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# taz.de -- Zwangseinrichtungen in der DDR: Die Mädchen von der 114 c
> In sogenannten Tripperburgen wurden in der DDR Tausende junge Frauen
> eingesperrt und diszipliniert – auch Martina Blankenfeld. Sie kämpft für
> ein Gedenken.
Bild: „Ich dachte, ich sei in der Klapse gelandet“: Martina Blankenfeld heu…
An ihre Ankunft im Klinikum Berlin-Buch erinnert Martina Blankenfeld sich
noch gut. Eine Ärztin habe hinter einem Schreibtisch gesessen und Fragen
gestellt, die sie nicht verstand. Wann hattest du das letzte Mal
Geschlechtsverkehr? Wie heißt dein Freund? Hast du dich schon einmal selbst
befriedigt? „Ich bin aus dem Staunen gar nicht mehr rausgekommen“, sagt
Martina Blankenfeld heute. Während der Aufnahmeprozedur habe sie andere
Patientinnen der Station gegen die vergitterte Tür trommeln hören, dazu
hätten sie gesungen: „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, wir haben Durst!“
„Ich dachte, ich sei in der Klapse gelandet“, sagt Martina Blankenfeld
heute. Die „Klapse“ kannte sie, ihre Mutter war dort oft. Aber Station 114
c ist keine Psychiatrie. Sie ist ein Spezifikum der DDR, über das bis heute
wenig öffentlich bekannt ist. Auf geschlossene venerologische Stationen
kamen Frauen und Mädchen ab 12 Jahren, denen unterstellt wurde, sie könnten
sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen haben. Venerologie nennt man die
Lehre der sexuell übertragbaren Erkrankungen.
Heute weiß man: Der Verdacht war vorgeschoben. Die wenigsten Patientinnen
hatten tatsächlich eine Geschlechtskrankheit. Auch Martina Blankenfeld
nicht. Zwangseingewiesen wurden Frauen, die als „asozial“ galten. Die DDR
nannte sie: „Herumtreiberinnen“, „Bummelantinnen“ oder „Personen mit …
wechselndem Geschlechtsverkehr“. Auf den geschlossenen venerologischen
Stationen sollten sie politisch diszipliniert werden.
Die Station 114 c im Klinikum Berlin-Buch war eine solche Station. Sie
gehörte zur Venerologie, der Abteilung für Haut- und
Geschlechtskrankheiten. Umgangssprachlich hießen die geschlossenen
venerologischen Stationen in der DDR „Tripperburgen“. Und tatsächlich waren
sie wie eine Festung, aus der es so schnell kein Entkommen gab.
Martina Blankenfeld hat einen Suizidversuch hinter sich, als sie gegen
ihren Willen in dieser Festung landet. Es ist ein Apriltag im Jahr 1978,
als sie beschließt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie ist 15 Jahre alt.
Sie sucht die Schmerz- und Beruhigungstabletten zusammen, die in der
elterlichen Wohnung in Berlin-Karlshorst schachtelweise herumliegen. Ihre
Mutter, vom Krieg traumatisiert, ist psychisch krank.
Martina Blankenfeld schluckt die Tabletten, geht zur Schule und kehrt um,
bricht schließlich im Bad zusammen. Sie überlebt, bleibt mehrere Tage im
Kinderkrankenhaus. Als es ihr besser geht, kommt sie aber nicht nach Hause.
Sie wird verlegt in das Klinikum Berlin-Buch, Station 114 c. Die Fenster
sind vergittert, lassen sich nicht öffnen. Die Betten sind im Boden
verankert.
Bis heute gibt es kaum Zahlen dazu, wie viele Frauen in der DDR auf eine
geschlossene venerologische Station eingewiesen wurden. Wissenschaftliche
Schätzungen gehen von mehreren Zehntausend aus. In einigen Städten scheinen
Akten ganz verschwunden zu sein oder, wenn doch vorhanden, werden sie nur
zögerlich freigegeben. Vor allem aber fehlt es an Frauen, die über ihre
Erfahrungen sprechen. Viele haben aus Scham geschwiegen. Anders als die
Jugendwerkhöfe, die Wochenkrippen und Kinderheime der DDR sind die
geschlossenen venerologischen Stationen bisher historisch wenig erforscht.
