| # taz.de -- Misshandlungen im Kinderheim: Hinter Milchglas | |
| > Fünf Betroffene berichten von Isolation und Polizeigriffen in einem | |
| > Brandenburger Kinderheim. Ein Jugendlicher hat Anzeige erstattet. | |
| Bild: Einst isoliert hinter Milchglas – „Elvis“, ein ehemaliges Heimkind,… | |
| Wir treffen Elvis in einem Wohnprojekt für Straßenkinder im Bahnhof Jamlitz | |
| im Süden von Brandenburg. Seit März lebt er dort, hat sich seiner | |
| Betreuerin Anett anvertraut. Vorher lebte er anderthalb Jahre in einem Heim | |
| namens „Neustart“, betrieben vom Arbeiter Samariter Bund (ASB) in Lübben, | |
| gelegen in einem Wald bei Jänschwalde. „Der Aufenthalt dort hat Elvis | |
| schwer traumatisiert“, sagt die Sozialpädagogin. | |
| Elvis redet leise, guckt auf den Tisch. „Das ist wie eine geschlossene. | |
| Also man sitzt den ersten Monat allein im Zimmer“, berichtet er. Da habe er | |
| „Reflexionsaufgaben“ schreiben müssen und ein Namensschild aus | |
| Papierkügelchen basteln. „Da ist alles angeschraubt, die Betten und Tische. | |
| Die Fenster sind zur Hälfte zugeklebt. Man hat nur einen Schrank. Aber der | |
| ist verschlossen“, sagt der junge Mann, als er in Begleitung seiner | |
| Betreuerin mit uns spricht. | |
| Sechs Jahre ist es her, dass nach Recherchen der taz drei Heime der | |
| [1][Haasenburg] GmbH geschlossen wurden, weil die dortigen Methoden nicht | |
| mit dem Kindeswohl vereinbar waren. Der Heimalltag dort sei von | |
| „überzogenen, schematischen und drangsalierenden [2][Erziehungsmethoden] | |
| geprägt gewesen“, sagte die damalige Jugendministerin Martina Münch (SPD) | |
| nach Lektüre eines Untersuchungsberichts und entzog die Betriebserlaubnis. | |
| Zugeklebte Fenster als Form des Reizentzugs, auch das gab es in der | |
| Haasenburg. | |
| ## Hat sich nichts geändert? | |
| Wir fragen nach. Gab es wirklich zugeklebte Fenster? Elvis sagt: „Na, unten | |
| zumindest. Und auf die Heizung darfst du nicht, um rauszugucken. Also den | |
| ersten Monat sollst du keinen sehen.“ Erst nach zwei Wochen habe er einmal | |
| an die frische Luft gedurft für eine Stunde Sportprogramm. Aber auch das | |
| nur in einem Fußball-Käfig, der hinter ihm abgeschlossen worden sei. „Und | |
| dann warst du doch wieder im Zimmer.“ | |
| Fast das ganze erste Jahr von Elvis’ Aufenthalt spielt sich in und um „Haus | |
| 1“ ab, ein beiger Putzbau, in dem laut Zeitungsberichten früher mal die | |
| Bundespolizei war. Im ersten Stock ist die Gruppe 1 für die Neuen, im | |
| Erdgeschoss die Gruppe 2 für jene, die schon länger da sind. „Da zieht man | |
| hin, wenn man das alles verstanden hat“, sagt Elvis. Wir sprechen in den | |
| nächsten Wochen mit vier weiteren Jugendlichen, die Elvis’ Schilderung | |
| bestätigen. Die Bewohner der Gruppe 1 dürfen nach ihren Aussagen nur in | |
| Begleitung der Erzieher ins Freie und sich tagsüber einen Großteil der Zeit | |
| nicht ohne Erlaubnis zwischen den Zimmern bewegen. | |
| Elvis, der wie alle ehemaligen Bewohner des Heims in diesem Text in | |
| Wirklichkeit anders heißt, ist knapp 1,80 Meter groß, etwas schüchtern und | |
| trägt immer eine Mütze. Er weiß noch, was am ersten Tag in Jänschwalde | |
