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# taz.de -- Kinderbetreuung in der DDR: „Alle haben funktioniert“
> Mit sieben Monaten kommt unser Autor in eine Wochenkrippe: totale
> staatliche Betreuung rund um die Uhr. Seine Suche nach Erinnerung ist
> schmerzhaft.
Bild: Kinder in einer Betriebswochenkrippe im VEB Stahlgießerei Karl-Marx-Stad…
Was ist deine erste Erinnerung? Wie alt warst du da? Woran erinnerst du
dich? Ich würde mich gern an meine frühe Kindheit erinnern. Diese Zeit ist
wie bei allen in meinem Körper abgespeichert. Doch den wenigsten Menschen
gelingt es, sich diese Erinnerungen bewusst zu machen. Meine frühesten
Bilder setzen mit sechs Jahren ein.
Ich wurde 1971 in Leipzig geboren und war in einer Wochenkrippe. Am
Montagmorgen wurde ich von meinen Eltern abgegeben und am Freitagnachmittag
von dort wieder abgeholt. Der bezahlte Mutterschutz endete in der DDR
damals bereits nach sechs Wochen. Alle Wochenkinder wollen sich gern an
ihre Zeit in der Wochenkrippe erinnern und können es meist nicht. Mit
Hypnose versuchen es manche. Andere begeben sich auf die Suche, sie
befragen ehemalige Erzieher und ihre Eltern.
Ich frage meine Mutter: „Wenn du da wieder arbeiten gehen musstest, dann
musste ich ja schon abgestillt sein?“ – „Ich konnte dich sowieso nur zwei
Wochen lang stillen. Ich war zu aufgeregt, wegen des Streits mit deinem
Vater.“
Ich mache meinen Eltern keine Vorwürfe. Trotzdem bin ich erschrocken. Ein
Jahr lang zu stillen wird heute empfohlen. Die Ersatzmilch kann mit
Muttermilch nicht mithalten. Das galt vor fünfzig Jahren sicher genauso.
Ich lese, dass in den Wochenkrippen auch Kuhmilch gegeben wurde, dass
Kinder daran starben.
Seit ich selbst die Geburten meiner zwei Kinder miterlebt habe, kann ich
mir auch schwer vorstellen, wie man sechs Wochen danach schon wieder
arbeiten gehen kann. Aber für den „Aufbau des Sozialismus“ brauchte die SED
jede Hand. Deswegen galt die Arbeitspflicht auch für Frauen. Nachdem ich
monatelang von meiner Tante und meiner Oma betreut wurde, komme ich mit
sieben Monaten in die Wochenkrippe.
„Das ist mir sehr schwergefallen“, sagt meine Mutter heute. „Aber ich hat…
keine Wahl, ich habe einfach keinen Platz in einer Tageskrippe gefunden.
Damals hat man anders über Erziehung gedacht und das als nicht so schlimm
erachtet.“
Sie wird immer ganz aufgeregt, wenn ich danach frage. Manchmal kämpft sie
gegen die Tränen an oder bekommt hohen Blutdruck. Einmal war für ein Jahr
Funkstille zwischen uns. „Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich will nur
verstehen“, schreibe ich einmal. „Ich rechtfertige mich gar nicht“, kommt
es zurück.
Schade. Lange hoffte ich heimlich auf eine Entschuldigung. Meine Mutter ist
liebevoll. Wir haben ein gutes Verhältnis. Trotzdem kann ich ihre Zuneigung
schwer annehmen. Sie hat verpasst, wie ich laufen lernte, meine ersten
Worte gesprochen und meine ersten Zähne bekommen habe.
Und dann rechtfertigt sich meine Mutter doch. Zumindest verstehe ich es so.
Sie schenkt mir zwei selbstgemachte Bücher mit Fotos, Briefen, Zeichnungen,
Tagebucheinträgen und Dokumenten. Ich soll nachfühlen, wie es ihr damals
ging. Das gelingt.
## Ein Hausmeister allein mit neunzig Kindern
Bis ich entdecke: Sie ist in der Zeit zweimal mit einer Freundin eine Woche
in den Urlaub gefahren. Verbringt auch Wochenenden ohne mich. Ich kann
ihren Lebenshunger verstehen. „Ich war doch noch jung“, hat sie oft gesagt.