## Ihr Ziel: Eine Erinnerungstafel
Martina Blankenfeld will das ändern. An einem kalten Tag im Frühjahr 2025
steht sie vor dem Haus der früheren Station 114 c. „Der Weg, die
Pflastersteine, alles ist noch original wie früher“, sagt sie. Die Klinik
wurde nach der Wende abgewickelt, das denkmalgeschützte Ensemble blieb
erhalten und wurde zu Eigentumswohnungen umgebaut. Der Wind fegt durch die
kahlen Bäume, die Sonne scheint und wärmt nicht. Nichts erinnert an das
Schicksal der Frauen, die hier behandelt worden sind. Wenn es nach Martina
Blankenfeld geht, soll hier bald eine Erinnerungstafel hängen. Dafür setzt
sie sich ein.
Martina Blankenfeld kämpft schon lange für Gerechtigkeit für sich und die
Betroffenen. Sie hat sich durch Archive gefragt, um Dokumente zu finden,
die beweisen, dass es die Station 114 c wirklich gegeben hat. Sie hat ihre
Vergangenheit zu ihrer Geschichte gemacht. Dieser Artikel beruht auf ihren
Erzählungen und den vielen Unterlagen, die sie auf ihrem Computer gesammelt
hat. Die Öffentlichkeit soll wissen, was ihr und vielen anderen widerfahren
ist. Dafür hat sie im September 2024 beim Bezirk Pankow, zu dem der
Ortsteil Buch heute gehört, einen Antrag eingereicht.
61 Jahre alt ist Martina Blankenfeld heute, aufgewachsen in Ost-Berlin.
Groß von Statur, lange dunkle Haare, die im Ansatz von einer weißen Strähne
durchzogen sind. Ihre Stimme ist kräftig und tief. Was sie sagt,
unterstreicht sie mit den Händen. Sie ist stets schlagfertig, geradeaus,
direkt.
Die Worte purzeln nur so aus ihrem Mund, lassen manchmal Luftlöcher mit
Gedankenpausen entstehen. Dann biegt sie in eine andere Richtung ab, um am
Ende genau dort anzukommen, wo sie hinwollte. Martina Blankenfeld hat
gelernt, sich zu schützen. Mit Ärzten, Therapeutinnen und Behörden hat sie
schlechte Erfahrungen gemacht, Hierarchien bereiten ihr Unbehagen.
Von außen hat sich das Haus, in dem sich damals die Station 114 c befand
und das heute die Nummer 14 trägt, kaum verändert. Nur dass es einen
pastellfarbenen Anstrich bekommen hat. Hübsch sei es hier heute, sagt
Blankenfeld, schön friedlich. Trotzdem muss sie erst mal eine rauchen.
„Im ersten Stock war unsere Station“, sagt sie und zeigt nach oben. „Die
Fenster waren von innen vergittert und hatten trübes, drahtdurchzogenes
Glas.“ Konnte man lüften oder durfte man in den Hof? „Nee.“ Die Mädchen…
Frauen auf der 114 c bekamen keine Beschäftigung, hatten keine
Unterhaltung. Sie wurden sich selbst überlassen und wie im Asyl verwahrt.
Einmal habe sie sich einen Besen gegriffen, um damit „Bonanza“ zu spielen,
erzählt Martina Blankenfeld und fällt in die Melodie der alten Westernserie
ein. „Aus Langeweile hatte ich mir aus der Bettwäsche ein Kostüm gebastelt.
