# taz.de -- Zwangseinrichtungen in der DDR: Die Mädchen von der 114 c | |
> In sogenannten Tripperburgen wurden in der DDR Tausende junge Frauen | |
> eingesperrt und diszipliniert – auch Martina Blankenfeld. Sie kämpft für | |
> ein Gedenken. | |
Bild: „Ich dachte, ich sei in der Klapse gelandet“: Martina Blankenfeld heu… | |
An ihre Ankunft im Klinikum Berlin-Buch erinnert Martina Blankenfeld sich | |
noch gut. Eine Ärztin habe hinter einem Schreibtisch gesessen und Fragen | |
gestellt, die sie nicht verstand. Wann hattest du das letzte Mal | |
Geschlechtsverkehr? Wie heißt dein Freund? Hast du dich schon einmal selbst | |
befriedigt? „Ich bin aus dem Staunen gar nicht mehr rausgekommen“, sagt | |
Martina Blankenfeld heute. Während der Aufnahmeprozedur habe sie andere | |
Patientinnen der Station gegen die vergitterte Tür trommeln hören, dazu | |
hätten sie gesungen: „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger, wir haben Durst!“ | |
„Ich dachte, ich sei in der Klapse gelandet“, sagt Martina Blankenfeld | |
heute. Die „Klapse“ kannte sie, ihre Mutter war dort oft. Aber Station 114 | |
c ist keine Psychiatrie. Sie ist ein Spezifikum der DDR, über das bis heute | |
wenig öffentlich bekannt ist. Auf geschlossene venerologische Stationen | |
kamen Frauen und Mädchen ab 12 Jahren, denen unterstellt wurde, sie könnten | |
sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen haben. Venerologie nennt man die | |
Lehre der sexuell übertragbaren Erkrankungen. | |
Heute weiß man: Der Verdacht war vorgeschoben. Die wenigsten Patientinnen | |
hatten tatsächlich eine Geschlechtskrankheit. Auch Martina Blankenfeld | |
nicht. Zwangseingewiesen wurden Frauen, die als „asozial“ galten. Die DDR | |
nannte sie: „Herumtreiberinnen“, „Bummelantinnen“ oder „Personen mit … | |
wechselndem Geschlechtsverkehr“. Auf den geschlossenen venerologischen | |
Stationen sollten sie politisch diszipliniert werden. | |
Die Station 114 c im Klinikum Berlin-Buch war eine solche Station. Sie | |
gehörte zur Venerologie, der Abteilung für Haut- und | |
Geschlechtskrankheiten. Umgangssprachlich hießen die geschlossenen | |
venerologischen Stationen in der DDR „Tripperburgen“. Und tatsächlich waren | |
sie wie eine Festung, aus der es so schnell kein Entkommen gab. | |
Martina Blankenfeld hat einen Suizidversuch hinter sich, als sie gegen | |
ihren Willen in dieser Festung landet. Es ist ein Apriltag im Jahr 1978, | |
als sie beschließt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie ist 15 Jahre alt. | |
Sie sucht die Schmerz- und Beruhigungstabletten zusammen, die in der | |
elterlichen Wohnung in Berlin-Karlshorst schachtelweise herumliegen. Ihre | |
Mutter, vom Krieg traumatisiert, ist psychisch krank. | |
Martina Blankenfeld schluckt die Tabletten, geht zur Schule und kehrt um, | |
bricht schließlich im Bad zusammen. Sie überlebt, bleibt mehrere Tage im | |
Kinderkrankenhaus. Als es ihr besser geht, kommt sie aber nicht nach Hause. | |
Sie wird verlegt in das Klinikum Berlin-Buch, Station 114 c. Die Fenster | |
sind vergittert, lassen sich nicht öffnen. Die Betten sind im Boden | |
verankert. | |
Bis heute gibt es kaum Zahlen dazu, wie viele Frauen in der DDR auf eine | |
geschlossene venerologische Station eingewiesen wurden. Wissenschaftliche | |
Schätzungen gehen von mehreren Zehntausend aus. In einigen Städten scheinen | |
Akten ganz verschwunden zu sein oder, wenn doch vorhanden, werden sie nur | |
zögerlich freigegeben. Vor allem aber fehlt es an Frauen, die über ihre | |