| passierte, als er seine Mütze nicht absetzen wollte. Sie hätten ihn | |
| deswegen zu zweit fixiert, sagt er. „Sie haben mich auf den Boden gedrückt. | |
| Einer hat sein Knie auf meinen Rücken gedrückt und mich festgehalten. Und | |
| der andere hat mir die Mütze weggenommen und mich so lange festgehalten, | |
| bis ich ruhig war.“ Ob das wehgetan hat? „Ja, klar, das war ein | |
| Polizeigriff.“ | |
| Er spricht leise. Es fällt ihm nicht leicht, zu berichten. Von dem | |
| umständlichen Toiletten-Ritual zum Beispiel. Er erzählt, dass er an seine | |
| Zimmertür klopfen musste, wenn er aufs Klo wollte, und dann musste er | |
| warten – bis ein Erzieher kommt. Diesen musste er dann um Erlaubnis fragen, | |
| für jeden einzelnen Abschnitt seines Gang zur Toilette. Darf er raus auf | |
| den Flur? Rein ins Bad? Raus aus dem Bad? Zurück in den Flur? Wieder rein | |
| ins Zimmer? Vor jeder Türschwelle eine Frage. Insgesamt sechs, sieben | |
| Fragen, um einmal pinkeln zu gehen. | |
| Auch das erinnert an Berichte aus der [3][Haasenburg]. Elvis berichtet, | |
| dass ehemalige Mitarbeiter von dort in Jänschwalde arbeiten, „die haben | |
| mal drüber erzählt“. Er nennt fünf Namen, einer findet sich auch auf einer | |
| alten Mitarbeiterliste, die der taz vorliegt. Elvis kam erst nach einem | |
| halben Jahr im Haus nach unten in die „Gruppe 2“. Auch dort habe er nach | |
| allem fragen müssen. „Man hatte so eine Liste zum Abarbeiten“, sagt er. Der | |
| letzte Punkt, den man dort erreichen konnte, war „selbstständig gehen“ – | |
| sich also im Haus frei zu bewegen, ohne einen Erzieher um Erlaubnis fragen | |
| zu müssen. | |
| So ähnlich ging es wohl den „Zöglingen“ in der Dzierzynski-Kommune des | |
| sowjetischen Hauspädagogen Makarenko zur Stalin-Zeit. In dem Buch | |
| „Beschädigte Seelen“ beschreibt Kulturwissenschaftler Manfred Franz die | |
| Lage eines Neuankömmlings so: „Selbst um tagsüber seinen Schlafsaal zu | |
| betreten, brauchte er eine schriftliche Erlaubnis“. Und jederzeit konnte | |
| ein Kommunarde bei Fehlverhalten auf die „nahezu rechtlose Stufe des | |
| Zöglings zurückgestuft werden“. | |
| Zu „Neustart“ gibt es alte Zeitungsberichte. 2013 gewährte das vom | |
| ASB-Lübben betriebene Heim einer Reporterin der Märkischen Allgemein | |
| Einblick. „Neustart ohne Türschlösser“, titelte die Zeitung. Und weiter: | |
| „Der Alltag im Heim ist hart, und manche Jugendliche reißen deshalb auch | |
| aus. Kein Kunststück, da die Türen offen stehen“. Aber stimmt das noch? | |
| Elvis sagt, die Tür zwischen dem Eingang und seiner Gruppe war | |
| abgeschlossen. Den Schlüssel hätten die Erzieher. | |
| ## Der Nachwuchs lerne, „Defizite zu beseitigen“ | |
| Als wir Ende August das Jugendministerium konfrontieren, leitet dieses die | |
| Anfrage an die Staatsanwaltschaft Cottbus weiter, um dem Verdacht der | |
| Freiheitsberaubung nachzugehen. Zudem seien Mitarbeiter des | |
| Jugendministeriums vor Ort gewesen, um den Vorwürfen nachzugehen. Weitere | |
| Gespräche mit dem Träger und Prüfungen würden folgen. Es handele sich um | |
| eine offene Einrichtung – „jede freiheitsberaubende Maßnahme ist nicht | |
