# taz.de -- Aufarbeitung DDR-Heime: Den Machtmissbrauch aufarbeiten | |
> In der DDR wurden viele Kinder allein zur Kur geschickt – und machten | |
> teils traumatische Erfahrungen. Nun trafen sich Betroffene in | |
> Brandenburg. | |
Bild: Das DDR-Kinderkurheim Dahmshöhe, Kreis Gransee, im Jahr 1987 | |
Dahmshöhe taz | Kilometerlang geht es vom brandenburgischen | |
Fürstenberg/Havel durch den Wald nach Dahmshöhe. Ein Sandweg, keine | |
Straßenbeleuchtung. Zu dieser Jahreszeit ist es schon am Nachmittag | |
stockduster. Irgendwann taucht ein großes Haus mit beleuchteten Fenstern | |
auf, drinnen sitzt eine Gruppe behinderter Menschen mit ihren | |
Betreuer:innen beim Abendbrot. Ein freundlicher, warmer Empfang. | |
Das war nicht immer so. Haus Dahmshöhe ist heute eine Erholungs- und | |
Begegnungsstätte des Vereins Lebenshilfe. Bis 1990 war hier ein | |
Kinderkurheim der DDR untergebracht. Der lange Weg durch den Wald macht | |
physisch erfahrbar, was für viele institutionelle Einrichtungen wie | |
Jugendheime, Internate oder Klosterschulen gilt: je abgeschiedener von der | |
Außenwelt, desto weniger Kontrolle gibt es. Eine Welt für sich, die zu | |
Machtmissbrauch führen kann. | |
Das einstige Kinderkurheim Dahmshöhe [1][hat für viele ehemalige Kurkinder | |
eine leidvolle Geschichte.] Sie erfuhren hier oder in einem der anderen 154 | |
staatlichen Kinderkurheime der DDR Demütigungen, Drill, Ess- und | |
Toilettenzwang, hatten Angst oder wurden beschämt. In manchen Fällen kam es | |
auch zu körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Sie machten ähnliche | |
Erfahrungen wie die Verschickungskinder der BRD, die sich in der Initiative | |
Verschickungsheime e. V. zusammengeschlossen und in einigen Bundesländern | |
bereits Anhörungen im Landtag, Anlaufstellen für Betroffene oder auch | |
Studien bewirkt haben. | |
Die Gruppe der DDR-Kurkinder ist Teil der bundesweiten Initiative, ist | |
aber mit ihrem Anliegen in Medien und Politik viel weniger präsent. „Es | |
gibt hier eine strukturelle Ungerechtigkeit bei der Datenlage, in der | |
Forschung und bei den Möglichkeiten der Wiedergutmachung“, sagt die | |
Linken-Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg, die als Kind dreimal in | |
der DDR zur Kur war und aus dem nahen Fürstenberg gekommen ist. | |
Der eintägige Kongress am Reformationstag, in Brandenburg ein Feiertag, | |
dient in erster Linie dem Erfahrungsaustausch, der Vernetzung und | |
Formulierung von Perspektiven. Es gibt einen wissenschaftlichen Vortrag und | |
drei Workshops, zwei davon therapeutisch ausgerichtet. Flyer für | |
Telefonseelsorge und Traumabehandlung liegen überall aus. Genauso wie | |
Schokoriegel und Äpfel. | |
## Es hängt viel Trauma im Raum | |
Die rund 35 Teilnehmer:innen, darunter wenig Männer, sind ehemalige | |
DDR-Kurkinder. Die, die kommen, haben unangenehme bis traumatische | |
Erfahrungen gemacht. Wem es in der DDR-Kinderkur gut erging, und solche hat | |
es sicher gegeben, ist hier nicht dabei. Die Ehemaligen sind auf der Suche | |
nach Spuren, um ihre Erinnerungslücken aufzufüllen, um Gewissheit zu | |
erlangen. | |
Aber sie möchten auch mehr herausfinden, wie sich die Kinderkurmaßnahmen im | |
System DDR verorten lassen. Einige sind schon am Vorabend angereist und | |
treffen sich beim Abendessen. „In welchem Heim warst du?“, die Frage wird | |
häufig gestellt. „Ich weiß, dass da etwas Schlimmes war, aber ich komme da | |
nicht ran“, sagt eine Teilnehmerin. Es hängt an diesen anderthalb Tagen | |
viel Trauma im Raum, mental und verbal. Der Umgang miteinander ist | |
herzlich, geradezu kurgerecht. Eine Traumatherapeutin ist als | |
Ansprechpartnerin vor Ort. | |
Etwa acht der Anwesenden sind als Kinder im Kinderkurheim Dahmshöhe | |
gewesen. Als die heutige Leiterin der Lebenshilfe eine Führung durchs Haus | |
anbietet, das nach der Wende einen Neubau bekam, zögern einige. Schon die | |
Anfahrt hatte ihnen zugesetzt, und die Wiederbegegnung mit dem Ort, mit dem | |
sie unangenehme oder schmerzhafte Gefühle verbinden, ist für manche schwer | |
auszuhalten. Als die Gruppe im Keller angelangt ist, muss Katrin Lukoschus | |
an die frische Luft. „Du bist mir eine“, sagt Diana Mehmel, „dass du dich | |
überhaupt auf die Tour eingelassen hast.“ Lukoschus steigt später mit | |
Traumatherapeutin noch einmal nach unten. | |
## 2,6 Millionen Kinderkuren in der DDR | |
Mehmel und Lukoschus gehören zum fünfköpfigen Betroffenenrat, der | |
ehrenamtlich die Gruppe der DDR-Kurkinder koordiniert und die Tagung mit | |
etwas finanzieller Unterstützung der Beauftragten des Landes Brandenburg | |
zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur organisiert hat. | |