„Ich habe einen neuen Partner gesucht.“ Trotzdem bin ich enttäuscht. Nicht
einmal alle Wochenenden gehörten uns.
Vor einigen Tagen habe ich meiner Mutter erzählt, dass ich mich im Verein
Wochenkinder e. V. engagiere. Danach schicke ich ihr Links mit Artikeln und
zu einem TV-Beitrag. Sie sieht sie sich an und schreibt: „Es tut mir leid
für uns beide. Ich war hilflos und konnte nur all meine Liebe über dich
ausschütten, wenn du bei mir warst. Ich verstehe jetzt besser, dass das
Thema für dich wichtig ist. Besonders erschüttert hat mich die Nennung von
Fixierungen. Fühl dich umarmt.“
Die Kinder wurden nachts mit Lederriemen in den Betten festgebunden. Dabei
gab es in den sechziger Jahren einen Todesfall. Danach wurden Windeln oder
Decken verwendet, die Kinder fest eingewickelt. Haben die Erzieherinnen uns
abends noch eine Geschichte vorgelesen? Ein Lied vorgesungen? Ein Lied für
zwanzig Kinder, die nebeneinander in ihren Betten lagen? Oder war dafür
keine Zeit?
„Abends haben wir die Kinder in die Betten gelegt, dann kam die Nachtwache
und wir haben die Türen offen gelassen. Aber die Kinder haben auch gar
nicht geweint. Erst heute weiß ich, wie sonderbar das ist. Es wäre ja auch
niemand gekommen. Alle haben funktioniert“, erinnert sich Bärbel Benkert,
eine Erzieherin in einer Wochenkrippe in Gotha.
Kleine Kinder wachen nachts bis zu achtmal auf. Dann wollen sie getröstet
werden. In meiner Kindheit dachte man anders. Das Kind soll lernen
durchzuschlafen. Auf keinen Fall dürfe man hingehen. Also hat man die
Kinder schreien lassen.
In der Wochenkrippe wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, sich um alle zu
kümmern. Eine Nachtwache war für bis zu vierzig Kinder zuständig. Im Fall
einer Dresdner Wochenkrippe war nachts nur der Hausmeister da – allein mit
neunzig Kindern.
Einige Kinderpsychologen sagen heute: Säuglinge haben in den Momenten, in
denen keiner kommt, Todesangst. Mir fällt es schwer, das auf mich zu
projizieren. Ich möchte kein Opfer sein. Und dann zucke ich zusammen, wenn
eine Therapeutin in einem Vortrag sagt: „Ich halte das für eine
Menschenrechtsverletzung, sein Kind in eine Wochenkrippe zu geben.“
Und doch gibt es sie schon wieder: [1][die 24-Stunden-Kita]. In Hamburg,
Berlin oder Schwerin. Der Ausbau von 300 Einrichtungen wurde unter
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig mit 100 Millionen Euro gefördert.
Natürlich sind die Einrichtungen von heute keinesfalls mit denen von damals
vergleichbar. Für bedenklich halte ich sie trotzdem. Spreche ich das aus,
heißt es oft: Du bist wohl gegen Gleichberechtigung?
Mindestens 200.000 Kinder gingen in der DDR in eine Wochenkrippe. Die erste
eröffnete 1950, die letzte schloss 1992. Da die Wochenkrippen planmäßig
überbelegt und viele Kinder nur für einige Monate dort waren, könnte ihre
Zahl auch bei bis zu 600.000 liegen. Die Betroffenen sind heute zwischen 32
und 74 Jahren alt.
## „Fremde“ durften nicht hinein, auch nicht die Eltern
Ich kann mich an meine Zeit in der Wochenkrippe nicht erinnern. Andere auch
nicht. „Fremde“ durften die Einrichtung nicht betreten, auch die Eltern
nicht. Deswegen haben meine Eltern nie gesehen, wo und wie ich dort
geschlafen habe, gegessen oder gespielt. Wieder andere wollen sich ungern
erinnern oder nur sehr selektiv. Da ich meine Erzieherinnen nicht kenne,
kann ich sie nicht fragen. Wenn sie überhaupt noch leben. Ich bin jetzt 52
Jahre alt.