| gestattet“. Weitere Nachfragen will die Behörde nicht beantworten. | |
| Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke müsste vertraut sein mit | |
| „Neustart“. Auf einem Foto, das die Lausitzer Rundschau am 8. April zeigte, | |
| hält der SPD-Politiker einen roten Adler aus Holz in den Händen, den ihm | |
| Heimkinder überreichten. „Ministerpräsident vom Projekt ‚Neustart‘ | |
| beeindruckt“, lautet die Titelzeile. In dem Text steht, der ASB betreue in | |
| Jänschwalde Jugendliche mit „massiven Verhaltensstörungen, die sich Regeln | |
| und Normen verweigern“. In dem Projekt lerne der Nachwuchs, seine „Defizite | |
| zu beseitigen“. Wie die Mitarbeiter dies angingen, habe Woidke imponiert. | |
| Elvis sagt, man sollte das Heim zumachen: „Ich war aggressiver danach als | |
| davor.“ Irgendwann stieg er in die Gruppe 3 im Nachbarhaus auf, das mehr | |
| Freiraum bietet. Aber nachdem er dort weglief, kam er zurück in die | |
| Eingangsphase. Nach anderthalb Jahren schließlich flog Elvis raus, wie er | |
| berichtet, nachdem er sich mit einem Erzieher geprügelt habe. Das Jugendamt | |
| findet für den 17-Jährigen eine normale Jugendwohnung in Cottbus. Doch nur | |
| bis zu seinem 18. Geburtstag. Dann steht der Junge ohne Obdach da. | |
| Das war im März. So kam Elvis nach Jamlitz zu dem alternativen | |
| Straßenkinder-Projekt des Trägers „Karuna“, das ganz anders arbeitet. Sei… | |
| Betreuerin mischt sich ins Gespräch ein. „Ist das, wenn du jetzt darüber | |
| erzählst, Elvis, ist das für dich schwer?“ – „Ja“, antwortet er, „w… | |
| weiß, wie es den anderen da geht, die jetzt da sind. Die sitzen da im | |
| Zimmer.“ | |
| ## Chips als Bezahlmittel für Telefonate mit den Eltern | |
| Auch in der Gruppe 2 blieb das Leben sehr reglementiert. Für die Teilnahme | |
| am Spieleabend, ein längeres Telefonat mit den Eltern oder dafür, sich zu | |
| schminken oder zu „stylen“, musste mit „Chips“ bezahlt werden, die die | |
| Jugendlichen sich durch Wohlverhalten verdienten. Alle zwei Stunden, | |
| erinnert Elvis, habe er einen Chip „anmelden“ können. Danach habe der | |
| Betreuer ihm gesagt, ob er ihn verdient hat oder nicht. Normal gab es drei | |
| Minuten Telefonzeit die Woche, berichtet er. „Hat man zehn Chips, darf man | |
| 13 Minuten telefonieren“. | |
| Die Betreuerin von Elvis regt das alles auf. „Am meisten dieses Klopfen“, | |
| sagt sie, „dann nicht zu wissen, wann kommt der jetzt eigentlich. Wie viel | |
| Zeit man dort verwartet.“ Auf Toilette gehen sei ein Grundbedürfnis des | |
| Menschen. „Das kann nicht reglementiert werden.“ | |
| Wir entschließen uns, selber zu schauen, ob es Milchglasfolie gibt. Ende | |
| Juni fahren wir nach Jänschwalde in die Niederlausitz. Den Besuch kündigen | |
| wir bei der Heimleitung nicht an, weil wir fürchten, dass die | |
| Milchglasfolie schnell verschwinden könnte. | |
| Wir parken anderthalb Kilometer entfernt, um vom Waldrand einen Blick auf | |
| die Fassade zu werfen. Die brütende Sonne scheint durch die Kiefernwipfel, | |
| hier und da liegen leere Flaschen auf dem trockenen Waldboden. | |