Und dann bin ich vor lauter Übermut mit dem Besenstiel aufs Fenster
zugeritten.“ Die Scheibe hatte daraufhin ein Loch und sei später ihrer
Mutter in Rechnung gestellt worden. „Aber wir konnten die frische Regenluft
atmen. Das tat gut!“
Auf Anfrage bekommen die Mädchen Schreibmaterial zur Verfügung gestellt, um
an die Eltern zu schreiben. Martina Blankenfeld schreibt eine Postkarte an
ihre Mutter und malt mit Bleistift eine schöne große Burg über der Tür des
Krankenzimmers. Darüber schreibt sie: „Willkommen in der Tripperburg!“
21 Tage verbringt Martina Blankenfeld auf der Station 114 c. Tage der
Ungewissheit, der Zweifel, des Ausgeliefertseins. „Warum bin ich hier? Wie
geht es weiter?“ Fragen, die ihr niemand beantwortet. Die Untersuchungen
finden in der Regel morgens statt. Täglich werden Abstriche gemacht, oft
wird auch ein Spekulum eingeführt. Auch Allergietests auf dem Rücken
gehören zur Routine. Es sind Cremes, die auf das Auslösen von
Hautirritationen geprüft werden, so erinnert es Martina Blankenfeld. Heute
weiß man, dass Medikamente, auch im Auftrag von Westfirmen, in
DDR-Krankenhäusern getestet wurden.
In Berlin-Buch könnten auch Kosmetikprodukte an den Jugendlichen getestet
worden sein, nachweisen lässt sich das nicht. Dass den Mädchen
Schönheitsprodukte zur Verfügung gestellt wurden, bestätigt Blankenfeld.
Die Mitpatientinnen hätten sich auf die angebotenen Schminkutensilien
„gestürzt“, sagt sie. Ihre Sache sei das nicht gewesen. „Dass sie uns
einerseits unterstellten, wir seien mannstoll, und uns andererseits zum
Schminken aufforderten, finde ich im Nachhinein völlig absurd.“
Medikamente einzunehmen, verweigert sie. Doch den Untersuchungen auf dem
gynäkologischen Stuhl kann sie sich nicht entziehen. Das ist ihr innerer
Deal: Wo Widerstand zwecklos erscheint, lässt sie es „über sich ergehen“,
um sich an anderer Stelle zu verweigern, nicht alles mitzumachen.
Einmal wird sie von einem Arzt auf eine mögliche Schwangerschaft
untersucht. Aufgrund ihrer Vorgeschichte ein völlig abwegiger Verdacht.
„Ich lag auf dem Stuhl“, erinnert sie sich, „und hätte ihn am liebsten m…
dem Fuß weggestoßen.“ Währenddessen habe der Arzt „einen auf Konversation
gemacht“, wie es so in der Schule laufe. „Ich dachte, ich spinne! Warum
sind die alle so feige, die Ärzte, die Schwestern? Aber letztlich habe ich
es über mich ergehen lassen.“ Das Regime der Schwestern ist streng, der Ton
befehlsmäßig, kommt aber ohne körperliche Gewalt aus.
47 Jahre später, im Februar 2025, steht Martina Blankenfeld im Flur des
ersten Stocks des Museums Berlin-Pankow. Im großen Sitzungssaal tritt die
Gedenktafelkommission des Bezirks zusammen. Gleich wird man sie
hereinrufen, damit sie noch einmal ihren Antrag für eine Gedenktafel
begründen kann.
Aufgeregt? – „Nee.“
Warum nicht? – „Na, weil es so ist.“
Martina Blankenfeld ist im Lauf der Jahre zu einer Expertin in eigener
Sache geworden. Sie spricht nicht das erste Mal vor einer Kommission.
Während wir das ehemalige Klinikgebäude betrachten, sagt sie: „Es macht mir
nichts aus, hier zu stehen. Ich bedauere nur, dass ich nach der Wende nicht
losgezogen bin und Haus 114 außen wie innen fotografiert habe.“ Die
Aktenlage zu den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR ist
schwierig.
Noch schwieriger: der Zugang dazu. Manches ist verschwunden, Vieles liegt
unter Verschluss. Zeitzeuginnen und ehemalige Mitarbeiter, die von ihren
Erfahrungen berichten wollen, lassen sich nur schwer finden. Ohne dass es
ein öffentliches Interesse an dem Thema gibt und wissenschaftliche
Forschungsaufträge erfolgen, werden sich die Archive kaum von allein
öffnen.