Mehmel und Lukoschus sind nicht zum ersten Mal seit ihrer Kinderkur wieder | |
in Dahmshöhe – 2022 statteten sie dem weitläufigen Anwesen einen | |
gemeinsamen Besuch ab, der schmerzhafte Erinnerungen an sexualisierte | |
Gewalt durch den ehemaligen Heimleiter hochholte. [2][Die taz begleitete | |
sie auf dieser Reise], der Kontakt zur Lebenshilfe entstand. „Der | |
liebevolle Empfang heute ist ein wohltuender Kontrast“, sagt Mehmel. | |
Beim Besuch 2022 war auch die Historikerin Julia Todtmann dabei, die als | |
Historikerin zum Kinderkurwesen der DDR forscht und das Kinderkurheim | |
Dahmshöhe wegen besonders vieler negativer Treffer als Fallbeispiel | |
untersuchte. Sie stellt beim Kongress die Ergebnisse ihrer Masterarbeit | |
vor. 2,6 Millionen Durchläufe von staatlichen Kinderkuren habe es in der | |
DDR gegeben. Das entspreche im Verhältnis in etwa den Zahlen der | |
Kinderverschickung West. Auch die oft negativen Erfahrungsberichte der | |
Kurkinder ähneln sich. An einem Ost-West-Vergleich arbeitet Todtmann | |
derzeit für eine erweiterte digitale Veröffentlichung ihrer Masterarbeit. | |
Beim Kongress dabei ist auch die Erziehungswissenschaftlerin Maria | |
Birnstiel, die für ihre Masterarbeit die Zielsetzungen des Kinderkurwesens | |
aus pädagogischer Sicht untersucht hat – zwei Masterarbeiten sind ein | |
Anfang, aber bisher alles, was es zu dem Thema von wissenschaftlicher Seite | |
gibt. Da ist noch viel Forschungsbedarf. Darin sind sich auch die | |
Teilnehmer:innen des Workshops zu Fragen der „Forschung und | |
Perspektiven“ einig. So war zum Beispiel Gewalt gegen Kinder in der | |
Erziehung laut DDR-Verfassung von Anfang an verboten, anders als in der | |
BRD, wo erst in den 1970er Jahren Prügel in der Schule verboten und 2000 | |
das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert wurden. | |
## „Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Lebensfreude“ | |
Dennoch war die Praxis, sagen Todtmann und Birnstiel, nicht gewaltfrei. Lag | |
es am eklatanten Fachkräftemangel, an der schlechten Ausstattung und | |
ständigen Überforderung? Oder am Menschenbild, das Kinder als defizitäre | |
Wesen betrachtete, die es zu formen galt? Und wie weit reichen die | |
eigentlich ideologischen Wurzeln dieser Pädagogik zurück? Vor allem in der | |
Nachkriegszeit hatten die physische Gesundheit und nicht das seelische Heil | |
des Kindes im Fokus gestanden – die Parole „Gesundheit, Leistungsfähigkeit, | |
Lebensfreude für den Sozialismus“ behielt weit darüber hinaus ihre | |
Gültigkeit. | |
Mit der Lebensfreude war es in den Kinderkurheimen nicht weit her. Katrin | |
Lukoschus hat in der Nacht vom ehemaligen Heimleiter geträumt. Sie befindet | |
sich seit Langem in therapeutischer Behandlung. Was ihr die | |
Trauma-Aufarbeitung gebracht habe, wird sie von einer Kongressteilnehmerin | |
gefragt. „Ich verstehe mein eigenes Verhalten besser und kann | |
gegensteuern“, antwortet sie. Die Konfrontation habe ihr geholfen, diesen | |
Ort zu erkennen und in die Traumaarbeit zu integrieren. „Öffnet euch im | |
Erzählen!“, schreibt sie am nächsten Tag in der Facebook-Gruppe. | |
Lukoschus und Mehmel hatten mithilfe der Opferhilfe Sachsen beim Fonds für | |
Opfer sexueller Gewalt einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt. Er wurde | |
abgelehnt. Kein Einzelfall, wie die Linken-Abgeordnete Domscheit-Berg durch | |
eine Kleine Anfrage an den Bundestag in Erfahrung gebracht hat. Finanzielle | |
Hilfe gibt es nur dort, wo es zwischen Land und Institution, in der | |
sexualisierte Gewalt stattgefunden hat, eine Vereinbarung gibt. Für die | |
ehemaligen staatlichen Kinderkurheime gibt es jedoch keinen | |
Rechtsnachfolger, insofern auch keine Vereinbarung. „Insofern sind die | |
ehemaligen DDR-Kurkinder bei sexualisierter Gewalt de facto von | |
Wiedergutmachung ausgeschlossen“, sagt Domscheit-Berg. | |
Erst vor etwa fünfzehn Jahren begann man, die Missstände in den | |
Kinderheimen der DDR aufzuarbeiten, immer etwas zeitversetzt zu | |
Einrichtungen der BRD; es folgten: die Jugendwerkhöfe, Zwangsadoptionen, | |
Kinderkurheime und Wochenkrippen, DDR-eigene Thematiken, über die noch viel | |
herauszufinden ist. Fundierte Forschung, eine Vollzeit-Koordinationsstelle | |
für das Kinderkurwesen in der DDR, Zugang zu Wiedergutmachung und eine | |
Aufklärung über Spätfolgen sind Forderungen, der der Betroffenenrat | |
ausarbeiten will. | |
3 Nov 2024 | |
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[1] /Kinderkuren-in-der-DDR/!5866907 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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