| Spaziergänger gibt es hier nicht, nur Jäger-Hochsitze und zugewachsene | |
| Wege. Im Umkreis befindet sich kaum etwas außer einem ehemaligen | |
| Militärflughafen und einer Tagebau-Marslandschaft. Wir klettern den kleinen | |
| Hang hinauf und sehen zwischen Tannen und Birken rote Dachziegel. Das ist | |
| das Heim. | |
| Wir sehen den beigen Putzbau vom Gruppentrakt eins und zwei. Obwohl wir | |
| keine 100 Meter vom Haus entfernt sind, herrscht Stille. Kein Kind ist am | |
| frühen Nachmittag draußen. Es ist, wie Elvis gesagt hat: Im ersten Stock | |
| sind vier Zimmerfenster verklebt. Drei je zur Hälfte, ein viertes komplett. | |
| Wir machen Fotos. | |
| ## Zugeklebte Fenster, matratzenloose Betten | |
| Das Heim hat eine Facebookseite. Wir lesen dort einen Chat aus dem Jahr | |
| 2016. Ehemalige befürworten rückblickend die Härte und sorgen sich, dass | |
| ihre Nachfolger zu viel Luxus haben, etwa eigene Handys. Eine junge Frau | |
| fragt dort die Heimleitung, „ob es immer noch so ist, dieses | |
| Aufnahmeverfahren mit dem Aufnahmezimmer wo man voll abgeschirmt von allem | |
| ist“. Darauf antwortet die Heimleitung, es gehe jetzt im Nachbarhaus | |
| „lockerer“ zu. „Aber es gibt immer noch Haus 1 und das Konzept hat sich | |
| dort nicht wesentlich verändert.“ | |
| Im Netz finden sich auch Hinweise auf ehemalige Jugendliche. Wir schreiben | |
| Sabine aus Sachsen an. Die 19-Jährige ist bereit, mit uns zu telefonieren. | |
| Sie sagt, sie wohnt heute alleine und hat mit der Jugendhilfe nichts mehr | |
| zu tun. Aufgeregt erzählt sie, wie sie mit 15 in das Heim kam: „Also, ich | |
| bin ins Zimmer rein, das Fenster war zugeklebt. Das Bett war leer. Keine | |
| Matratze drauf. Alles angeschraubt.“ Elvis kennt sie nicht. Sie wünsche | |
| keinem, dort reinzugehen. „Das ist ja wirklich schlimmer als Knast. Also | |
| vielleicht in Gruppe 2 würde ich jemanden reinschicken, aber nie in die | |
| Gruppe 1. Das ist wirklich Horror, das ist krank.“ | |
| Tagsüber habe sie auf dem angeschraubten Stuhl sitzen müssen. „Also, da tat | |
| schon mein Popo weh.“ Sehr lästig sei die Klopf-Regel. Ein Erzieher war | |
| besonders streng. „Ich hatte denen gesagt: ‚Ich will jetzt auf Toilette | |
| gehen.‘ Und da meinte der: ‚Nee, du gehst jetzt nicht auf Toilette.‘ Obwo… | |
| ich pissen musste. Und dann habe ich gesagt:,Soll ich hier auf den Boden | |
| pinkeln?' Und dann meinte der: ‚Nee. Aber du redest mit mir ordentlich.‘“ | |
| „Du darfst nie was Falsches sagen, sonst wirst du übelst bestraft“, | |
| erinnert sie. Zum Beispiel mit „Zimmeraufenthalt“. Auch Sabine berichtet, | |
| dass andere begrenzt wurden. Und sie erinnert sich, wie sie Chips | |
| verdiente. Welche Sätze sie auswendig lernen und aufsagen musste, um die | |
| begehrten Papiermünzen zu bekommen. Wir schicken Sabine das Foto mit den | |
| verklebten Fenstern. Sie malt weiße Kreise drauf und schickt es zurück, um | |
| uns zu zeigen, in welchem Zimmer sie war. Sie sagt, es gebe an der Seite | |
| noch mehr Zimmer mit Fensterfolie, insgesamt sechs oder sieben. | |
| Der Kontakt zu Sabine bricht wieder ab. Sie kommt nicht zu einem | |