Erfahrungen sprechen. Viele haben aus Scham geschwiegen. Anders als die | |
Jugendwerkhöfe, die Wochenkrippen und Kinderheime der DDR sind die | |
geschlossenen venerologischen Stationen bisher historisch wenig erforscht. | |
## Ihr Ziel: Eine Erinnerungstafel | |
Martina Blankenfeld will das ändern. An einem kalten Tag im Frühjahr 2025 | |
steht sie vor dem Haus der früheren Station 114 c. „Der Weg, die | |
Pflastersteine, alles ist noch original wie früher“, sagt sie. Die Klinik | |
wurde nach der Wende abgewickelt, das denkmalgeschützte Ensemble blieb | |
erhalten und wurde zu Eigentumswohnungen umgebaut. Der Wind fegt durch die | |
kahlen Bäume, die Sonne scheint und wärmt nicht. Nichts erinnert an das | |
Schicksal der Frauen, die hier behandelt worden sind. Wenn es nach Martina | |
Blankenfeld geht, soll hier bald eine Erinnerungstafel hängen. Dafür setzt | |
sie sich ein. | |
Martina Blankenfeld kämpft schon lange für Gerechtigkeit für sich und die | |
Betroffenen. Sie hat sich durch Archive gefragt, um Dokumente zu finden, | |
die beweisen, dass es die Station 114 c wirklich gegeben hat. Sie hat ihre | |
Vergangenheit zu ihrer Geschichte gemacht. Dieser Artikel beruht auf ihren | |
Erzählungen und den vielen Unterlagen, die sie auf ihrem Computer gesammelt | |
hat. Die Öffentlichkeit soll wissen, was ihr und vielen anderen widerfahren | |
ist. Dafür hat sie im September 2024 beim Bezirk Pankow, zu dem der | |
Ortsteil Buch heute gehört, einen Antrag eingereicht. | |
61 Jahre alt ist Martina Blankenfeld heute, aufgewachsen in Ost-Berlin. | |
Groß von Statur, lange dunkle Haare, die im Ansatz von einer weißen Strähne | |
durchzogen sind. Ihre Stimme ist kräftig und tief. Was sie sagt, | |
unterstreicht sie mit den Händen. Sie ist stets schlagfertig, geradeaus, | |
direkt. | |
Die Worte purzeln nur so aus ihrem Mund, lassen manchmal Luftlöcher mit | |
Gedankenpausen entstehen. Dann biegt sie in eine andere Richtung ab, um am | |
Ende genau dort anzukommen, wo sie hinwollte. Martina Blankenfeld hat | |
gelernt, sich zu schützen. Mit Ärzten, Therapeutinnen und Behörden hat sie | |
schlechte Erfahrungen gemacht, Hierarchien bereiten ihr Unbehagen. | |
Von außen hat sich das Haus, in dem sich damals die Station 114 c befand | |
und das heute die Nummer 14 trägt, kaum verändert. Nur dass es einen | |
pastellfarbenen Anstrich bekommen hat. Hübsch sei es hier heute, sagt | |
Blankenfeld, schön friedlich. Trotzdem muss sie erst mal eine rauchen. | |
„Im ersten Stock war unsere Station“, sagt sie und zeigt nach oben. „Die | |
Fenster waren von innen vergittert und hatten trübes, drahtdurchzogenes | |
Glas.“ Konnte man lüften oder durfte man in den Hof? „Nee.“ Die Mädchen… | |
Frauen auf der 114 c bekamen keine Beschäftigung, hatten keine | |
Unterhaltung. Sie wurden sich selbst überlassen und wie im Asyl verwahrt. | |
Einmal habe sie sich einen Besen gegriffen, um damit „Bonanza“ zu spielen, | |
erzählt Martina Blankenfeld und fällt in die Melodie der alten Westernserie | |
ein. „Aus Langeweile hatte ich mir aus der Bettwäsche ein Kostüm gebastelt. | |
Und dann bin ich vor lauter Übermut mit dem Besenstiel aufs Fenster | |
zugeritten.“ Die Scheibe hatte daraufhin ein Loch und sei später ihrer | |
Mutter in Rechnung gestellt worden. „Aber wir konnten die frische Regenluft | |
atmen. Das tat gut!“ | |
Auf Anfrage bekommen die Mädchen Schreibmaterial zur Verfügung gestellt, um | |
an die Eltern zu schreiben. Martina Blankenfeld schreibt eine Postkarte an | |
