# taz.de -- Kinderbetreuung in der DDR: „Alle haben funktioniert“ | |
> Mit sieben Monaten kommt unser Autor in eine Wochenkrippe: totale | |
> staatliche Betreuung rund um die Uhr. Seine Suche nach Erinnerung ist | |
> schmerzhaft. | |
Bild: Kinder in einer Betriebswochenkrippe im VEB Stahlgießerei Karl-Marx-Stad… | |
Was ist deine erste Erinnerung? Wie alt warst du da? Woran erinnerst du | |
dich? Ich würde mich gern an meine frühe Kindheit erinnern. Diese Zeit ist | |
wie bei allen in meinem Körper abgespeichert. Doch den wenigsten Menschen | |
gelingt es, sich diese Erinnerungen bewusst zu machen. Meine frühesten | |
Bilder setzen mit sechs Jahren ein. | |
Ich wurde 1971 in Leipzig geboren und war in einer Wochenkrippe. Am | |
Montagmorgen wurde ich von meinen Eltern abgegeben und am Freitagnachmittag | |
von dort wieder abgeholt. Der bezahlte Mutterschutz endete in der DDR | |
damals bereits nach sechs Wochen. Alle Wochenkinder wollen sich gern an | |
ihre Zeit in der Wochenkrippe erinnern und können es meist nicht. Mit | |
Hypnose versuchen es manche. Andere begeben sich auf die Suche, sie | |
befragen ehemalige Erzieher und ihre Eltern. | |
Ich frage meine Mutter: „Wenn du da wieder arbeiten gehen musstest, dann | |
musste ich ja schon abgestillt sein?“ – „Ich konnte dich sowieso nur zwei | |
Wochen lang stillen. Ich war zu aufgeregt, wegen des Streits mit deinem | |
Vater.“ | |
Ich mache meinen Eltern keine Vorwürfe. Trotzdem bin ich erschrocken. Ein | |
Jahr lang zu stillen wird heute empfohlen. Die Ersatzmilch kann mit | |
Muttermilch nicht mithalten. Das galt vor fünfzig Jahren sicher genauso. | |
Ich lese, dass in den Wochenkrippen auch Kuhmilch gegeben wurde, dass | |
Kinder daran starben. | |
Seit ich selbst die Geburten meiner zwei Kinder miterlebt habe, kann ich | |
mir auch schwer vorstellen, wie man sechs Wochen danach schon wieder | |
arbeiten gehen kann. Aber für den „Aufbau des Sozialismus“ brauchte die SED | |
jede Hand. Deswegen galt die Arbeitspflicht auch für Frauen. Nachdem ich | |
monatelang von meiner Tante und meiner Oma betreut wurde, komme ich mit | |
sieben Monaten in die Wochenkrippe. | |
„Das ist mir sehr schwergefallen“, sagt meine Mutter heute. „Aber ich hat… | |
keine Wahl, ich habe einfach keinen Platz in einer Tageskrippe gefunden. | |
Damals hat man anders über Erziehung gedacht und das als nicht so schlimm | |
erachtet.“ | |
Sie wird immer ganz aufgeregt, wenn ich danach frage. Manchmal kämpft sie | |
gegen die Tränen an oder bekommt hohen Blutdruck. Einmal war für ein Jahr | |
Funkstille zwischen uns. „Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich will nur | |
verstehen“, schreibe ich einmal. „Ich rechtfertige mich gar nicht“, kommt | |
es zurück. | |
Schade. Lange hoffte ich heimlich auf eine Entschuldigung. Meine Mutter ist | |
liebevoll. Wir haben ein gutes Verhältnis. Trotzdem kann ich ihre Zuneigung | |
schwer annehmen. Sie hat verpasst, wie ich laufen lernte, meine ersten | |
Worte gesprochen und meine ersten Zähne bekommen habe. | |
Und dann rechtfertigt sich meine Mutter doch. Zumindest verstehe ich es so. | |
Sie schenkt mir zwei selbstgemachte Bücher mit Fotos, Briefen, Zeichnungen, | |
Tagebucheinträgen und Dokumenten. Ich soll nachfühlen, wie es ihr damals | |
ging. Das gelingt. | |
## Ein Hausmeister allein mit neunzig Kindern | |
Bis ich entdecke: Sie ist in der Zeit zweimal mit einer Freundin eine Woche | |
in den Urlaub gefahren. Verbringt auch Wochenenden ohne mich. Ich kann | |
ihren Lebenshunger verstehen. „Ich war doch noch jung“, hat sie oft gesagt. | |