| vereinbarten Treffen. Doch wir interviewen noch drei weitere Jugendliche, | |
| mit denen wir im Austausch bleiben. Janina zum Beispiel kam mit 15 nach | |
| Jänschwalde, weil sie aggressiv zu ihrer Mutter war und gelegentlich | |
| kiffte, wie sie sagt. „Meine Mama meinte nur zu mir, dass ich in eine | |
| Einrichtung komme. Und dass es so eine ist, hätte ich echt nicht gedacht“, | |
| sagt sie. „Die ersten vier Wochen war ich in diesem Zimmer, wo die Fenster | |
| abgeklebt sind.“ Wegen des angeschraubten Stuhls habe sie sich öfter auf | |
| den Boden gesetzt, denn auf dem Bett lag keine Matratze. „Man hat sich halt | |
| irgendwie wie in einer Geschlossenen gefühlt.“ In den vier Wochen allein im | |
| Zimmer ging es ihr „nicht gut. Gar nicht gut“. | |
| Martin ist 16 Jahre alt und war neun Monate da – ebenfalls zuerst in einem | |
| Zimmer mit Milchglas. Auch er bestätigt die abgeschlossenen Türen, die | |
| Fragerituale und dass er anfangs keine anderen Jugendlichen zu Gesicht | |
| bekam. Aus dem Fenster konnte er ebenfalls nicht rausschauen: „Man musste | |
| auf das Fensterbrett steigen, um drüber zu gucken“, sagt er. | |
| Er beschreibt auch, wie andere Jugendliche mit Handgriffen zu Boden | |
| gebracht wurden. „Der hat schon geweint, aber die Erzieher haben nicht | |
| aufgehört.“ Martin erinnert sich an vieles nicht ganz genau, aber als wir | |
| nach seinen „Verhaltenspunkten“ fragen, zitiert er problemlos aus dem Kopf: | |
| „Ich höre auf alle Anweisungen der Erzieher und erledige alle Aufgaben | |
| ordentlich und gewissenhaft.“ Warum er überhaupt dort war? Er habe viele | |
| Geschwister und habe sich zu Hause „nicht so benommen“. | |
| Lina hatte schon zwei andere „Jugend-WGs“ hinter sich, als sie nach | |
| Jänschwalde kam. Sie hatte positive Erwartungen, „aber dann, wo ich da | |
| hingekommen bin – Katastrophe“, erinnert sie. Zu den verklebten Scheiben | |
| wurde ihr gesagt, das sei, „damit die anderen einen nicht sehen“. In die | |
| Folie, berichtet sie, war ein kleines Loch gepult. Dadurch konnte sie Elvis | |
| im Hof sehen und hat ihm manchmal gewunken. | |
| Die Existenz dieser Folie, die dem optischen Eindruck nach von außen | |
| angeklebt ist, bestreitet selbst der zuständige Landkreis Spree-Neiße | |
| nicht, als wir danach fragen. Die Milchglasfolie bedecke die untere Hälfte | |
| der Sprossenfenster und diene der „Wahrung der Privat- und Intimsphäre“, | |
| antwortet die Büroleiterin Petra Rademacher im Auftrag des CDU-Landrats | |
| Harald Altekrüger. | |
| Das beträfe „das Aufnahmezimmer und den Sanitärbereich in den Gruppen“. | |
| Ausschließen, dass Jugendliche nicht rausschauen können, kann das Amt | |
| nicht. Auf die Frage, warum Jugendliche kleinteilig danach fragen müssen, | |
| ob sie aufs Klo gehen dürfen, antwortet die Büroleiterin: „Der Punkt | |
| Wertevermittlung ist in der Konzeption verankert. Das Konzept ist | |
| Bestandteil der Betriebserlaubnis.“ Eltern und Jugendamt müssten sich | |
| vorher „mit der Konzeption einverstanden erklären.“ | |
| Für Lina war der harte Stuhl ein Problem. Die Matratze gab es auch bei ihr | |
| erst abends. „Ich habe mich dann auf den Boden gelegt, weil es in den | |