ihre Mutter und malt mit Bleistift eine schöne große Burg über der Tür des | |
Krankenzimmers. Darüber schreibt sie: „Willkommen in der Tripperburg!“ | |
21 Tage verbringt Martina Blankenfeld auf der Station 114 c. Tage der | |
Ungewissheit, der Zweifel, des Ausgeliefertseins. „Warum bin ich hier? Wie | |
geht es weiter?“ Fragen, die ihr niemand beantwortet. Die Untersuchungen | |
finden in der Regel morgens statt. Täglich werden Abstriche gemacht, oft | |
wird auch ein Spekulum eingeführt. Auch Allergietests auf dem Rücken | |
gehören zur Routine. Es sind Cremes, die auf das Auslösen von | |
Hautirritationen geprüft werden, so erinnert es Martina Blankenfeld. Heute | |
weiß man, dass Medikamente, auch im Auftrag von Westfirmen, in | |
DDR-Krankenhäusern getestet wurden. | |
In Berlin-Buch könnten auch Kosmetikprodukte an den Jugendlichen getestet | |
worden sein, nachweisen lässt sich das nicht. Dass den Mädchen | |
Schönheitsprodukte zur Verfügung gestellt wurden, bestätigt Blankenfeld. | |
Die Mitpatientinnen hätten sich auf die angebotenen Schminkutensilien | |
„gestürzt“, sagt sie. Ihre Sache sei das nicht gewesen. „Dass sie uns | |
einerseits unterstellten, wir seien mannstoll, und uns andererseits zum | |
Schminken aufforderten, finde ich im Nachhinein völlig absurd.“ | |
Medikamente einzunehmen, verweigert sie. Doch den Untersuchungen auf dem | |
gynäkologischen Stuhl kann sie sich nicht entziehen. Das ist ihr innerer | |
Deal: Wo Widerstand zwecklos erscheint, lässt sie es „über sich ergehen“, | |
um sich an anderer Stelle zu verweigern, nicht alles mitzumachen. | |
Einmal wird sie von einem Arzt auf eine mögliche Schwangerschaft | |
untersucht. Aufgrund ihrer Vorgeschichte ein völlig abwegiger Verdacht. | |
„Ich lag auf dem Stuhl“, erinnert sie sich, „und hätte ihn am liebsten m… | |
dem Fuß weggestoßen.“ Währenddessen habe der Arzt „einen auf Konversation | |
gemacht“, wie es so in der Schule laufe. „Ich dachte, ich spinne! Warum | |
sind die alle so feige, die Ärzte, die Schwestern? Aber letztlich habe ich | |
es über mich ergehen lassen.“ Das Regime der Schwestern ist streng, der Ton | |
befehlsmäßig, kommt aber ohne körperliche Gewalt aus. | |
47 Jahre später, im Februar 2025, steht Martina Blankenfeld im Flur des | |
ersten Stocks des Museums Berlin-Pankow. Im großen Sitzungssaal tritt die | |
Gedenktafelkommission des Bezirks zusammen. Gleich wird man sie | |
hereinrufen, damit sie noch einmal ihren Antrag für eine Gedenktafel | |
begründen kann. | |
Aufgeregt? – „Nee.“ | |
Warum nicht? – „Na, weil es so ist.“ | |
Martina Blankenfeld ist im Lauf der Jahre zu einer Expertin in eigener | |
Sache geworden. Sie spricht nicht das erste Mal vor einer Kommission. | |
Während wir das ehemalige Klinikgebäude betrachten, sagt sie: „Es macht mir | |
nichts aus, hier zu stehen. Ich bedauere nur, dass ich nach der Wende nicht | |
losgezogen bin und Haus 114 außen wie innen fotografiert habe.“ Die | |
Aktenlage zu den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR ist | |
schwierig. | |
Noch schwieriger: der Zugang dazu. Manches ist verschwunden, Vieles liegt | |
unter Verschluss. Zeitzeuginnen und ehemalige Mitarbeiter, die von ihren | |
Erfahrungen berichten wollen, lassen sich nur schwer finden. Ohne dass es | |
ein öffentliches Interesse an dem Thema gibt und wissenschaftliche | |
Forschungsaufträge erfolgen, werden sich die Archive kaum von allein | |
öffnen. | |
Nach heutigem Wissensstand hat es elf geschlossene venerologische Stationen | |
