massiven Verhaltensstörungen, die sich Regeln | |
und Normen verweigern“. In dem Projekt lerne der Nachwuchs, seine „Defizite | |
zu beseitigen“. Wie die Mitarbeiter dies angingen, habe Woidke imponiert. | |
Elvis sagt, man sollte das Heim zumachen: „Ich war aggressiver danach als | |
davor.“ Irgendwann stieg er in die Gruppe 3 im Nachbarhaus auf, das mehr | |
Freiraum bietet. Aber nachdem er dort weglief, kam er zurück in die | |
Eingangsphase. Nach anderthalb Jahren schließlich flog Elvis raus, wie er | |
berichtet, nachdem er sich mit einem Erzieher geprügelt habe. Das Jugendamt | |
findet für den 17-Jährigen eine normale Jugendwohnung in Cottbus. Doch nur | |
bis zu seinem 18. Geburtstag. Dann steht der Junge ohne Obdach da. | |
Das war im März. So kam Elvis nach Jamlitz zu dem alternativen | |
Straßenkinder-Projekt des Trägers „Karuna“, das ganz anders arbeitet. Sei… | |
Betreuerin mischt sich ins Gespräch ein. „Ist das, wenn du jetzt darüber | |
erzählst, Elvis, ist das für dich schwer?“ – „Ja“, antwortet er, „w… | |
weiß, wie es den anderen da geht, die jetzt da sind. Die sitzen da im | |
Zimmer.“ | |
## Chips als Bezahlmittel für Telefonate mit den Eltern | |
Auch in der Gruppe 2 blieb das Leben sehr reglementiert. Für die Teilnahme | |
am Spieleabend, ein längeres Telefonat mit den Eltern oder dafür, sich zu | |
schminken oder zu „stylen“, musste mit „Chips“ bezahlt werden, die die | |
Jugendlichen sich durch Wohlverhalten verdienten. Alle zwei Stunden, | |
erinnert Elvis, habe er einen Chip „anmelden“ können. Danach habe der | |
Betreuer ihm gesagt, ob er ihn verdient hat oder nicht. Normal gab es drei | |
Minuten Telefonzeit die Woche, berichtet er. „Hat man zehn Chips, darf man | |
13 Minuten telefonieren“. | |
Die Betreuerin von Elvis regt das alles auf. „Am meisten dieses Klopfen“, | |
sagt sie, „dann nicht zu wissen, wann kommt der jetzt eigentlich. Wie viel | |
Zeit man dort verwartet.“ Auf Toilette gehen sei ein Grundbedürfnis des | |
Menschen. „Das kann nicht reglementiert werden.“ | |
Wir entschließen uns, selber zu schauen, ob es Milchglasfolie gibt. Ende | |
Juni fahren wir nach Jänschwalde in die Niederlausitz. Den Besuch kündigen | |
wir bei der Heimleitung nicht an, weil wir fürchten, dass die | |
Milchglasfolie schnell verschwinden könnte. | |
Wir parken anderthalb Kilometer entfernt, um vom Waldrand einen Blick auf | |
die Fassade zu werfen. Die brütende Sonne scheint durch die Kiefernwipfel, | |
hier und da liegen leere Flaschen auf dem trockenen Waldboden. | |
Spaziergänger gibt es hier nicht, nur Jäger-Hochsitze und zugewachsene | |
Wege. Im Umkreis befindet sich kaum etwas außer einem ehemaligen | |
Militärflughafen und einer Tagebau-Marslandschaft. Wir klettern den kleinen | |
Hang hinauf und sehen zwischen Tannen und Birken rote Dachziegel. Das ist | |
das Heim. | |
Wir sehen den beigen Putzbau vom Gruppentrakt eins und zwei. Obwohl wir | |
keine 100 Meter vom Haus entfernt sind, herrscht Stille. Kein Kind ist am | |
frühen Nachmittag draußen. Es ist, wie Elvis gesagt hat: Im ersten Stock | |
sind vier Zimmerfenster verklebt. Drei je zur Hälfte, ein viertes komplett. | |
Wir machen Fotos. | |
## Zugeklebte Fenster, matratzenloose Betten | |
Das Heim hat eine Facebookseite. Wir lesen dort einen Chat aus dem Jahr | |
2016. Ehemalige befürworten rückblickend die Härte und sorgen sich, dass | |
ihre Nachfolger zu viel Luxus haben, etwa eigene Handys. Eine junge Frau | |
fragt dort die Heimleitung, „ob es immer noch so ist, dieses | |
Aufnahmeverfahren mit dem Aufnahmezimmer wo man voll abgeschirmt von allem | |
ist“. Darauf antwortet die Heimleitung, es gehe jetzt im Nachbarhaus | |
„lockerer“ zu. „Aber es gibt immer noch Haus 1 und das Konzept hat sich | |