| Zimmern so kalt war“, erinnert sie. „Und dann habe ich mich immer an die | |
| Heizung gekuschelt.“ Der Landkreis schreibt nur, die räumliche Ausstattung | |
| sei in der Konzeption verankert. Lina schaffte es nach einem halben Jahr | |
| runter in Gruppe 2. Auch dort hielt sie es nicht aus. Sie sei mehrfach mit | |
| Polizeigriff festgehalten worden. Sie habe geweint und gefleht, der | |
| Erzieher solle aufhören, und hinterher zwei Tage Schmerzen gehabt und das | |
| Gefühl, es sei etwas in der Schulter gebrochen. | |
| Der Landkreis schreibt zur Frage nach Polizeigriffen und Fixierungen auf | |
| dem Boden, solche „Handlungsstrategien“ und gegebenenfalls Betroffene, | |
| seien dem Jugendamt „nicht bekannt“. Das Jugendministerium, dem die | |
| Heimaufsicht unterliegt, prüft die Vorwürfe noch. Grundsätzlich könnte es | |
| nötig sein, eine Gefahrensituation auch mit Polizeigriff abzuwenden. Hätte | |
| diese Handlung „Auswirkung über den Augenblick hinaus, wäre das in jedem | |
| Fall zu melden“. | |
| ## Heimkind im Hungerstreik | |
| Irgendwann lief Lina weg. Sie tat so, als wolle sie draußen Wäsche | |
| aufhängen, schnappte sich heimlich ihr Portemonnaie und lief durch den Wald | |
| zum nächsten Bahnhof: Jänschwalde Ost. „Da sind die mit dem Auto | |
| hinterhergefahren, haben mich eingesackt.“ Und dann musste sie wieder von | |
| vorn anfangen. „Auch wieder diese vier Wochen. Und da habe ich mich so | |
| geweigert. Ich habe zwei Wochen nichts getrunken und gegessen. So weit war | |
| ich da.“ Lina bezweifelt, dass die positiven Kommentare auf Facebook | |
| authentisch sind. „Wer würde positiv darüber urteilen, wenn man | |
| eingeschlossen ist? Warum hauen denn dort so viele ab, wenn es angeblich so | |
| gut dort sein soll?“ Und dann nennt sie aus dem Kopf acht Namen von | |
| Jugendlichen, die dort weggelaufen seien. | |
| Das Ministerium schreibt, wenn Jugendliche weglaufen, muss ein Heim dies | |
| melden. Man spreche nicht von „Flucht“, die würden sich „entziehen“. W… | |
| wollten auch der Einrichtung „IP Neustart“ Fragen stellen. Wir fragen, ob | |
| wir vorbeikommen dürfen. Als wir eine Absage bekommen, befragen wir den | |
| Träger der Einrichtung, ASB Lübben, schriftlich zu den geschilderten | |
| Sachverhalten. Wir geben drei Tage Zeit für die Beantwortung. | |
| Der Geschäftsführer Sven Meier antwortet uns nur allgemein: Man erkläre | |
| jedem Jugendamt und Sorgeberechtigten sehr genau die dortige Arbeit. Und | |
| diese träfen die Entscheidung, „ob unser Angebot die passende Hilfeform | |
| darstellt“. Unsere tendenziösen Fragen zusammen mit der Fristsetzung hätten | |
| ihn sehr befremdet. Auf die einzelnen Fragen geht er nicht ein, bietet | |
| dafür nun aber doch einen Vor-Ort-Termin an, allerdings erst zwei Monate | |
| später, aufgrund der „Urlaubszeit der Leitung“. | |
| Der Landkreis Spree-Neiße bringt selber Jugendliche bei „IP Neustart“ unter | |
| und schreibt, Beschwerden seien dem Jugendamt nicht bekannt. Die Mehrzahl | |
| der Kinder und Jugendlichen hätte vorpsychiatrische Erfahrungen, sie seien | |
| teilweise traumatisiert und erforderten eine „engmaschige pädagogische | |