Nach heutigem Wissensstand hat es elf geschlossene venerologische Stationen
in der ganzen DDR gegeben. Eine davon befand sich in Ostberlin, zunächst in
der Nordmarkstraße (heute Fröbelstraße) im Krankenhaus Prenzlauer Berg, und
als diese wegen Baufälligkeit geschlossen werden musste, zog sie 1971 nach
Berlin-Buch um. Auch die zentrale Beratungs- und Behandlungsstelle für die
Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die alle Maßnahmen koordinieren
sollte, war dort untergebracht.
Der Kampf gegen Syphilis oder Gonorrhoe, also Tripper, ist nach dem Zweiten
Weltkrieg in Ost und West gleichermaßen ein Thema gewesen.
Isolationsstationen gab es nicht nur in der DDR. Auch die Alliierten
installierten in den Westzonen Stationen und Häuser zur räumlichen Trennung
der Infizierten, aber hier ging es um Heilung. In der Sowjetischen
Besatzungszone und späteren DDR entstanden nach sowjetischem Vorbild
geschlossene Anstalten, die neben der medizinischen Behandlung einen
erzieherischen Auftrag hatten.
Penicillin erwies sich ab Anfang der 1950er Jahre als wirksames Mittel in
der Therapie von Geschlechtskrankheiten. Während die BRD ihre Stationen
nach und nach schloss, beließ es die DDR bei ihrer rigiden
Präventionsstrategie und Praxis. 1961 trat die Verordnung zur „Verhütung
und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ in Kraft. Sie knüpfte an die
Gesetzgebung der Weimarer Republik und des Kaiserreichs an.
Damit überführte sie ein traditionelles und patriarchalisch geprägtes
Frauenbild erfolgreich in die sozialistische Arbeitsgesellschaft. Frauen
galten als Gefährderinnen und potenzielle Infektionsquelle, als hätten
nicht ebenso Männer Frauen anstecken können. Es hat zwar auch Stationen
gegeben in der DDR, auf denen Männer behandelt wurden, aber es waren keine
geschlossenen Krankenstationen.
## Gab es Fälle von sexualisierter Gewalt?
„Es traf speziell Frauen und Mädchen“, erklärt Florian Steger, Professor …
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Ulm. Er hat als
erster Wissenschaftler zu dem Thema geforscht. Viele der Mädchen und Frauen
kamen aus sozial oder familiär schwierigen Verhältnissen. „In der Praxis
wird ab den 1960er Jahren aus einer medizinischen Indikation wie Gonorrhoe
oder Syphilis eine soziale Indikation“, sagt der Medizinhistoriker.
Faktoren wie „Arbeitsbummelei“, „Herumtreiberei“ oder „Unzuverlässig…
werden zur Diagnose herangezogen, sozial abweichendes oder auffälliges
Verhalten wird bestraft. Trotzdem unterzog man die Patientinnen oft
brutalen gynäkologischen Untersuchungen. „Spätestens nach dem zweiten
Abstrich weiß man als Arzt, dass kein Keim da ist“, sagt Florian Steger.
„Es gab keinen Grund, die Mädchen und Frauen länger dazubehalten. Für mich
beginnt an diesem Punkt sexualisierte Gewalt.“
Bei seinen Recherchen, begonnen mit der geschlossenen venerologischen
Station der Poliklinik Mitte in Halle, ist Steger zu dem Ergebnis gekommen,
dass nicht mal 30 Prozent der Patientinnen Tripper oder eine andere
Geschlechtskrankheit gehabt hatten. Auch andere Quellen belegen dies.
Erst kürzlich konnte Florian Steger mit seinem Kollegen Maximilian Schochow
in Dresden 250 Akten des Krankenhauses Friedrichstadt aus dem Jahr 1969
auswerten – nach fast zehn Jahren Wartezeit. Die jüngste Patientin sei vier
Jahre alt gewesen, berichtet Steger am Telefon; nur 22 Prozent der
eingewiesenen Frauen in Dresden seien laut Akten geschlechtskrank gewesen.