Ich stoße auf Bärbel Benkert. Sie hat in Gotha zwischen 1978 und 1983
Wochenkinder betreut. Dann hat sie gekündigt. „Alle Erzieherinnen haben
sich bemüht, viele auch liebevoll. Aber es blieb eine Abfertigung, weil
jede bis zu zehn Kinder hatte. Wir hatten einen starren Tagesplan: 6 Uhr
Flasche, 6.45 Uhr Wickeln, 8.15 Uhr Schlafen, 9.15 Uhr Spielen, 10 Uhr
Brei, 10.45 Uhr Spielen, 11.15 Schlaf, 13 Uhr Wickeln usw. Mal ein Kind auf
den Schoß nehmen und Hoppe-hoppe-Reiter machen, dafür blieb keine Zeit.
Individuelle Geborgenheit war auch gar nicht Teil der Ausbildung. Für mich
war die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sehr schmerzhaft.“
Benkert ist eine Ausnahme. Die meisten Erzieherinnen blicken ganz anders
zurück: Den Kindern habe es nicht geschadet, heißt es, aus ihnen sei doch
was geworden. Und wie war meine Erzieherin? War ich ein Lieblingskind, das
bevorzugt behandelt wurde und auch mal auf ihrem Schoß sitzen durfte? Oder
wurde ich in all den fünfzehn Monaten nie gestreichelt?
Manche Erzieherinnen sollen sehr liebevoll gewesen sein und sich rührend
gekümmert haben. Sie haben auch mal ein Baby abends mit nach Hause
genommen. Andere waren genervt, haben Kinder geschlagen. Manche haben den
Kindern die Nase zugehalten und ihnen dann den Löffel mit dem Brei in den
Mund geschoben. Das ging schneller. Manchmal kamen Kinder am Freitag auch
mit einem wunden Po nach Hause.
Ich lese das alles in den Sachbüchern, die frisch erschienen sind.
[2][„Wochenkinder in der DDR“] von Heike Liebsch und den Sammelband
„Wochenkrippen und Säuglingsheime“ aus dem Psychosozial-Verlag. Ich
verschlinge alles zu dem Thema, was ich in die Finger bekommen kann.
Mehrere Studien aus DDR-Zeit wiesen nach, dass Wochenkrippenkinder dreimal
so häufig krank waren wie zu Hause betreute Kinder. Auch motorisch und
sprachlich entwickelten sie sich deutlich langsamer als Tageskrippenkinder.
Nur Heimkindern erging es schlechter. Doch diese Studien blieben unter
Verschluss. Sie passten nicht ins offizielle Bild der optimalen staatlichen
Betreuung.
In meinem Entwicklungsbogen vermerkte eine Frau Habicht: „Das Trinken aus
der Flasche muss noch geübt werden.“ Im Entwicklungsbogen benoteten die
Erzieher nach festen Kriterien das Kind. Er war für die Eltern gedacht. Als
Datum steht da der 19. 12. 1972. Einen Tag später werde ich ein Jahr alt.
Der 20. war ein Mittwoch. War ich da in der Wochenkrippe?
Am 19. 12. 1973 notiert eine Frau Hain: „Alexander muss es noch lernen,
auch beim Mittagsschlaf sauber zu bleiben. Er ist auch auf dem Gebiet der
Spieltätigkeit mit didaktischem Material ungeschickt. Auch beim Singen muss
Alexander noch mehr Interesse zeigen.“
Einen Tag später feiere ich meinen zweiten Geburtstag. Nur wie? Der 20. war
ein Donnerstag. Ich frage bei meiner Mutter nach: „War ich zum Geburtstag
zu Hause, mitten in der Woche?“ Sie weiß es nicht mehr.
Dass ich in eine Wochenkrippe ging, war kein Geheimnis in der Familie. Mir
war es lange Zeit auch nicht wichtig. Bis ich mit 24 Jahren das erste Mal
Vater wurde. Erst da begriff ich, was es bedeutet, seine Eltern nur am
Wochenende zu sehen. Seitdem hat das Thema in mir gearbeitet. Aber erst vor
zwei Jahren ist mir klar geworden, dass es noch immer eine Bedeutung hat.
