# taz.de -- Eindrücke aus der Jugendpsychiatrie: Diese Kinder sind Krieger | |
> In die Psychiatrie „De Koppeling“ kommen Teenager, die eine Gefahr für | |
> sich selbst oder für ihre Umwelt darstellen. Zwei Wochen in einer | |
> geschlossenen Welt. | |
Bild: Alles in mir sagt, dass ich nicht auf Besucher warten möchte, um mich we… | |
Sergio ist ein großer, schlanker Mann in kurzen Hosen. Früher war er | |
Fußballprofi, er spielte unter anderem bei Groningen und Telstar. Heute ist | |
er pädagogischer Mitarbeiter an der geschlossenen Jugendeinrichtung De | |
Koppeling in Amsterdam, wo ich mich fast zwei Wochen lang als Jugendlicher | |
mit Verhaltensproblemen aufhalten werde. Sergio ist mein Mentor. | |
„Ich habe als Reisebegleiter am Flughafen Schiphol gearbeitet“, sagt er, | |
„ich war arbeitslos. Ich frage alle jungen Leute, die hierher kommen: Was | |
glaubst du, kannst du hier fürs Leben lernen?“ | |
Bevor ich antworten kann, ergreift Sep das Wort. Sie ist die | |
Sonderpädagogin. Sep ist eine Abkürzung des iranischen Namens Sepideh. | |
„Vor 2008 gab es die Jugendhilfe Plus nicht, was bedeutet, dass | |
Jugendhilfe-Kinder, die sich derzeit in geschlossenen Einrichtungen | |
aufhalten, vorher zusammen mit Jungkriminellen in Jugendstrafanstalten | |
untergebracht wurden. Um hier verwahrt zu werden, muss ein Richter auf | |
Anraten des Jugendamtes entschieden haben, dass sie eine Gefahr für sich | |
selbst oder ihre Umwelt darstellen. Sie bekommen in der Regel drei oder | |
sechs Monate, die Aufenthaltsdauer kann verlängert werden. Es gibt hier | |
ungefähr 40 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18. Wir haben die Gruppen | |
Gandhi A und Gandhi B, für Jugendliche mit einer geistigen Behinderung; die | |
Gruppe Cruijff für Jugendliche, von denen wir glauben, dass sie schnell | |
wieder entlassen werden können; die Gruppe Mandela, von der einige Leute | |
finden, dass sie die schwierigste Gruppe darstellt, ist für mich jedoch die | |
einfachste, dabei handelt es sich um Jugendliche, die sich am Rande der | |
forensischen [1][Psychiatrie] bewegen. Der Rest wird der Gruppe Obama | |
zugeordnet, auch du. Du bist für mich von nun an ein Sechzehnjähriger, du | |
bekommst keine Privilegien, keinen Schlüssel, wenn du kooperativ bist, dann | |
darfst du ab und an für ein paar Stunden raus. Ich war früher selbst in | |
solchen Anstalten. Ich dachte mir, später werde ich das besser machen.“ | |
Sergio führt mich herum. „Ich hoffe, dass du Besuch bekommst“, sagt er. �… | |
Anfang hilft dir das, dich weniger einsam zu fühlen.“ | |
Die Anstalt ist kein Gefängnis, aber hinter jeder Tür, die ins Schloss | |
fällt, spürt man die Repression. | |
Wir treffen Dirk-Pieter, Behandlungskoordinator der Gruppe Obama: „Wir | |
sollten das Fluchtrisiko nicht überschätzen. Meistens kommen sie zurück. | |
Wenn einem Jugendlichen unter Begleitung Ausgang gewährt wird, darf der | |
Begleiter ihn außerhalb der Anstalt nicht zurückhalten. Nur indem du ihnen | |
gut zuredest. Aber wenn sie zurückkommen, verlieren sie einige ihrer | |
Privilegien. Sie gehen zu McDonald’s oder zur Tanke, um Zigaretten zu | |
holen, und dann sagt so ein Jugendlicher zum Begleiter: ‚Sorry, ich gehe | |
jetzt.‘“ | |
Alles in mir sagt mir, dass ich nicht auf Besucher warten möchte, um mich | |