in der ganzen DDR gegeben. Eine davon befand sich in Ostberlin, zunächst in | |
der Nordmarkstraße (heute Fröbelstraße) im Krankenhaus Prenzlauer Berg, und | |
als diese wegen Baufälligkeit geschlossen werden musste, zog sie 1971 nach | |
Berlin-Buch um. Auch die zentrale Beratungs- und Behandlungsstelle für die | |
Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, die alle Maßnahmen koordinieren | |
sollte, war dort untergebracht. | |
Der Kampf gegen Syphilis oder Gonorrhoe, also Tripper, ist nach dem Zweiten | |
Weltkrieg in Ost und West gleichermaßen ein Thema gewesen. | |
Isolationsstationen gab es nicht nur in der DDR. Auch die Alliierten | |
installierten in den Westzonen Stationen und Häuser zur räumlichen Trennung | |
der Infizierten, aber hier ging es um Heilung. In der Sowjetischen | |
Besatzungszone und späteren DDR entstanden nach sowjetischem Vorbild | |
geschlossene Anstalten, die neben der medizinischen Behandlung einen | |
erzieherischen Auftrag hatten. | |
Penicillin erwies sich ab Anfang der 1950er Jahre als wirksames Mittel in | |
der Therapie von Geschlechtskrankheiten. Während die BRD ihre Stationen | |
nach und nach schloss, beließ es die DDR bei ihrer rigiden | |
Präventionsstrategie und Praxis. 1961 trat die Verordnung zur „Verhütung | |
und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ in Kraft. Sie knüpfte an die | |
Gesetzgebung der Weimarer Republik und des Kaiserreichs an. | |
Damit überführte sie ein traditionelles und patriarchalisch geprägtes | |
Frauenbild erfolgreich in die sozialistische Arbeitsgesellschaft. Frauen | |
galten als Gefährderinnen und potenzielle Infektionsquelle, als hätten | |
nicht ebenso Männer Frauen anstecken können. Es hat zwar auch Stationen | |
gegeben in der DDR, auf denen Männer behandelt wurden, aber es waren keine | |
geschlossenen Krankenstationen. | |
## Gab es Fälle von sexualisierter Gewalt? | |
„Es traf speziell Frauen und Mädchen“, erklärt Florian Steger, Professor … | |
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Ulm. Er hat als | |
erster Wissenschaftler zu dem Thema geforscht. Viele der Mädchen und Frauen | |
kamen aus sozial oder familiär schwierigen Verhältnissen. „In der Praxis | |
wird ab den 1960er Jahren aus einer medizinischen Indikation wie Gonorrhoe | |
oder Syphilis eine soziale Indikation“, sagt der Medizinhistoriker. | |
Faktoren wie „Arbeitsbummelei“, „Herumtreiberei“ oder „Unzuverlässig… | |
werden zur Diagnose herangezogen, sozial abweichendes oder auffälliges | |
Verhalten wird bestraft. Trotzdem unterzog man die Patientinnen oft | |
brutalen gynäkologischen Untersuchungen. „Spätestens nach dem zweiten | |
Abstrich weiß man als Arzt, dass kein Keim da ist“, sagt Florian Steger. | |
„Es gab keinen Grund, die Mädchen und Frauen länger dazubehalten. Für mich | |
beginnt an diesem Punkt sexualisierte Gewalt.“ | |
Bei seinen Recherchen, begonnen mit der geschlossenen venerologischen | |
Station der Poliklinik Mitte in Halle, ist Steger zu dem Ergebnis gekommen, | |
dass nicht mal 30 Prozent der Patientinnen Tripper oder eine andere | |
Geschlechtskrankheit gehabt hatten. Auch andere Quellen belegen dies. | |
Erst kürzlich konnte Florian Steger mit seinem Kollegen Maximilian Schochow | |
in Dresden 250 Akten des Krankenhauses Friedrichstadt aus dem Jahr 1969 | |
auswerten – nach fast zehn Jahren Wartezeit. Die jüngste Patientin sei vier | |
Jahre alt gewesen, berichtet Steger am Telefon; nur 22 Prozent der | |
eingewiesenen Frauen in Dresden seien laut Akten geschlechtskrank gewesen. | |