Damit bin ich nicht allein. Viele Wochenkinder holt die Vergangenheit erst
Jahrzehnte später ein. Ich suche mir eine Selbsthilfegruppe. In meinem
Wohnort gibt es keine. Also fahre ich dafür ab und zu nach Leipzig. Oder
Potsdam.
Noch nie habe ich mich in einer Selbsthilfegruppe angemeldet. Nun sitze ich
zwischen lauter fremden Menschen. Und fühle mich zu meiner Überraschung
verstanden. Und geborgen.
Aus den Treffen weiß ich: Viele haben nur durch Zufall erfahren, dass sie
in der Wochenkrippe waren, ihre Eltern haben es ihnen verschwiegen. Andere
kommen mit ihren Eltern darüber nur schwer ins Gespräch. Die Eltern
reagieren ablehnend, manchmal wird geschrien. Eine dritte, kleine Gruppe
berichtet von Entschuldigungen und Versöhnungen. Das fühle sich kurz gut
an, sei aber keine endgültige Heilung.
## „Das war damals ganz normal“
Ein Treffen der Selbsthilfegruppe, dreizehn Betroffene wollen mit Regina
sprechen. Sie hat fünfzehn Jahre lang als Ärztin einer Wochenkrippe
Kleinkinder betreut. Ihre Botschaft: „In die Wochenkrippe zu gehen war
damals normal. Die Erzieherinnen haben sich alle ganz liebevoll um euch
gekümmert.“ Die ehemaligen Wochenkinder kneten ihre Hände, sie rutschen auf
ihren Stühlen hin und her, sie blicken irritiert. Und dann stellen sie
Fragen.
„Hatten die Kinder auch einmal blaue Flecken?“
„Nein.“
„Haben Sie Isolierzimmer für kranke Kinder gesehen?“
„Nein.“
„Haben die Erzieher Beruhigungsmittel für die Nacht beantragt?“
„Also vielleicht im Ausnahmefall, wenn ein Kind mal sehr unruhig war.“
Regina ist heute 83 Jahre alt. Über die Fragen ist sie überrascht. Sie
sagt: „Ich wehre mich dagegen, wenn die Wochenkrippen heute als Gefängnis
bezeichnet werden.“
„Aber woher kommt diese Verteidigung? Niemand hat hier von einem Gefängnis
gesprochen?“
„Für eure Mütter war das bestimmt auch nicht leicht, die haben bestimmt
viel geweint.“ Regina nimmt einen Schluck Tee.
Ich frage: „Sie selbst haben erzählt, dass Sie Ihren Sohn ‚zum Glück‘ n…
in die Wochenkrippe geben mussten, sondern bei den Schwiegereltern
unterbringen konnten. Warum, wenn es da so gut war?“
„Na, weil es immer besser ist, wenn das Kind bei der Oma bleibt. Das weiß
doch jeder. Die Erzieher können sich noch so viel Mühe geben, die Mutter
können sie nicht ersetzen.“
Seit fünfzig Jahren ist die [3][Bindungstheorie] Konsens in der
Psychologie. Sie besagt, dass eine sichere Bindung in der Kindheit zu einer
gesunden emotionalen Entwicklung und stabilen Beziehungen im
Erwachsenenalter führt. Entscheidend sind die ersten zwölf Monate. Wird in
dieser Zeit das Urvertrauen gestört, kann es später zu emotionalen und
sozialen Problemen kommen. Erst mit zwei Jahren beginnen Kinder, sich
zaghaft von ihren Eltern zu lösen.
Seitdem gilt in der Bundesrepublik der Grundsatz, selbst eine schlechte
Familie ist besser als ein gutes Heim. Ende der sechziger Jahre wurden alle
Säuglingsheime geschlossen. Wem es zu Hause zu schlecht erging, kam in eine
Pflegefamilie oder wurde adoptiert.
## Sozialismus und Kollektiv
Da sie eher eine individuelle statt eine kollektive Perspektive
propagierte, galt die Bindungstheorie in der DDR als reaktionär, gerichtet
gegen die Emanzipation der Frau. Sie war das Gegenteil des sozialistischen
Konzepts.