weniger einsam zu fühlen. An der Tanke werde ich meinem Begleiter sagen: | |
„Sorry, ich gehe jetzt.“ | |
## *** | |
Mein erster Morgen. Wir sind in Jorams Klasse, der uns das Rappen | |
beibringen wird. Die Begleiter kommen mit, sobald wir in einen anderen Raum | |
gehen oder in dem Klassenraum angekommen sind, wird die Tür verriegelt. | |
Ich sitze neben Jayden. Er trägt eine schwarze Mütze, er ist fünfzehn, | |
seine Mutter kommt aus Russland. Er sagt, er sei süchtig nach dem Sammeln | |
von Messern, und er hätte Messer unter seiner Matratze liegen. Er steht | |
gerne hinter dir und schaut dich mit einem Blick an, bei dem du dir nicht | |
sicher bist, ob er Kontakt sucht oder ob er dich heimlich auslacht. | |
„Ich kann nicht rappen“, sagt Jayden. | |
„Warum bist du dann hier?“, frage ich. | |
Er tippt mit dem Finger an die Stirn. | |
Dann ist da noch Sara, ein 14-jähriges Mädchen in einer Trainingshose, die | |
älter aussieht, als sie ist. | |
„Bei diesem Beat klappt es nicht“, sagt sie. „Ich kann nichts damit | |
anfangen.“ | |
Joram lässt einen Rap hören, der in der vorherigen Lektion entstanden ist. | |
„Jeder liebt seine Mutter“, sagt Joram. „Deshalb trifft er auf alle zu.“ | |
Ich höre: „Mama, I love you / In diesen Tagen hattest du viel Schmerz / | |
Sorry, ich brach dein Herz“. | |
Danach arbeiten wir an neuen Raps. | |
Ein großer, dunkler Junge aus einer anderen Gruppe ruft: „Mein Kopf ist | |
voller Geld.“ | |
„Schreib halt was drüber“, sagt Joram. | |
Später rappt der Junge: „Money machen/ kannst du lernen/ das ist twenty | |
six.“ | |
Ich frage: „Was ist twenty six?“ | |
„Meine Gang.“ | |
„Eine bekannte Gang?“ | |
Der Junge sieht mich mitleidig an. „Upcoming, Bruder“, murmelt er. | |
Joram sagt zu mir: „Du bist neu hier, versuch doch etwas zu schreiben.“ | |
Ich arbeite an einem Rap, den ich vor langer Zeit angefangen habe zu | |
schreiben: „Ich bin ein Teenie in der Liebe/ ich nehme ein Uber Taxi zur | |
Liebe/ Frauen schenken mir ihr Vertrauen/ aber sie können niemals auf mich | |
bauen.“ | |
Mittagszeit. Das Besteck liegt hinter Schloss und Riegel, auf Messer und | |
Gabel steht eine Nummer, die der Zimmernummer des Jugendlichen entspricht. | |
Wenn ein Messer oder eine Gabel fehlt, weiß man gleich, wo man suchen muss. | |
Ich habe noch keine Nummer, ich versuche es ohne Messer. | |
Mein Mentor sagt, dass ein Jugendlicher aus einer anderen Gruppe wissen | |
wollte, ob der Schriftsteller auch zu Boden gebracht wird, wenn er sich | |
daneben benimmt. Wenn die Begleiter glauben, dass es keinen anderen Ausweg | |
mehr gibt, drücken sie den Alarmknopf und dann kommen von allen Seiten | |
Begleiter herbeigerannt, die den Jugendlichen zu fünft zu Boden bringen. | |
Mein Mentor antwortet: „Wenn sich der Schriftsteller danebenbenimmt, werden | |
wir ihn zu Boden bringen.“ | |
## *** | |
Sasha sitzt auf ihrem Bett, sie ist dünn, hat blonde Haare und trägt ein | |
hübsches blaues Kleid mit Schmetterlingen. Sie ist 15 Jahre alt und wird | |
eins zu eins betreut. Sasha wollte von mir wissen, woher Inspiration kommt. | |
„Ich werde ein Buch über einen Serienmörder schreiben“, sagt sie. „Das | |
macht mir Spaß. Ich habe keine Stifte in meinem Zimmer, ich könnte mich | |
damit selbst verletzen. Ich habe einen Laptop, aber der ist nicht hier. Ich | |