dort nicht wesentlich verändert.“ | |
Im Netz finden sich auch Hinweise auf ehemalige Jugendliche. Wir schreiben | |
Sabine aus Sachsen an. Die 19-Jährige ist bereit, mit uns zu telefonieren. | |
Sie sagt, sie wohnt heute alleine und hat mit der Jugendhilfe nichts mehr | |
zu tun. Aufgeregt erzählt sie, wie sie mit 15 in das Heim kam: „Also, ich | |
bin ins Zimmer rein, das Fenster war zugeklebt. Das Bett war leer. Keine | |
Matratze drauf. Alles angeschraubt.“ Elvis kennt sie nicht. Sie wünsche | |
keinem, dort reinzugehen. „Das ist ja wirklich schlimmer als Knast. Also | |
vielleicht in Gruppe 2 würde ich jemanden reinschicken, aber nie in die | |
Gruppe 1. Das ist wirklich Horror, das ist krank.“ | |
Tagsüber habe sie auf dem angeschraubten Stuhl sitzen müssen. „Also, da tat | |
schon mein Popo weh.“ Sehr lästig sei die Klopf-Regel. Ein Erzieher war | |
besonders streng. „Ich hatte denen gesagt: ‚Ich will jetzt auf Toilette | |
gehen.‘ Und da meinte der: ‚Nee, du gehst jetzt nicht auf Toilette.‘ Obwo… | |
ich pissen musste. Und dann habe ich gesagt:,Soll ich hier auf den Boden | |
pinkeln?' Und dann meinte der: ‚Nee. Aber du redest mit mir ordentlich.‘“ | |
„Du darfst nie was Falsches sagen, sonst wirst du übelst bestraft“, | |
erinnert sie. Zum Beispiel mit „Zimmeraufenthalt“. Auch Sabine berichtet, | |
dass andere begrenzt wurden. Und sie erinnert sich, wie sie Chips | |
verdiente. Welche Sätze sie auswendig lernen und aufsagen musste, um die | |
begehrten Papiermünzen zu bekommen. Wir schicken Sabine das Foto mit den | |
verklebten Fenstern. Sie malt weiße Kreise drauf und schickt es zurück, um | |
uns zu zeigen, in welchem Zimmer sie war. Sie sagt, es gebe an der Seite | |
noch mehr Zimmer mit Fensterfolie, insgesamt sechs oder sieben. | |
Der Kontakt zu Sabine bricht wieder ab. Sie kommt nicht zu einem | |
vereinbarten Treffen. Doch wir interviewen noch drei weitere Jugendliche, | |
mit denen wir im Austausch bleiben. Janina zum Beispiel kam mit 15 nach | |
Jänschwalde, weil sie aggressiv zu ihrer Mutter war und gelegentlich | |
kiffte, wie sie sagt. „Meine Mama meinte nur zu mir, dass ich in eine | |
Einrichtung komme. Und dass es so eine ist, hätte ich echt nicht gedacht“, | |
sagt sie. „Die ersten vier Wochen war ich in diesem Zimmer, wo die Fenster | |
abgeklebt sind.“ Wegen des angeschraubten Stuhls habe sie sich öfter auf | |
den Boden gesetzt, denn auf dem Bett lag keine Matratze. „Man hat sich halt | |
irgendwie wie in einer Geschlossenen gefühlt.“ In den vier Wochen allein im | |
Zimmer ging es ihr „nicht gut. Gar nicht gut“. | |
Martin ist 16 Jahre alt und war neun Monate da – ebenfalls zuerst in einem | |
Zimmer mit Milchglas. Auch er bestätigt die abgeschlossenen Türen, die | |
Fragerituale und dass er anfangs keine anderen Jugendlichen zu Gesicht | |
bekam. Aus dem Fenster konnte er ebenfalls nicht rausschauen: „Man musste | |
auf das Fensterbrett steigen, um drüber zu gucken“, sagt er. | |
Er beschreibt auch, wie andere Jugendliche mit Handgriffen zu Boden | |
gebracht wurden. „Der hat schon geweint, aber die Erzieher haben nicht | |
aufgehört.“ Martin erinnert sich an vieles nicht ganz genau, aber als wir | |
nach seinen „Verhaltenspunkten“ fragen, zitiert er problemlos aus dem Kopf: | |
„Ich höre auf alle Anweisungen der Erzieher und erledige alle Aufgaben | |
ordentlich und gewissenhaft.“ Warum er überhaupt dort war? Er habe viele | |
Geschwister und habe sich zu Hause „nicht so benommen“. | |
Lina hatte schon zwei andere „Jugend-WGs“ hinter sich, als sie nach | |
Jänschwalde kam. Sie hatte positive Erwartungen, „aber dann, wo ich da | |
hingekommen bin – Katastrophe“, erinnert sie. Zu den verklebten Scheiben | |