Doch auch in der DDR wussten Fachleute um die Folgen der Trennung der
Kinder von ihren Eltern. Die Aufnahme in die Wochenkrippe wurde damals von
Forschern als „physischer und psychischer Schock“ beschrieben. Der
Fachbegriff lautete „Anpassungsstörung“, schreibt Florian von Rosenberg in
seinem Buch „Die beschädigte Kindheit“.
Die Kinderpsychiaterin Agathe Israel beschäftigt sich seit Langem mit dem
Thema. Sie meint: „Für das kindliche Empfinden sind Trennungen, die sie
zeitlich nicht überblicken können bzw. deren Ende für sie nicht absehbar
ist, faktisch ein Abschied für immer.“
In Grünheide bei Berlin treffen sich auf einem Freizeitgelände am
Störitzsee fünfzig Wochenkinder. Es ist das erste Mal, dass sie drei Tage
lang zusammenkommen. Am zweiten Abend sitzen sie alle um ein Lagerfeuer
herum. Das Brennholz haben sie selbst mitgebracht – aus Karlsruhe, Halle,
Greifswald. Der Mann, dem die Stimme versagte, als er sich an der
Diskussion beteiligen wollte, spielt Gitarre. Drei Frauen singen dazu den
melancholischen Song der Leipziger Band „Karussell“ von 1987: „[4][Als ich
fortging], war die Straße steil – kehr wieder um. Nimm an ihrem Kummer
teil, mach sie heil.“
Am nächsten Tag stellt Stefanie Knorr die Ergebnisse einer Studie der
Universität Rostock vor. Es ist die erste Studie dieser Art. Ihre
Ergebnisse: Nur 27 Prozent der Wochenkinder haben in ihrem Leben
sicher-autonome Bindungen aufbauen können. In der gesunden Kontrollgruppe
sind es 58 Prozent. 92 Prozent der Wochenkinder entwickeln psychische
Störungen, vor allem soziale Phobien, Schlafstörungen und posttraumatische
Belastungsstörungen. 59 Prozent sind es in der Kontrollgruppe.
295 Wochenkinder wurden für die Studie befragt. Sie haben sich freiwillig
gemeldet. „Was uns überrascht hat, war wie oft Traumata weitergegeben
werden. Uns wurde berichtet, dass viele Eltern von Kriegserlebnissen schwer
gezeichnet waren. Dies könnte später ein Grund für eine gestörte
Eltern-Kind-Beziehung sein“, sagt Stefanie Knorr.
Das könnte bei mir passen: Meine Mutter ist Anfang 1945 noch kein Jahr alt,
da muss meine Oma mit ihr aus Schneidemühl in Westpreußen, dem heutigen
Piła in Großpolen, fliehen. Der Zug wird von Tieffliegern beschossen, es
ist kalt, die Trinkflasche geht kaputt. Für 275 Kilometer brauchen sie
Tage, sie stranden im zerschossenen Leipzig, wo sie niemanden kennen.
Meine Oma hat oft über die Wochenkrippe gesprochen. Sie war eine liebevolle
Bilderbuch-Oma. Sie ist seit zehn Jahren tot. Bleiben meine Eltern. „Ach,
gehst du jetzt wieder zu dieser Selbsthilfe?“ sagt eines Tages mein Vater.
„Ja, und warum rollst du da mit den Augen?“
„Na ja, da helft ihr euch dann alle selbst, wie schwer ihr es hattet.“
Mein Vater ist 82 Jahre alt. Seine Kindheit hat er zwischen Trümmern mit
Hunger und Schlägen verbracht.
„Genau. Es tut mir gut. Und wenn ich deine Meinung dazu wissen will, frage
ich“, gebe ich zurück.
Es gibt bei ihm aber auch Momente von Verständnis: „Ich habe dich immer mit
dem Auto hingefahren. Deine Mutter hatte ja keins und es war ein weiter
Weg. Wenn wir dann um eine bestimmte Ecke gebogen sind, hast du schon
angefangen zu weinen. Da waren wir aber noch ein ganzes Stück von der
Wochenkrippe entfernt. Dein Schreien hat dann nicht mehr aufgehört. Das war
so eine Villa in Leipzig-Leutzsch.“
Ich sehe sofort nach. Auf [5][wochenkinder.de], der Webseite des Vereins,
sind viele Wochenkrippen in einer interaktiven Karte eingetragen. Da ist
sie: Leipzig, Otto-Schmiedt-Straße 32. Auf Google Maps sehe ich: Das Haus
steht noch.