Im Kern bestätigen diese Recherchen Ergebnisse aus Halle, Leipzig oder | |
Berlin-Buch – auch wenn dort bisher keine Patientenakten aufgetaucht sind. | |
Martina Blankenfeld hat wie viele Betroffene lange geschwiegen. An wen | |
hätte sie sich in der DDR wenden sollen? Nach der Wiedervereinigung dauerte | |
es noch viele Jahre, bis man begann, DDR-spezifisches Unrecht | |
aufzuarbeiten. | |
Laut der Verordnung von 1961 hatten Zwangseinweisungen erst dann zu | |
geschehen, wenn sich Erkrankte einer freiwilligen medizinischen Behandlung | |
entzogen. Die Praxis war anders: Da reichte der Verdacht auf eine | |
Infektion. So ein Verdacht ist schnell geäußert, schnell beschafft. | |
Martina Blankenfeld ahnt nichts, als ein Pkw sie an jenem Tag Ende April | |
1978 vor dem Gebäude der Hautklinik in Buch absetzt. Niemand habe ihr | |
unterwegs gesagt, wohin es geht, so erinnert sie es. Niemand habe ihr die | |
vorläufige Verfügung „zur Sicherung der weiteren Erziehung und Entwicklung | |
der Jugendlichen Martina Blankenfeld“ vorgelesen, mit der das Jugendamt | |
Lichtenberg für die 15-Jährige Heimerziehung anordnet. Das Schriftstück | |
besitzt sie heute in einer Kopie. | |
Die Anordnung der Heimerziehung wird damit begründet, dass die Jugendliche | |
Martina Blankenfeld ihre Umgebung durch „massive Fehlverhaltensweisen“ | |
gefährde. Genannt werden: dass sie „die Schule bummelt“, „enge Verbindung | |
zu einer negativen Freizeitgruppe“ und „häufig wechselnde sexuelle | |
Kontakte“ habe, sich „oft im Arbeiterwohnheim aufhält“. | |
Die Vorwürfe basieren auf angeblichen Beobachtungen des „Genossen ABV“, des | |
Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei – eine Art | |
Kontaktbereichsbeamter in der DDR –, sowie der behandelnden Ärztin der | |
Mutter. Die Anordnung schließt: „Außerdem besteht der dringende Verdacht, | |
dass die Mutter bei einem Weiterverbleiben der Jugendlichen im häuslichen | |
Bereich an Leben und Gesundheit gefährdet ist.“ | |
Das Schriftstück enthält alle Schlagworte und Argumente, die das Vorgehen | |
der Behörden rechtfertigen sollen. „Die wechselnden sexuellen Kontakte | |
waren reine Unterstellung“, sagt Blankenfeld. „Mich mit Jungs | |
auszuprobieren, lag mir zu der Zeit völlig fern. Das Arbeiterwohnheim lag | |
schlicht gegenüber unserer Wohnung, wo wir Jugendlichen draußen zwei Tische | |
als Treff nutzen durften.“ | |
Der Suizidversuch findet mit keinem Wort Erwähnung. „Ich wollte, dass man | |
sich mit mir auseinandersetzt“, erinnert sich Blankenfeld. „Es gab in der | |
DDR Hilfsangebote“, stellt sie klar. „Aber die haben mich nicht erreicht. | |
Du kannst als Kind keinen Antrag stellen: Ich brauche Unterstützung, weil | |
ich überfordert bin mit dem Leben.“ Ihr Sarkasmus ist immer von einer Prise | |
Selbstironie durchzogen. Das Kind Martina ist eindeutig überfordert vom | |
Leben und ihrer Familie. Eine psychisch labile Mutter, auf die immer wieder | |
Rücksicht zu nehmen ist. Ein Stiefvater, der sie als Achtjährige mehrfach | |
missbraucht. Eine Mutter, die ihr nicht glaubt (im Gegensatz zur | |
Großmutter). | |
Sie sind nur zu fünft auf der geschlossenen Station, das könnte an noch | |
nicht abgeschlossenen Umbaumaßnahmen gelegen haben. 1977, ein Jahr bevor | |
Martina Blankenfeld ins Klinikum Buch kommt, war es zu Fluchtversuchen von | |
fünf Mädchen, körperlichen Angriffen und Zerstörung der kargen | |
Inneneinrichtung auf der 114 c gekommen. Zerrissenes Bettzeug, | |