Im Kern bestätigen diese Recherchen Ergebnisse aus Halle, Leipzig oder
Berlin-Buch – auch wenn dort bisher keine Patientenakten aufgetaucht sind.
Martina Blankenfeld hat wie viele Betroffene lange geschwiegen. An wen
hätte sie sich in der DDR wenden sollen? Nach der Wiedervereinigung dauerte
es noch viele Jahre, bis man begann, DDR-spezifisches Unrecht
aufzuarbeiten.
Laut der Verordnung von 1961 hatten Zwangseinweisungen erst dann zu
geschehen, wenn sich Erkrankte einer freiwilligen medizinischen Behandlung
entzogen. Die Praxis war anders: Da reichte der Verdacht auf eine
Infektion. So ein Verdacht ist schnell geäußert, schnell beschafft.
Martina Blankenfeld ahnt nichts, als ein Pkw sie an jenem Tag Ende April
1978 vor dem Gebäude der Hautklinik in Buch absetzt. Niemand habe ihr
unterwegs gesagt, wohin es geht, so erinnert sie es. Niemand habe ihr die
vorläufige Verfügung „zur Sicherung der weiteren Erziehung und Entwicklung
der Jugendlichen Martina Blankenfeld“ vorgelesen, mit der das Jugendamt
Lichtenberg für die 15-Jährige Heimerziehung anordnet. Das Schriftstück
besitzt sie heute in einer Kopie.
Die Anordnung der Heimerziehung wird damit begründet, dass die Jugendliche
Martina Blankenfeld ihre Umgebung durch „massive Fehlverhaltensweisen“
gefährde. Genannt werden: dass sie „die Schule bummelt“, „enge Verbindung
zu einer negativen Freizeitgruppe“ und „häufig wechselnde sexuelle
Kontakte“ habe, sich „oft im Arbeiterwohnheim aufhält“.
Die Vorwürfe basieren auf angeblichen Beobachtungen des „Genossen ABV“, des
Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei – eine Art
Kontaktbereichsbeamter in der DDR –, sowie der behandelnden Ärztin der
Mutter. Die Anordnung schließt: „Außerdem besteht der dringende Verdacht,
dass die Mutter bei einem Weiterverbleiben der Jugendlichen im häuslichen
Bereich an Leben und Gesundheit gefährdet ist.“
Das Schriftstück enthält alle Schlagworte und Argumente, die das Vorgehen
der Behörden rechtfertigen sollen. „Die wechselnden sexuellen Kontakte
waren reine Unterstellung“, sagt Blankenfeld. „Mich mit Jungs
auszuprobieren, lag mir zu der Zeit völlig fern. Das Arbeiterwohnheim lag
schlicht gegenüber unserer Wohnung, wo wir Jugendlichen draußen zwei Tische
als Treff nutzen durften.“
Der Suizidversuch findet mit keinem Wort Erwähnung. „Ich wollte, dass man
sich mit mir auseinandersetzt“, erinnert sich Blankenfeld. „Es gab in der
DDR Hilfsangebote“, stellt sie klar. „Aber die haben mich nicht erreicht.
Du kannst als Kind keinen Antrag stellen: Ich brauche Unterstützung, weil
ich überfordert bin mit dem Leben.“ Ihr Sarkasmus ist immer von einer Prise
Selbstironie durchzogen. Das Kind Martina ist eindeutig überfordert vom
Leben und ihrer Familie. Eine psychisch labile Mutter, auf die immer wieder
Rücksicht zu nehmen ist. Ein Stiefvater, der sie als Achtjährige mehrfach
missbraucht. Eine Mutter, die ihr nicht glaubt (im Gegensatz zur
Großmutter).
Sie sind nur zu fünft auf der geschlossenen Station, das könnte an noch
nicht abgeschlossenen Umbaumaßnahmen gelegen haben. 1977, ein Jahr bevor
Martina Blankenfeld ins Klinikum Buch kommt, war es zu Fluchtversuchen von
fünf Mädchen, körperlichen Angriffen und Zerstörung der kargen
Inneneinrichtung auf der 114 c gekommen. Zerrissenes Bettzeug,
aufgebrochene Eisengitter werden berichtet. Ein Mädchen blieb nach einem
Sprung aus dem Fenster querschnittsgelähmt.