„Ich habe einen neuen Partner gesucht.“ Trotzdem bin ich enttäuscht. Nicht | |
einmal alle Wochenenden gehörten uns. | |
Vor einigen Tagen habe ich meiner Mutter erzählt, dass ich mich im Verein | |
Wochenkinder e. V. engagiere. Danach schicke ich ihr Links mit Artikeln und | |
zu einem TV-Beitrag. Sie sieht sie sich an und schreibt: „Es tut mir leid | |
für uns beide. Ich war hilflos und konnte nur all meine Liebe über dich | |
ausschütten, wenn du bei mir warst. Ich verstehe jetzt besser, dass das | |
Thema für dich wichtig ist. Besonders erschüttert hat mich die Nennung von | |
Fixierungen. Fühl dich umarmt.“ | |
Die Kinder wurden nachts mit Lederriemen in den Betten festgebunden. Dabei | |
gab es in den sechziger Jahren einen Todesfall. Danach wurden Windeln oder | |
Decken verwendet, die Kinder fest eingewickelt. Haben die Erzieherinnen uns | |
abends noch eine Geschichte vorgelesen? Ein Lied vorgesungen? Ein Lied für | |
zwanzig Kinder, die nebeneinander in ihren Betten lagen? Oder war dafür | |
keine Zeit? | |
„Abends haben wir die Kinder in die Betten gelegt, dann kam die Nachtwache | |
und wir haben die Türen offen gelassen. Aber die Kinder haben auch gar | |
nicht geweint. Erst heute weiß ich, wie sonderbar das ist. Es wäre ja auch | |
niemand gekommen. Alle haben funktioniert“, erinnert sich Bärbel Benkert, | |
eine Erzieherin in einer Wochenkrippe in Gotha. | |
Kleine Kinder wachen nachts bis zu achtmal auf. Dann wollen sie getröstet | |
werden. In meiner Kindheit dachte man anders. Das Kind soll lernen | |
durchzuschlafen. Auf keinen Fall dürfe man hingehen. Also hat man die | |
Kinder schreien lassen. | |
In der Wochenkrippe wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, sich um alle zu | |
kümmern. Eine Nachtwache war für bis zu vierzig Kinder zuständig. Im Fall | |
einer Dresdner Wochenkrippe war nachts nur der Hausmeister da – allein mit | |
neunzig Kindern. | |
Einige Kinderpsychologen sagen heute: Säuglinge haben in den Momenten, in | |
denen keiner kommt, Todesangst. Mir fällt es schwer, das auf mich zu | |
projizieren. Ich möchte kein Opfer sein. Und dann zucke ich zusammen, wenn | |
eine Therapeutin in einem Vortrag sagt: „Ich halte das für eine | |
Menschenrechtsverletzung, sein Kind in eine Wochenkrippe zu geben.“ | |
Und doch gibt es sie schon wieder: [1][die 24-Stunden-Kita]. In Hamburg, | |
Berlin oder Schwerin. Der Ausbau von 300 Einrichtungen wurde unter | |
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig mit 100 Millionen Euro gefördert. | |
Natürlich sind die Einrichtungen von heute keinesfalls mit denen von damals | |
vergleichbar. Für bedenklich halte ich sie trotzdem. Spreche ich das aus, | |
heißt es oft: Du bist wohl gegen Gleichberechtigung? | |
Mindestens 200.000 Kinder gingen in der DDR in eine Wochenkrippe. Die erste | |
eröffnete 1950, die letzte schloss 1992. Da die Wochenkrippen planmäßig | |
überbelegt und viele Kinder nur für einige Monate dort waren, könnte ihre | |
Zahl auch bei bis zu 600.000 liegen. Die Betroffenen sind heute zwischen 32 | |
und 74 Jahren alt. | |
## „Fremde“ durften nicht hinein, auch nicht die Eltern | |
Ich kann mich an meine Zeit in der Wochenkrippe nicht erinnern. Andere auch | |
nicht. „Fremde“ durften die Einrichtung nicht betreten, auch die Eltern | |
nicht. Deswegen haben meine Eltern nie gesehen, wo und wie ich dort | |
geschlafen habe, gegessen oder gespielt. Wieder andere wollen sich ungern | |
erinnern oder nur sehr selektiv. Da ich meine Erzieherinnen nicht kenne, | |