aufgebrochene Eisengitter werden berichtet. Ein Mädchen blieb nach einem | |
Sprung aus dem Fenster querschnittsgelähmt. | |
Das weiß Martina Blankenfeld, weil sie im Landesarchiv Berlin auf das | |
Protokoll einer Direktoriumssitzung des Klinikums gestoßen ist, bei der die | |
„besonderen Vorkommnisse“ thematisiert und harte Konsequenzen diskutiert | |
wurden. Das Ministerium für Gesundheitswesen und die Staatssicherheit waren | |
informiert. Wir verabreden uns bei ihr zu Hause im Westen Berlins, | |
geografisch hat die Ur-Ostberlinerin einmal komplett die Seite gewechselt. | |
Sie trägt den Computer in die kleine Küche, ihre Dokumente sind in | |
zahlreichen Dateien und Unterdateien auf dem Computer gespeichert. Scans | |
von Kopien, Akten, Zeitungsartikel. Ein Schulzeugnis hat sie noch, das | |
Schreiben des Jugendamtes, eine Postkarte einer Erzieherin aus dem | |
Jugendwerkhof, wo sie später landete. | |
Sie klickt sich durch viele Dateien, bis sie den „Maßnahmeplan“ findet, der | |
im August 1977 nach dem Aufstand der jungen Frauen erstellt wurde. Chefarzt | |
Professor Günter Elste forderte mehr Personal und strengere | |
Sicherheitsmaßnahmen. Die zu ihrer Zeit in der Wand befestigten Betten und | |
Eisengitter an Tür und Fenstern führt Martina Blankenfeld darauf zurück. | |
Dass die Zerstörungswut, Rebellion und Fluchtversuche mit der desolaten | |
Situation der Mädchen und Frauen zu tun haben könnten, auf die Idee kam man | |
bei Klinikleitung und Behörden nicht. | |
## Der Klinikleiter ist für „Arbeitserziehung“ | |
Der renommierte Dermatologe Günter Elste, der die Hautklinik von 1968 bis | |
zu seinem Tod 1988 leitete und die DDR international bei WHO-Konferenzen | |
vertreten durfte, charakterisiert seine Patientinnen als „asoziale | |
Elemente, Personen mit gemindertem Bildungsgrad, teils sogar kriminellen | |
Erfahrungen“. In einer Fachzeitschrift rät er dazu, gegenüber „notorisch | |
uneinsichtigen Gefährdeten und Kranken'“ mehr vom Strafgesetzbuch Gebrauch | |
zu machen. Statt Haftstrafen empfiehlt Elste „Arbeitserziehung nicht unter | |
der Dauer eines Jahres“. | |
Arbeitserziehung – das bedeutete Jugendwerkhof. Eine Spezialerfindung der | |
DDR, in denen Jugendliche unter knastähnlichen Bedingungen körperlich hart | |
arbeiten mussten. „Holla, die Waldfee“, kommentiert Martina Blankenfeld die | |
Empfehlung Professor Elstes in ihrer Wohnung. „Dass Ärzte so viel Macht | |
hatten!“ Und dass ihr Einfluss weit über das Krankenhaus hinausging, dass | |
sie sich vom SED-Staat einspannen ließen, macht sie wütend. Es ging darum, | |
sozial abweichendes Verhalten zu strafen, den sozialistischen | |
Erziehungsauftrag umzusetzen und angeblich gefährdete junge Menschen in den | |
Arbeitsprozess zu integrieren. „In Wirklichkeit brauchten sie uns als | |
ungelernte Arbeitskräfte“, sagt Martina Blankenfeld. | |
Für sie ging es auf den Jugendwerkhof August Bebel in Burg nahe Magdeburg. | |
Dort arbeitet Martina Blankenfeld zweieinhalb Jahre in der Landwirtschaft | |
und wird mit 18 „lebensuntüchtig“, wie sie sagt, ins Leben entlassen. Ihre | |
Ausbildung zum „Teilfacharbeiter Gärtner“, wie es im DDR-Jargon hieß, war | |
schon damals kein ordentlicher Berufsabschluss und wurde nach der Wende | |
nicht anerkannt. Die letzten 12 Monate verbringt Martina Blankenfeld | |
dennoch freiwillig im Werkhof, um nicht nach Hause zurückkehren zu müssen. | |
„Ich habe danach lange gebraucht, um meinen Platz in der Gesellschaft zu | |
finden“, sagt sie und spricht von Identitätskrisen im Plural. „Wie oft habe | |