Das weiß Martina Blankenfeld, weil sie im Landesarchiv Berlin auf das
Protokoll einer Direktoriumssitzung des Klinikums gestoßen ist, bei der die
„besonderen Vorkommnisse“ thematisiert und harte Konsequenzen diskutiert
wurden. Das Ministerium für Gesundheitswesen und die Staatssicherheit waren
informiert. Wir verabreden uns bei ihr zu Hause im Westen Berlins,
geografisch hat die Ur-Ostberlinerin einmal komplett die Seite gewechselt.
Sie trägt den Computer in die kleine Küche, ihre Dokumente sind in
zahlreichen Dateien und Unterdateien auf dem Computer gespeichert. Scans
von Kopien, Akten, Zeitungsartikel. Ein Schulzeugnis hat sie noch, das
Schreiben des Jugendamtes, eine Postkarte einer Erzieherin aus dem
Jugendwerkhof, wo sie später landete.
Sie klickt sich durch viele Dateien, bis sie den „Maßnahmeplan“ findet, der
im August 1977 nach dem Aufstand der jungen Frauen erstellt wurde. Chefarzt
Professor Günter Elste forderte mehr Personal und strengere
Sicherheitsmaßnahmen. Die zu ihrer Zeit in der Wand befestigten Betten und
Eisengitter an Tür und Fenstern führt Martina Blankenfeld darauf zurück.
Dass die Zerstörungswut, Rebellion und Fluchtversuche mit der desolaten
Situation der Mädchen und Frauen zu tun haben könnten, auf die Idee kam man
bei Klinikleitung und Behörden nicht.
## Der Klinikleiter ist für „Arbeitserziehung“
Der renommierte Dermatologe Günter Elste, der die Hautklinik von 1968 bis
zu seinem Tod 1988 leitete und die DDR international bei WHO-Konferenzen
vertreten durfte, charakterisiert seine Patientinnen als „asoziale
Elemente, Personen mit gemindertem Bildungsgrad, teils sogar kriminellen
Erfahrungen“. In einer Fachzeitschrift rät er dazu, gegenüber „notorisch
uneinsichtigen Gefährdeten und Kranken'“ mehr vom Strafgesetzbuch Gebrauch
zu machen. Statt Haftstrafen empfiehlt Elste „Arbeitserziehung nicht unter
der Dauer eines Jahres“.
Arbeitserziehung – das bedeutete Jugendwerkhof. Eine Spezialerfindung der
DDR, in denen Jugendliche unter knastähnlichen Bedingungen körperlich hart
arbeiten mussten. „Holla, die Waldfee“, kommentiert Martina Blankenfeld die
Empfehlung Professor Elstes in ihrer Wohnung. „Dass Ärzte so viel Macht
hatten!“ Und dass ihr Einfluss weit über das Krankenhaus hinausging, dass
sie sich vom SED-Staat einspannen ließen, macht sie wütend. Es ging darum,
sozial abweichendes Verhalten zu strafen, den sozialistischen
Erziehungsauftrag umzusetzen und angeblich gefährdete junge Menschen in den
Arbeitsprozess zu integrieren. „In Wirklichkeit brauchten sie uns als
ungelernte Arbeitskräfte“, sagt Martina Blankenfeld.
Für sie ging es auf den Jugendwerkhof August Bebel in Burg nahe Magdeburg.
Dort arbeitet Martina Blankenfeld zweieinhalb Jahre in der Landwirtschaft
und wird mit 18 „lebensuntüchtig“, wie sie sagt, ins Leben entlassen. Ihre
Ausbildung zum „Teilfacharbeiter Gärtner“, wie es im DDR-Jargon hieß, war
schon damals kein ordentlicher Berufsabschluss und wurde nach der Wende
nicht anerkannt. Die letzten 12 Monate verbringt Martina Blankenfeld
dennoch freiwillig im Werkhof, um nicht nach Hause zurückkehren zu müssen.