wurde ihr gesagt, das sei, „damit die anderen einen nicht sehen“. In die | |
Folie, berichtet sie, war ein kleines Loch gepult. Dadurch konnte sie Elvis | |
im Hof sehen und hat ihm manchmal gewunken. | |
Die Existenz dieser Folie, die dem optischen Eindruck nach von außen | |
angeklebt ist, bestreitet selbst der zuständige Landkreis Spree-Neiße | |
nicht, als wir danach fragen. Die Milchglasfolie bedecke die untere Hälfte | |
der Sprossenfenster und diene der „Wahrung der Privat- und Intimsphäre“, | |
antwortet die Büroleiterin Petra Rademacher im Auftrag des CDU-Landrats | |
Harald Altekrüger. | |
Das beträfe „das Aufnahmezimmer und den Sanitärbereich in den Gruppen“. | |
Ausschließen, dass Jugendliche nicht rausschauen können, kann das Amt | |
nicht. Auf die Frage, warum Jugendliche kleinteilig danach fragen müssen, | |
ob sie aufs Klo gehen dürfen, antwortet die Büroleiterin: „Der Punkt | |
Wertevermittlung ist in der Konzeption verankert. Das Konzept ist | |
Bestandteil der Betriebserlaubnis.“ Eltern und Jugendamt müssten sich | |
vorher „mit der Konzeption einverstanden erklären.“ | |
Für Lina war der harte Stuhl ein Problem. Die Matratze gab es auch bei ihr | |
erst abends. „Ich habe mich dann auf den Boden gelegt, weil es in den | |
Zimmern so kalt war“, erinnert sie. „Und dann habe ich mich immer an die | |
Heizung gekuschelt.“ Der Landkreis schreibt nur, die räumliche Ausstattung | |
sei in der Konzeption verankert. Lina schaffte es nach einem halben Jahr | |
runter in Gruppe 2. Auch dort hielt sie es nicht aus. Sie sei mehrfach mit | |
Polizeigriff festgehalten worden. Sie habe geweint und gefleht, der | |
Erzieher solle aufhören, und hinterher zwei Tage Schmerzen gehabt und das | |
Gefühl, es sei etwas in der Schulter gebrochen. | |
Der Landkreis schreibt zur Frage nach Polizeigriffen und Fixierungen auf | |
dem Boden, solche „Handlungsstrategien“ und gegebenenfalls Betroffene, | |
seien dem Jugendamt „nicht bekannt“. Das Jugendministerium, dem die | |
Heimaufsicht unterliegt, prüft die Vorwürfe noch. Grundsätzlich könnte es | |
nötig sein, eine Gefahrensituation auch mit Polizeigriff abzuwenden. Hätte | |
diese Handlung „Auswirkung über den Augenblick hinaus, wäre das in jedem | |
Fall zu melden“. | |
## Heimkind im Hungerstreik | |
Irgendwann lief Lina weg. Sie tat so, als wolle sie draußen Wäsche | |
aufhängen, schnappte sich heimlich ihr Portemonnaie und lief durch den Wald | |
zum nächsten Bahnhof: Jänschwalde Ost. „Da sind die mit dem Auto | |
hinterhergefahren, haben mich eingesackt.“ Und dann musste sie wieder von | |
vorn anfangen. „Auch wieder diese vier Wochen. Und da habe ich mich so | |
geweigert. Ich habe zwei Wochen nichts getrunken und gegessen. So weit war | |
ich da.“ Lina bezweifelt, dass die positiven Kommentare auf Facebook | |
authentisch sind. „Wer würde positiv darüber urteilen, wenn man | |
eingeschlossen ist? Warum hauen denn dort so viele ab, wenn es angeblich so | |
gut dort sein soll?“ Und dann nennt sie aus dem Kopf acht Namen von | |
Jugendlichen, die dort weggelaufen seien. | |
Das Ministerium schreibt, wenn Jugendliche weglaufen, muss ein Heim dies | |
melden. Man spreche nicht von „Flucht“, die würden sich „entziehen“. W… | |
wollten auch der Einrichtung „IP Neustart“ Fragen stellen. Wir fragen, ob | |
wir vorbeikommen dürfen. Als wir eine Absage bekommen, befragen wir den | |
Träger der Einrichtung, ASB Lübben, schriftlich zu den geschilderten | |
Sachverhalten. Wir geben drei Tage Zeit für die Beantwortung. | |
Der Geschäftsführer Sven Meier antwortet uns nur allgemein: Man erkläre | |
jedem Jugendamt und Sorgeberechtigten sehr genau die dortige Arbeit. Und | |