| beziehungsweise therapeutische Betreuung“. Die Maßnahmen seien im Konzept | |
| beschrieben und würden vorab den Sorgeberechtigten und den Kindern | |
| transparent dargestellt. In der Anfangsphase gebe es eine | |
| Eins-zu-eins-Betreuung. | |
| Tilman Lutz, Professor für Soziale Arbeit an der evangelischen Hochschule | |
| Hamburg, findet die Praxis im Heim untragbar: „Das, was die jungen Menschen | |
| schildern, ist Gewalt. Vom anfänglichen Freiheitsentzug über die | |
| degradierenden Fragerituale bis zu den körperlichen Übergriffen. Das Recht | |
| auf gewaltfreie Erziehung gilt auch in Einrichtungen.“ Dies als | |
| Wertevermittlung zu bezeichnen, sei „zynisch und ignoriert die Rechte der | |
| Kinder.“ Das Konzept sei auf Dressur ausgelegt und nicht auf Pädagogik. | |
| Erziehung sollte etwas mit Aushandlung zwischen Subjekten zu tun haben – | |
| hier würden die Jugendlichen zu Objekten gemacht, die verändert werden | |
| müssen. „Das widerspricht Würde und Kinderrechten“, sagt Lutz. Die | |
| Aufsichtsbehörden müssten sich darum kümmern, dass die Rechte von Kindern | |
| gewahrt werden. | |
| Lutz forscht seit fünf Jahren zur Wirkung von sogenannten Stufenmodellen | |
| und verweist auf den Deutschen Ethikrat. Der zweifelt schon länger an | |
| Punktesystemen und Phasenkonzepten, wie sie in Jänschwalde praktiziert | |
| werden. In seinen Empfehlungen zu Zwang in Sorgebeziehungen aus dem Herbst | |
| 2018 schreibt er: „Intensiv-pädagogische Konzepte sind nicht zu | |
| rechtfertigen“. Denn sie würden aufseiten des Kindes oder Jugendlichen „zu | |
| Ohnmachtserfahrungen und zu äußerer Anpassung aus Resignation führen, | |
| sodass die eigentlich verfolgten wohltätigen Absichten konterkariert | |
| werden“. | |
| Ähnlich schätzt es auch Heuser-Collier ein, Direktorin der Klinik und | |
| Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner | |
| Charité. Sie sagt: „Horror. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es eine | |
| solche Einrichtung gibt.“ Bei den Jugendlichen könnten solche Maßnahmen | |
| dazu führen, dass sie sich noch mehr verhärten und sich das Gefühl von „ich | |
| bin ja eh allen egal“ verfestige. „Keine Ahnung, wie da die | |
| Erfolgsaussichten sein sollen.“ Diese Methode jedenfalls könne nicht von | |
| Erfolg gekrönt sein, weil den Jugendlichen beigebracht werde: Es gibt | |
| niemanden, der sich wirklich für sie interessiert. | |
| Das Ministerium, welches das Konzept erlaubt hat, antwortet | |
| [4][schmallippig] auf unsere Fragen, zeigt sich aber alarmiert. Es wäre | |
| hilfreich, „wenn sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen direkt an uns | |
| wenden“, sagt Sprecherin Antje Grabley. Die Hinweise würden vertraulich | |
| behandelt. Die Staatsanwaltschaft Cottbus bestätigt, dass ein | |
| „Prüfverfahren“ läuft – aber Näheres oder genaue Delikte seien noch ni… | |
| bekannt. Zumindest einer der Jugendlichen, mit denen die taz sprach, | |
| erstattete mittlerweile Anzeige bei der Polizei. | |
| 23 Sep 2019 | |
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| Kaija Kutter | |
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