kann ich sie nicht fragen. Wenn sie überhaupt noch leben. Ich bin jetzt 52 | |
Jahre alt. | |
Ich stoße auf Bärbel Benkert. Sie hat in Gotha zwischen 1978 und 1983 | |
Wochenkinder betreut. Dann hat sie gekündigt. „Alle Erzieherinnen haben | |
sich bemüht, viele auch liebevoll. Aber es blieb eine Abfertigung, weil | |
jede bis zu zehn Kinder hatte. Wir hatten einen starren Tagesplan: 6 Uhr | |
Flasche, 6.45 Uhr Wickeln, 8.15 Uhr Schlafen, 9.15 Uhr Spielen, 10 Uhr | |
Brei, 10.45 Uhr Spielen, 11.15 Schlaf, 13 Uhr Wickeln usw. Mal ein Kind auf | |
den Schoß nehmen und Hoppe-hoppe-Reiter machen, dafür blieb keine Zeit. | |
Individuelle Geborgenheit war auch gar nicht Teil der Ausbildung. Für mich | |
war die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sehr schmerzhaft.“ | |
Benkert ist eine Ausnahme. Die meisten Erzieherinnen blicken ganz anders | |
zurück: Den Kindern habe es nicht geschadet, heißt es, aus ihnen sei doch | |
was geworden. Und wie war meine Erzieherin? War ich ein Lieblingskind, das | |
bevorzugt behandelt wurde und auch mal auf ihrem Schoß sitzen durfte? Oder | |
wurde ich in all den fünfzehn Monaten nie gestreichelt? | |
Manche Erzieherinnen sollen sehr liebevoll gewesen sein und sich rührend | |
gekümmert haben. Sie haben auch mal ein Baby abends mit nach Hause | |
genommen. Andere waren genervt, haben Kinder geschlagen. Manche haben den | |
Kindern die Nase zugehalten und ihnen dann den Löffel mit dem Brei in den | |
Mund geschoben. Das ging schneller. Manchmal kamen Kinder am Freitag auch | |
mit einem wunden Po nach Hause. | |
Ich lese das alles in den Sachbüchern, die frisch erschienen sind. | |
[2][„Wochenkinder in der DDR“] von Heike Liebsch und den Sammelband | |
„Wochenkrippen und Säuglingsheime“ aus dem Psychosozial-Verlag. Ich | |
verschlinge alles zu dem Thema, was ich in die Finger bekommen kann. | |
Mehrere Studien aus DDR-Zeit wiesen nach, dass Wochenkrippenkinder dreimal | |
so häufig krank waren wie zu Hause betreute Kinder. Auch motorisch und | |
sprachlich entwickelten sie sich deutlich langsamer als Tageskrippenkinder. | |
Nur Heimkindern erging es schlechter. Doch diese Studien blieben unter | |
Verschluss. Sie passten nicht ins offizielle Bild der optimalen staatlichen | |
Betreuung. | |
In meinem Entwicklungsbogen vermerkte eine Frau Habicht: „Das Trinken aus | |
der Flasche muss noch geübt werden.“ Im Entwicklungsbogen benoteten die | |
Erzieher nach festen Kriterien das Kind. Er war für die Eltern gedacht. Als | |
Datum steht da der 19. 12. 1972. Einen Tag später werde ich ein Jahr alt. | |
Der 20. war ein Mittwoch. War ich da in der Wochenkrippe? | |
Am 19. 12. 1973 notiert eine Frau Hain: „Alexander muss es noch lernen, | |
auch beim Mittagsschlaf sauber zu bleiben. Er ist auch auf dem Gebiet der | |
Spieltätigkeit mit didaktischem Material ungeschickt. Auch beim Singen muss | |
Alexander noch mehr Interesse zeigen.“ | |
Einen Tag später feiere ich meinen zweiten Geburtstag. Nur wie? Der 20. war | |
ein Donnerstag. Ich frage bei meiner Mutter nach: „War ich zum Geburtstag | |
zu Hause, mitten in der Woche?“ Sie weiß es nicht mehr. | |
Dass ich in eine Wochenkrippe ging, war kein Geheimnis in der Familie. Mir | |
war es lange Zeit auch nicht wichtig. Bis ich mit 24 Jahren das erste Mal | |
Vater wurde. Erst da begriff ich, was es bedeutet, seine Eltern nur am | |
Wochenende zu sehen. Seitdem hat das Thema in mir gearbeitet. Aber erst vor | |
zwei Jahren ist mir klar geworden, dass es noch immer eine Bedeutung hat. | |
Damit bin ich nicht allein. Viele Wochenkinder holt die Vergangenheit erst | |