„Ich habe danach lange gebraucht, um meinen Platz in der Gesellschaft zu
finden“, sagt sie und spricht von Identitätskrisen im Plural. „Wie oft habe
ich mich gefragt, was wäre gewesen, wenn mir das alles nicht passiert wäre.
Wäre es besser gewesen?“ Als 2012 der Fonds Heimerziehung in der DDR
aufgelegt wurde, begann auch Martina Blankenfeld, zu ihrer eigenen
Biografie zu recherchieren.
Die Idee einer Erinnerungstafel treibt sie schon länger um. Doch erst im
Herbst 2024 ist sie auch bereit, beim Bezirk Pankow den Antrag zu stellen.
Persönliche Einladung, positives Feedback. Doch bis zur endgültigen
Entscheidung kann es ein paar Monate dauern. Ein Fachgutachten soll
erstellt werden. Stattdessen kommt im Dezember eine Einladung zu einer
Ausstellung in Leipzig, der Titel: „Einweisungsgrund: Herumtreiberei.
Disziplinierung in Venerologischen Stationen und Spezialheimen der DDR“.
Ihr Thema! Es tut sich was. Im Begleitprogramm findet am Nikolaustag ein
„Erzählcafé“ statt.
Martina Blankenfeld zögert hinzufahren. Viele Menschen strengen sie an. Die
Ausstellung findet in der ehemaligen Thonbergklinik statt und ist eine
Kooperation der Leipziger Initiative Riebeckstraße 63 mit der Gedenkstätte
Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Die Initiator*innen begrüßen die
Anwesenden, etwa 15 Betroffene und Interessierte sitzen um einen langen
Tisch.
Das Erzählcafé findet in unregelmäßigen Abständen statt. In Berlin gibt es
so etwas nicht. Kaffee und Weihnachtsgebäck stehen auf dem Tisch. Wie so
oft, wenn Betroffene mit ihrem Schicksal und den Folgen ringen, ist die
Dynamik unvorhersehbar. Eine Frau bricht in Tränen aus, ihr Redefluss und
ihre rechtlichen Fragen zur Rehabilitierung sprengen fast die Runde. Es
geht unter anderem um die Neuregelung der Opferrente, die zum 1. Juli auf
400 Euro angehoben werden soll.
Martina Blankenfeld kommt lange nicht zu Wort. Dann stellt sie ihr
Erinnerungsprojekt für Berlin vor, berichtet von ihren Bemühungen,
Dokumente und Belege zu finden. Sie hat beim Bundes- und beim Landesarchiv
Berlin angefragt sowie beim Helios Klinikum, dem juristischen Nachfolger
des Klinikums Buch. Mehrere der Anwesenden haben wie sie das Zusammenspiel
der DDR-Erziehungsinstitutionen hautnah erlebt, von der einen an die
nächste weitergereicht: vom Krankenhaus ins Heim und in den Jugendwerkhof.
„Ich finde, die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sollte auch
für kleinere Projekte mehr Geld ausgeben“, sagt Martina Blankenfeld. „Das
habe ich auch schon mal persönlich dort gesagt. Sie haben einen Auftrag.“
Immerhin: Die Wanderausstellung [1][„Einweisungsgrund: Herumtreiberei“]
wurde von der Bundesstiftung Aufarbeitung mitfinanziert. Die Ausstellung
wandert nicht nur, sie soll auch wachsen. Als nächstes steht Halle (Saale)
auf dem Programm, Gera, Rostock und Leipzig sind abgemacht. Auch in diesen
Städten hat es geschlossene venerologische Stationen gegeben. Bei jeder
Station wird eine neue Schautafel dazukommen. Und weil Martina Blankenfeld
davon den Leuten vom Museum Pankow erzählt, wird „Einweisungsgrund:
Herumtreiberei“ nun auch im Spätherbst in Berlin zu sehen sein.