ich mich gefragt, was wäre gewesen, wenn mir das alles nicht passiert wäre. | |
Wäre es besser gewesen?“ Als 2012 der Fonds Heimerziehung in der DDR | |
aufgelegt wurde, begann auch Martina Blankenfeld, zu ihrer eigenen | |
Biografie zu recherchieren. | |
Die Idee einer Erinnerungstafel treibt sie schon länger um. Doch erst im | |
Herbst 2024 ist sie auch bereit, beim Bezirk Pankow den Antrag zu stellen. | |
Persönliche Einladung, positives Feedback. Doch bis zur endgültigen | |
Entscheidung kann es ein paar Monate dauern. Ein Fachgutachten soll | |
erstellt werden. Stattdessen kommt im Dezember eine Einladung zu einer | |
Ausstellung in Leipzig, der Titel: „Einweisungsgrund: Herumtreiberei. | |
Disziplinierung in Venerologischen Stationen und Spezialheimen der DDR“. | |
Ihr Thema! Es tut sich was. Im Begleitprogramm findet am Nikolaustag ein | |
„Erzählcafé“ statt. | |
Martina Blankenfeld zögert hinzufahren. Viele Menschen strengen sie an. Die | |
Ausstellung findet in der ehemaligen Thonbergklinik statt und ist eine | |
Kooperation der Leipziger Initiative Riebeckstraße 63 mit der Gedenkstätte | |
Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Die Initiator*innen begrüßen die | |
Anwesenden, etwa 15 Betroffene und Interessierte sitzen um einen langen | |
Tisch. | |
Das Erzählcafé findet in unregelmäßigen Abständen statt. In Berlin gibt es | |
so etwas nicht. Kaffee und Weihnachtsgebäck stehen auf dem Tisch. Wie so | |
oft, wenn Betroffene mit ihrem Schicksal und den Folgen ringen, ist die | |
Dynamik unvorhersehbar. Eine Frau bricht in Tränen aus, ihr Redefluss und | |
ihre rechtlichen Fragen zur Rehabilitierung sprengen fast die Runde. Es | |
geht unter anderem um die Neuregelung der Opferrente, die zum 1. Juli auf | |
400 Euro angehoben werden soll. | |
Martina Blankenfeld kommt lange nicht zu Wort. Dann stellt sie ihr | |
Erinnerungsprojekt für Berlin vor, berichtet von ihren Bemühungen, | |
Dokumente und Belege zu finden. Sie hat beim Bundes- und beim Landesarchiv | |
Berlin angefragt sowie beim Helios Klinikum, dem juristischen Nachfolger | |
des Klinikums Buch. Mehrere der Anwesenden haben wie sie das Zusammenspiel | |
der DDR-Erziehungsinstitutionen hautnah erlebt, von der einen an die | |
nächste weitergereicht: vom Krankenhaus ins Heim und in den Jugendwerkhof. | |
„Ich finde, die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sollte auch | |
für kleinere Projekte mehr Geld ausgeben“, sagt Martina Blankenfeld. „Das | |
habe ich auch schon mal persönlich dort gesagt. Sie haben einen Auftrag.“ | |
Immerhin: Die Wanderausstellung [1][„Einweisungsgrund: Herumtreiberei“] | |
wurde von der Bundesstiftung Aufarbeitung mitfinanziert. Die Ausstellung | |
wandert nicht nur, sie soll auch wachsen. Als nächstes steht Halle (Saale) | |
auf dem Programm, Gera, Rostock und Leipzig sind abgemacht. Auch in diesen | |
Städten hat es geschlossene venerologische Stationen gegeben. Bei jeder | |
Station wird eine neue Schautafel dazukommen. Und weil Martina Blankenfeld | |
davon den Leuten vom Museum Pankow erzählt, wird „Einweisungsgrund: | |
Herumtreiberei“ nun auch im Spätherbst in Berlin zu sehen sein. | |
„Das zeigt doch, dass aus so einer Gedenktafel noch mehr werden kann“, | |
freut sich Kristin Witte vom Museum Pankow. Die Museumsmitarbeiterin ist | |
Historikerin und hat das Fachgutachten für die entscheidende Sitzung der | |
Gedenktafelkommission im Februar 2025 erarbeitet. „Wir waren alle sehr | |