Jahrzehnte später ein. Ich suche mir eine Selbsthilfegruppe. In meinem | |
Wohnort gibt es keine. Also fahre ich dafür ab und zu nach Leipzig. Oder | |
Potsdam. | |
Noch nie habe ich mich in einer Selbsthilfegruppe angemeldet. Nun sitze ich | |
zwischen lauter fremden Menschen. Und fühle mich zu meiner Überraschung | |
verstanden. Und geborgen. | |
Aus den Treffen weiß ich: Viele haben nur durch Zufall erfahren, dass sie | |
in der Wochenkrippe waren, ihre Eltern haben es ihnen verschwiegen. Andere | |
kommen mit ihren Eltern darüber nur schwer ins Gespräch. Die Eltern | |
reagieren ablehnend, manchmal wird geschrien. Eine dritte, kleine Gruppe | |
berichtet von Entschuldigungen und Versöhnungen. Das fühle sich kurz gut | |
an, sei aber keine endgültige Heilung. | |
## „Das war damals ganz normal“ | |
Ein Treffen der Selbsthilfegruppe, dreizehn Betroffene wollen mit Regina | |
sprechen. Sie hat fünfzehn Jahre lang als Ärztin einer Wochenkrippe | |
Kleinkinder betreut. Ihre Botschaft: „In die Wochenkrippe zu gehen war | |
damals normal. Die Erzieherinnen haben sich alle ganz liebevoll um euch | |
gekümmert.“ Die ehemaligen Wochenkinder kneten ihre Hände, sie rutschen auf | |
ihren Stühlen hin und her, sie blicken irritiert. Und dann stellen sie | |
Fragen. | |
„Hatten die Kinder auch einmal blaue Flecken?“ | |
„Nein.“ | |
„Haben Sie Isolierzimmer für kranke Kinder gesehen?“ | |
„Nein.“ | |
„Haben die Erzieher Beruhigungsmittel für die Nacht beantragt?“ | |
„Also vielleicht im Ausnahmefall, wenn ein Kind mal sehr unruhig war.“ | |
Regina ist heute 83 Jahre alt. Über die Fragen ist sie überrascht. Sie | |
sagt: „Ich wehre mich dagegen, wenn die Wochenkrippen heute als Gefängnis | |
bezeichnet werden.“ | |
„Aber woher kommt diese Verteidigung? Niemand hat hier von einem Gefängnis | |
gesprochen?“ | |
„Für eure Mütter war das bestimmt auch nicht leicht, die haben bestimmt | |
viel geweint.“ Regina nimmt einen Schluck Tee. | |
Ich frage: „Sie selbst haben erzählt, dass Sie Ihren Sohn ‚zum Glück‘ n… | |
in die Wochenkrippe geben mussten, sondern bei den Schwiegereltern | |
unterbringen konnten. Warum, wenn es da so gut war?“ | |
„Na, weil es immer besser ist, wenn das Kind bei der Oma bleibt. Das weiß | |
doch jeder. Die Erzieher können sich noch so viel Mühe geben, die Mutter | |
können sie nicht ersetzen.“ | |
Seit fünfzig Jahren ist die [3][Bindungstheorie] Konsens in der | |
Psychologie. Sie besagt, dass eine sichere Bindung in der Kindheit zu einer | |
gesunden emotionalen Entwicklung und stabilen Beziehungen im | |
Erwachsenenalter führt. Entscheidend sind die ersten zwölf Monate. Wird in | |
dieser Zeit das Urvertrauen gestört, kann es später zu emotionalen und | |
sozialen Problemen kommen. Erst mit zwei Jahren beginnen Kinder, sich | |
zaghaft von ihren Eltern zu lösen. | |
Seitdem gilt in der Bundesrepublik der Grundsatz, selbst eine schlechte | |
Familie ist besser als ein gutes Heim. Ende der sechziger Jahre wurden alle | |
Säuglingsheime geschlossen. Wem es zu Hause zu schlecht erging, kam in eine | |
Pflegefamilie oder wurde adoptiert. | |
## Sozialismus und Kollektiv | |
Da sie eher eine individuelle statt eine kollektive Perspektive | |
propagierte, galt die Bindungstheorie in der DDR als reaktionär, gerichtet | |
gegen die Emanzipation der Frau. Sie war das Gegenteil des sozialistischen | |
Konzepts. | |
Doch auch in der DDR wussten Fachleute um die Folgen der Trennung der | |
Kinder von ihren Eltern. Die Aufnahme in die Wochenkrippe wurde damals von | |