„Das zeigt doch, dass aus so einer Gedenktafel noch mehr werden kann“,
freut sich Kristin Witte vom Museum Pankow. Die Museumsmitarbeiterin ist
Historikerin und hat das Fachgutachten für die entscheidende Sitzung der
Gedenktafelkommission im Februar 2025 erarbeitet. „Wir waren alle sehr
beeindruckt“, erinnert sie sich an Martina Blankenfelds Auftritt. „Es kommt
nicht häufig vor, dass der Antrag wirklich von der Betroffenen selbst
gestellt wird“, erklärt die Museumsmitarbeiterin. „Oft haben wir
Gedenktafeln, die von interessierten Bürgern und Bürgerinnen initiiert
werden, von Initiativen oder Vereinen. Aber sie hat es selbst erlebt.“
Ende Februar 2025 ist es so weit. Die entscheidende Sitzung findet statt.
Martina Blankenfeld kommt aus dem Saal. „Das Projekt ist angenommen“, sagt
sie, und ein leichtes Nachbeben liegt trotz aller Coolness in ihrer Stimme.
„Ich werde bei allen Schritten in die Konzeption mit einbezogen.“
Beim Spaziergang in Berlin-Buch setzt sich Martina Blankenfeld in einen
Pavillon, der auf einer Wiese steht, und schaut sich um. Ob sie sich die
Gedenkstele auf dem ehemaligen Klinikgelände vorstellen kann? „Na ja“,
sagt sie, „viel Publikumsverkehr ist hier nicht.“ Andererseits sei dafür
auch nicht so schnell mit Schmierereien oder Beschädigung zu rechnen.
Nach ihrer Entlassung aus dem Jugendwerkhof jobbt Martina Blankenfeld,
bekommt einen Sohn, stellt einen Ausreiseantrag, der nicht mehr realisiert
wird, weil die Mauer fällt. Nach der Wende arbeitet sie im sozialen Bereich
und finanziert sich 2012 mit einer Entschädigungssumme aus dem Fonds
Heimerziehung in der DDR eine dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zur
Theaterpädagogin. „Dass ich meinen alten Lebenstraum Theater verwirklicht
habe, darauf bin ich stolz!“, sagt sie. Sie hat ein Theaterstück und eine
szenische Lesung mit Erinnerungsprotokollen gemacht. Jetzt ist sie
frühverrentet.
„Was ich nie besessen habe, war Unbefangenheit“, sagt Martina Blankenfeld.
„Außer in der Familie habe ich auch in der Schule oder im Kindergarten
körperliche Übergriffe erlebt.“ Der Krankenhausaufenthalt reiht sich ein in
eine Kette von Gewalterfahrungen. Wie erzählt man seinen Mitmenschen,
Liebhabern, einem Sohn, dass man sexualisierte Gewalt erlebt hat? „Das war
immer ein Teil von mir“, sagt Martina Blankenfeld, „ich habe das nie
weggesteckt oder verdrängt. Ich kannte ja den Grund, warum sich manche
Dinge bei mir umständlicher äußern oder warum ich keinen geradlinigen
biografischen Bewerbungsbogen ausfüllen konnte.“
Martina Blankenfeld ist Einzelgängerin, auch Einzelkämpferin. Zu ehemaligen
Insassinnen der Station 114 c hat sie keinen Kontakt, es gibt es keine
Vernetzung. Ein Erzählcafé in Berlin, wäre das etwas für sie? Eine
Facebook-Gruppe? „Eher nicht“, sagt sie nur. Ein ordentlicher
Forschungsauftrag für die Medizingeschichte wäre ihr lieber.
Mit dem Erinnerungsprojekt geht es in kleinen Schritten voran. Eine
Gedenktafel kann sowohl eine Plakette als auch eine große Stele sein,
zweiseitig oder zweiteilig, kann viel oder wenig Text haben, Fotos oder
Audio. Nun werden noch mal die Archive angefragt – und das von offizieller
Stelle, freut sich Martina Blankenfeld. Dem Bezirksamt selbst steht nur ein
begrenztes Budget zur Verfügung, je nach Format und Inhalt müssen noch
Fördergelder eingeworben werden. Martina Blankenfeld hat da schon einige
Ideen. „Ich bin angeknipst“, sagt sie. „Man muss nur Bescheid geben.“
23 Jun 2025
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Sabine Seifert
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