diese träfen die Entscheidung, „ob unser Angebot die passende Hilfeform | |
darstellt“. Unsere tendenziösen Fragen zusammen mit der Fristsetzung hätten | |
ihn sehr befremdet. Auf die einzelnen Fragen geht er nicht ein, bietet | |
dafür nun aber doch einen Vor-Ort-Termin an, allerdings erst zwei Monate | |
später, aufgrund der „Urlaubszeit der Leitung“. | |
Der Landkreis Spree-Neiße bringt selber Jugendliche bei „IP Neustart“ unter | |
und schreibt, Beschwerden seien dem Jugendamt nicht bekannt. Die Mehrzahl | |
der Kinder und Jugendlichen hätte vorpsychiatrische Erfahrungen, sie seien | |
teilweise traumatisiert und erforderten eine „engmaschige pädagogische | |
beziehungsweise therapeutische Betreuung“. Die Maßnahmen seien im Konzept | |
beschrieben und würden vorab den Sorgeberechtigten und den Kindern | |
transparent dargestellt. In der Anfangsphase gebe es eine | |
Eins-zu-eins-Betreuung. | |
Tilman Lutz, Professor für Soziale Arbeit an der evangelischen Hochschule | |
Hamburg, findet die Praxis im Heim untragbar: „Das, was die jungen Menschen | |
schildern, ist Gewalt. Vom anfänglichen Freiheitsentzug über die | |
degradierenden Fragerituale bis zu den körperlichen Übergriffen. Das Recht | |
auf gewaltfreie Erziehung gilt auch in Einrichtungen.“ Dies als | |
Wertevermittlung zu bezeichnen, sei „zynisch und ignoriert die Rechte der | |
Kinder.“ Das Konzept sei auf Dressur ausgelegt und nicht auf Pädagogik. | |
Erziehung sollte etwas mit Aushandlung zwischen Subjekten zu tun haben – | |
hier würden die Jugendlichen zu Objekten gemacht, die verändert werden | |
müssen. „Das widerspricht Würde und Kinderrechten“, sagt Lutz. Die | |
Aufsichtsbehörden müssten sich darum kümmern, dass die Rechte von Kindern | |
gewahrt werden. | |
Lutz forscht seit fünf Jahren zur Wirkung von sogenannten Stufenmodellen | |
und verweist auf den Deutschen Ethikrat. Der zweifelt schon länger an | |
Punktesystemen und Phasenkonzepten, wie sie in Jänschwalde praktiziert | |
werden. In seinen Empfehlungen zu Zwang in Sorgebeziehungen aus dem Herbst | |
2018 schreibt er: „Intensiv-pädagogische Konzepte sind nicht zu | |
rechtfertigen“. Denn sie würden aufseiten des Kindes oder Jugendlichen „zu | |
Ohnmachtserfahrungen und zu äußerer Anpassung aus Resignation führen, | |
sodass die eigentlich verfolgten wohltätigen Absichten konterkariert | |
werden“. | |
Ähnlich schätzt es auch Heuser-Collier ein, Direktorin der Klinik und | |
Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner | |
Charité. Sie sagt: „Horror. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es eine | |
solche Einrichtung gibt.“ Bei den Jugendlichen könnten solche Maßnahmen | |
dazu führen, dass sie sich noch mehr verhärten und sich das Gefühl von „ich | |
bin ja eh allen egal“ verfestige. „Keine Ahnung, wie da die | |
Erfolgsaussichten sein sollen.“ Diese Methode jedenfalls könne nicht von | |
Erfolg gekrönt sein, weil den Jugendlichen beigebracht werde: Es gibt | |
niemanden, der sich wirklich für sie interessiert. | |
Das Ministerium, welches das Konzept erlaubt hat, antwortet | |
[4][schmallippig] auf unsere Fragen, zeigt sich aber alarmiert. Es wäre | |
hilfreich, „wenn sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen direkt an uns | |
wenden“, sagt Sprecherin Antje Grabley. Die Hinweise würden vertraulich | |
behandelt. Die Staatsanwaltschaft Cottbus bestätigt, dass ein | |
„Prüfverfahren“ läuft – aber Näheres oder genaue Delikte seien noch ni… | |
bekannt. Zumindest einer der Jugendlichen, mit denen die taz sprach, | |
erstattete mittlerweile Anzeige bei der Polizei. | |
23 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Gareth Joswig | |
Kaija Kutter | |
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