Forschern als „physischer und psychischer Schock“ beschrieben. Der | |
Fachbegriff lautete „Anpassungsstörung“, schreibt Florian von Rosenberg in | |
seinem Buch „Die beschädigte Kindheit“. | |
Die Kinderpsychiaterin Agathe Israel beschäftigt sich seit Langem mit dem | |
Thema. Sie meint: „Für das kindliche Empfinden sind Trennungen, die sie | |
zeitlich nicht überblicken können bzw. deren Ende für sie nicht absehbar | |
ist, faktisch ein Abschied für immer.“ | |
In Grünheide bei Berlin treffen sich auf einem Freizeitgelände am | |
Störitzsee fünfzig Wochenkinder. Es ist das erste Mal, dass sie drei Tage | |
lang zusammenkommen. Am zweiten Abend sitzen sie alle um ein Lagerfeuer | |
herum. Das Brennholz haben sie selbst mitgebracht – aus Karlsruhe, Halle, | |
Greifswald. Der Mann, dem die Stimme versagte, als er sich an der | |
Diskussion beteiligen wollte, spielt Gitarre. Drei Frauen singen dazu den | |
melancholischen Song der Leipziger Band „Karussell“ von 1987: „[4][Als ich | |
fortging], war die Straße steil – kehr wieder um. Nimm an ihrem Kummer | |
teil, mach sie heil.“ | |
Am nächsten Tag stellt Stefanie Knorr die Ergebnisse einer Studie der | |
Universität Rostock vor. Es ist die erste Studie dieser Art. Ihre | |
Ergebnisse: Nur 27 Prozent der Wochenkinder haben in ihrem Leben | |
sicher-autonome Bindungen aufbauen können. In der gesunden Kontrollgruppe | |
sind es 58 Prozent. 92 Prozent der Wochenkinder entwickeln psychische | |
Störungen, vor allem soziale Phobien, Schlafstörungen und posttraumatische | |
Belastungsstörungen. 59 Prozent sind es in der Kontrollgruppe. | |
295 Wochenkinder wurden für die Studie befragt. Sie haben sich freiwillig | |
gemeldet. „Was uns überrascht hat, war wie oft Traumata weitergegeben | |
werden. Uns wurde berichtet, dass viele Eltern von Kriegserlebnissen schwer | |
gezeichnet waren. Dies könnte später ein Grund für eine gestörte | |
Eltern-Kind-Beziehung sein“, sagt Stefanie Knorr. | |
Das könnte bei mir passen: Meine Mutter ist Anfang 1945 noch kein Jahr alt, | |
da muss meine Oma mit ihr aus Schneidemühl in Westpreußen, dem heutigen | |
Piła in Großpolen, fliehen. Der Zug wird von Tieffliegern beschossen, es | |
ist kalt, die Trinkflasche geht kaputt. Für 275 Kilometer brauchen sie | |
Tage, sie stranden im zerschossenen Leipzig, wo sie niemanden kennen. | |
Meine Oma hat oft über die Wochenkrippe gesprochen. Sie war eine liebevolle | |
Bilderbuch-Oma. Sie ist seit zehn Jahren tot. Bleiben meine Eltern. „Ach, | |
gehst du jetzt wieder zu dieser Selbsthilfe?“ sagt eines Tages mein Vater. | |
„Ja, und warum rollst du da mit den Augen?“ | |
„Na ja, da helft ihr euch dann alle selbst, wie schwer ihr es hattet.“ | |
Mein Vater ist 82 Jahre alt. Seine Kindheit hat er zwischen Trümmern mit | |
Hunger und Schlägen verbracht. | |
„Genau. Es tut mir gut. Und wenn ich deine Meinung dazu wissen will, frage | |
ich“, gebe ich zurück. | |
Es gibt bei ihm aber auch Momente von Verständnis: „Ich habe dich immer mit | |
dem Auto hingefahren. Deine Mutter hatte ja keins und es war ein weiter | |
Weg. Wenn wir dann um eine bestimmte Ecke gebogen sind, hast du schon | |
angefangen zu weinen. Da waren wir aber noch ein ganzes Stück von der | |
Wochenkrippe entfernt. Dein Schreien hat dann nicht mehr aufgehört. Das war | |
so eine Villa in Leipzig-Leutzsch.“ | |
Ich sehe sofort nach. Auf [5][wochenkinder.de], der Webseite des Vereins, | |
sind viele Wochenkrippen in einer interaktiven Karte eingetragen. Da ist | |
sie: Leipzig, Otto-Schmiedt-Straße 32. Auf Google Maps sehe ich: Das Haus | |
steht noch. | |