beeindruckt“, erinnert sie sich an Martina Blankenfelds Auftritt. „Es kommt | |
nicht häufig vor, dass der Antrag wirklich von der Betroffenen selbst | |
gestellt wird“, erklärt die Museumsmitarbeiterin. „Oft haben wir | |
Gedenktafeln, die von interessierten Bürgern und Bürgerinnen initiiert | |
werden, von Initiativen oder Vereinen. Aber sie hat es selbst erlebt.“ | |
Ende Februar 2025 ist es so weit. Die entscheidende Sitzung findet statt. | |
Martina Blankenfeld kommt aus dem Saal. „Das Projekt ist angenommen“, sagt | |
sie, und ein leichtes Nachbeben liegt trotz aller Coolness in ihrer Stimme. | |
„Ich werde bei allen Schritten in die Konzeption mit einbezogen.“ | |
Beim Spaziergang in Berlin-Buch setzt sich Martina Blankenfeld in einen | |
Pavillon, der auf einer Wiese steht, und schaut sich um. Ob sie sich die | |
Gedenkstele auf dem ehemaligen Klinikgelände vorstellen kann? „Na ja“, | |
sagt sie, „viel Publikumsverkehr ist hier nicht.“ Andererseits sei dafür | |
auch nicht so schnell mit Schmierereien oder Beschädigung zu rechnen. | |
Nach ihrer Entlassung aus dem Jugendwerkhof jobbt Martina Blankenfeld, | |
bekommt einen Sohn, stellt einen Ausreiseantrag, der nicht mehr realisiert | |
wird, weil die Mauer fällt. Nach der Wende arbeitet sie im sozialen Bereich | |
und finanziert sich 2012 mit einer Entschädigungssumme aus dem Fonds | |
Heimerziehung in der DDR eine dreijährige berufsbegleitende Ausbildung zur | |
Theaterpädagogin. „Dass ich meinen alten Lebenstraum Theater verwirklicht | |
habe, darauf bin ich stolz!“, sagt sie. Sie hat ein Theaterstück und eine | |
szenische Lesung mit Erinnerungsprotokollen gemacht. Jetzt ist sie | |
frühverrentet. | |
„Was ich nie besessen habe, war Unbefangenheit“, sagt Martina Blankenfeld. | |
„Außer in der Familie habe ich auch in der Schule oder im Kindergarten | |
körperliche Übergriffe erlebt.“ Der Krankenhausaufenthalt reiht sich ein in | |
eine Kette von Gewalterfahrungen. Wie erzählt man seinen Mitmenschen, | |
Liebhabern, einem Sohn, dass man sexualisierte Gewalt erlebt hat? „Das war | |
immer ein Teil von mir“, sagt Martina Blankenfeld, „ich habe das nie | |
weggesteckt oder verdrängt. Ich kannte ja den Grund, warum sich manche | |
Dinge bei mir umständlicher äußern oder warum ich keinen geradlinigen | |
biografischen Bewerbungsbogen ausfüllen konnte.“ | |
Martina Blankenfeld ist Einzelgängerin, auch Einzelkämpferin. Zu ehemaligen | |
Insassinnen der Station 114 c hat sie keinen Kontakt, es gibt es keine | |
Vernetzung. Ein Erzählcafé in Berlin, wäre das etwas für sie? Eine | |
Facebook-Gruppe? „Eher nicht“, sagt sie nur. Ein ordentlicher | |
Forschungsauftrag für die Medizingeschichte wäre ihr lieber. | |
Mit dem Erinnerungsprojekt geht es in kleinen Schritten voran. Eine | |
Gedenktafel kann sowohl eine Plakette als auch eine große Stele sein, | |
zweiseitig oder zweiteilig, kann viel oder wenig Text haben, Fotos oder | |
Audio. Nun werden noch mal die Archive angefragt – und das von offizieller | |
Stelle, freut sich Martina Blankenfeld. Dem Bezirksamt selbst steht nur ein | |
begrenztes Budget zur Verfügung, je nach Format und Inhalt müssen noch | |
Fördergelder eingeworben werden. Martina Blankenfeld hat da schon einige | |
Ideen. „Ich bin angeknipst“, sagt sie. „Man muss nur Bescheid geben.“ | |
23 Jun 2025 | |
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[1] https://einweisungsgrund-herumtreiberei.de/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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