## Und was ist mit den Vätern?
Tage später fahre ich hin. Die Villa steht in einem noblen Viertel, ist
renoviert. Ich mache Fotos, erkenne aber nichts wieder. Ein Mann schließt
sein Fahrrad an.„Wohnen Sie hier?“, frage ich.
„Ja, schon.“ – „Darf ich mir mal den Flur ansehen?“
Er lässt mich ein. Und sofort erkenne ich alles wieder. Die dunkelbraunen
Holzvertäfelungen, die Treppe, das große Fenster mit Buntglas und den
riesigen Kronleuchter. Oder bilde ich mir das etwa nur ein? Ich kann mich
doch gar nicht erinnern. Aber es kribbelt plötzlich wie wild in meiner
Hand.
„Das Haus gehört jetzt Kai Pflaume“, sagt der Mann, als ob das irgendwas
zur Sache täte.
„So, ich muss dann mal wieder, ich habe wenig Zeit“, sagt er und schiebt
mich zum Ausgang.
Zurück bei meinem Vater: „Und wenn wir dich dann am Freitag abgeholt haben,
hast du den ganzen Abend nicht mehr gesprochen. Zu Hause bist du die Zimmer
abgelaufen, von Ecke zu Ecke, als ob du alles vermessen wolltest, um es
wiederzuerkennen. Gesprochen hast du dann erst ab Sonnabend früh.“
Ich traue mich nicht, die naheliegende Frage zu stellen: Warum hast du dich
nicht gekümmert? Du hast gut verdient. Du hättest meine Mutter heiraten
können und sie hätte zu Hause bleiben können. Ich will ihn nicht in
Bedrängnis bringen. Er hat Krebs. Wer weiß, wie lange wir noch eine schöne
Zeit verbringen können. Von meiner Mutter weiß ich: Als sie schwanger war,
ging eines Tages eine andere junge Frau bei meinem Vater zu Hause ans
Telefon.
In einer Diskussion mit anderen Wochenkindern sage ich später: „Mich stört
die Verengung auf die Mütter. Immer müssen sie sich den unangenehmen Fragen
ihrer Kinder stellen. Und die Väter machen sich einen schlanken Fuß. Wenn
mehr Väter damals Verantwortung übernommen hätten, hätte es weniger
Wochenkinder gegeben.“
Wir hatten den Film „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ gesehen. Ein
Mutter-Kind-Drama. Eine knappe Stunde in Schwarz-Weiß. Der Vater taucht nur
für Sekunden auf einem alten Foto auf. Und von hinten aufgenommen, wie er
mit dem Kind an der Hand einen Flur entlangläuft.
Wenn Mutti früh zur Arbeit geht. Ein Kinderlied. Jeder in der DDR kannte
es:
Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus. Ich binde eine
Schürze um und feg ’ die Stube aus.
Die Regisseurin Amina Gusner ist selbst ein Wochenkind. Sie sagt in ihrem
Grußwort zum Treffen: „Ich wusste immer, dass ich in einem Wochenheim war,
hatte das aber nie zum Thema gemacht. In der Pandemie wurde mir bewusst: Es
ist eines. Ich habe recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen. Sogar mein
damaliger Freund und meine Schwester waren in Wochenheimen, was ich aber
gar nicht wusste. Ich wollte wissen: Was hat das mit uns gemacht, das ist
ja eine Form der Entwurzelung.“
Dann nennt jeder seine Lieblingsszene aus dem Film. Manche mit stockender
Stimme und feuchten Augen. Ich sage: „Die zwei Sequenzen, in der sich die
Tochter kurz in Nahaufnahme stumm selbst streichelt. Denn darum ging es:
fehlender Körperkontakt.“
29 Nov 2024
## LINKS
[1] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/reden-und-interviews/manuela-schwesi…
[2] https://psychosozial-verlag.de/programm/2000/2110/3259-detail
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Als_ich_fortging
[5] https://www.wochenkinder.de/
## AUTOREN
Alexander Teske
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