## Und was ist mit den Vätern? | |
Tage später fahre ich hin. Die Villa steht in einem noblen Viertel, ist | |
renoviert. Ich mache Fotos, erkenne aber nichts wieder. Ein Mann schließt | |
sein Fahrrad an.„Wohnen Sie hier?“, frage ich. | |
„Ja, schon.“ – „Darf ich mir mal den Flur ansehen?“ | |
Er lässt mich ein. Und sofort erkenne ich alles wieder. Die dunkelbraunen | |
Holzvertäfelungen, die Treppe, das große Fenster mit Buntglas und den | |
riesigen Kronleuchter. Oder bilde ich mir das etwa nur ein? Ich kann mich | |
doch gar nicht erinnern. Aber es kribbelt plötzlich wie wild in meiner | |
Hand. | |
„Das Haus gehört jetzt Kai Pflaume“, sagt der Mann, als ob das irgendwas | |
zur Sache täte. | |
„So, ich muss dann mal wieder, ich habe wenig Zeit“, sagt er und schiebt | |
mich zum Ausgang. | |
Zurück bei meinem Vater: „Und wenn wir dich dann am Freitag abgeholt haben, | |
hast du den ganzen Abend nicht mehr gesprochen. Zu Hause bist du die Zimmer | |
abgelaufen, von Ecke zu Ecke, als ob du alles vermessen wolltest, um es | |
wiederzuerkennen. Gesprochen hast du dann erst ab Sonnabend früh.“ | |
Ich traue mich nicht, die naheliegende Frage zu stellen: Warum hast du dich | |
nicht gekümmert? Du hast gut verdient. Du hättest meine Mutter heiraten | |
können und sie hätte zu Hause bleiben können. Ich will ihn nicht in | |
Bedrängnis bringen. Er hat Krebs. Wer weiß, wie lange wir noch eine schöne | |
Zeit verbringen können. Von meiner Mutter weiß ich: Als sie schwanger war, | |
ging eines Tages eine andere junge Frau bei meinem Vater zu Hause ans | |
Telefon. | |
In einer Diskussion mit anderen Wochenkindern sage ich später: „Mich stört | |
die Verengung auf die Mütter. Immer müssen sie sich den unangenehmen Fragen | |
ihrer Kinder stellen. Und die Väter machen sich einen schlanken Fuß. Wenn | |
mehr Väter damals Verantwortung übernommen hätten, hätte es weniger | |
Wochenkinder gegeben.“ | |
Wir hatten den Film „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ gesehen. Ein | |
Mutter-Kind-Drama. Eine knappe Stunde in Schwarz-Weiß. Der Vater taucht nur | |
für Sekunden auf einem alten Foto auf. Und von hinten aufgenommen, wie er | |
mit dem Kind an der Hand einen Flur entlangläuft. | |
Wenn Mutti früh zur Arbeit geht. Ein Kinderlied. Jeder in der DDR kannte | |
es: | |
Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus. Ich binde eine | |
Schürze um und feg ’ die Stube aus. | |
Die Regisseurin Amina Gusner ist selbst ein Wochenkind. Sie sagt in ihrem | |
Grußwort zum Treffen: „Ich wusste immer, dass ich in einem Wochenheim war, | |
hatte das aber nie zum Thema gemacht. In der Pandemie wurde mir bewusst: Es | |
ist eines. Ich habe recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen. Sogar mein | |
damaliger Freund und meine Schwester waren in Wochenheimen, was ich aber | |
gar nicht wusste. Ich wollte wissen: Was hat das mit uns gemacht, das ist | |
ja eine Form der Entwurzelung.“ | |
Dann nennt jeder seine Lieblingsszene aus dem Film. Manche mit stockender | |
Stimme und feuchten Augen. Ich sage: „Die zwei Sequenzen, in der sich die | |
Tochter kurz in Nahaufnahme stumm selbst streichelt. Denn darum ging es: | |
fehlender Körperkontakt.“ | |
29 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/reden-und-interviews/manuela-schwesi… | |
[2] https://psychosozial-verlag.de/programm/2000/2110/3259-detail | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Als_ich_fortging | |
[5] https://www.wochenkinder.de/ | |
## AUTOREN | |
Alexander Teske | |
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