vertraue niemandem – doch, Xandra, aber die habe ich im Internet | |
kennengelernt, deshalb weiß man nie genau, ob sie auch wirklich ein | |
14-jähriges Mädchen ist.“ | |
Ich stimme ihr zu. | |
„Vielleicht sollte ich Astronautin werden“, sagt sie, „das geht aus einem | |
Test hervor. Nichts wo man an Sitzungen teilnehmen muss, weil die Leute | |
mich nicht verstehen und ich die Leute nicht verstehe. Menschen mit | |
Autismus denken anders.“ | |
„Kannst du mir erklären, wie Menschen mit Autismus denken?“, frage ich. | |
Sie denkt nach, dann sagt sie: „Ich möchte lieber geschlagen als beschimpft | |
werden.“ | |
„Wurdest du oft geschlagen?“, frage ich. | |
„Ich wurde schon mal zu Boden gebracht.“ | |
„Wie ist das?“ | |
„Bodenartig.“ | |
Sie steht auf und wirft sich auf den Boden. | |
„Als ich 9 war, passierte es zum ersten Mal, im Uniklinikum. Unglaublich, | |
oder? Vier Leute, die ein 9-jähriges Mädchen zu Boden bringen. Aber ich | |
finde das nicht weiter schlimm. Mit zweieinhalb Jahren war ich schon | |
aggressiv. Ich habe meine Mutter geschlagen, dann hat meine Mutter die | |
Polizei gerufen. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte.“ Nach einer | |
kurzen Pause: „Du bist sicher oft verliebt?“ | |
„Warum glaubst du das?“ | |
„Weil du Romane schreibst.“ | |
„Das hat nichts damit zu tun“, antworte ich, obwohl ich nicht weiß, ob ich | |
die Wahrheit spreche. | |
„Ich habe ein Buch geschrieben, ‚Das Blumenblut‘, über einen flämischen | |
Mädchenmörder namens Seppe. Er sagt zu dem Mädchen: ‚Ganz ruhig, Mädchen. | |
Die Leute sagen, dass es nach einem guten Buch aussieht.‘“ | |
„Lies mir etwas daraus vor“, sage ich. | |
Sie nickt. „Ich kann klarträumen, in anderen Träumen mache ich | |
hauptsächlich Dinge falsch oder werde gemobbt. Ich fühle mich einsam unter | |
Menschen.“ | |
„Soll ich ein anderes Mal wiederkommen?“, frage ich. | |
„Käse“, antwortet Sasha. „Achte nicht drauf. Das ist mein Stoppwort.“ | |
Ein Begleiter bringt mich in meine Zelle. Die Türe wird abgeschlossen. Ich | |
nehme Dostojewskis „Brüder Karamasow“ zur Hand und komme zur Stelle, an der | |
Iwan Karamasow seine Eintrittskarte für diese Welt zurückgibt, weil er das | |
Leiden von Kindern nicht ertragen kann. | |
## *** | |
Die Gruppe Obama setzt sich aus neun Jugendlichen und einem Schriftsteller | |
zusammen; zwei von ihnen stehen auf der Fahndungsliste, das heißt, sie sind | |
weggelaufen. Beim Zigarettenkauf mit einer Gruppenleiterin oder begleitetem | |
Urlaub sagten zwei andere Jungen, Joey und Leroy, zu Gruppenleiterin | |
Rachel: „Sorry, wir mögen dich, aber wir hauen ab, wir begleiten dich noch | |
bis zur Koppeling, damit du nicht alleine nach Hause gehen musst.“ | |
Rachel musste selbst darüber lachen. | |
Und dann waren es nur noch sechs in der Gruppe Obama. | |
Die Jungs scheinen um vier Uhr morgens nach Hause gekommen zu sein. Ich | |
schlief bereits. Von meinem Zimmerfenster aus blickt man auf die Abteilung | |
Gandhi, wo die lernschwachen Jugendlichen untergebracht sind. Fast jede | |
Nacht ruft ein Junge, der immer mit einer Haarbürste herumläuft: „Hey | |
Arnon, arbeite nicht zu lange.“ Der Junge mit der Haarbürste ist mein | |
Freund. | |
Während des Mittagessens am nächsten Tag – die Mahlzeiten werden im | |
Wohnzimmer eingenommen – erzählen die ausgebüchsten Jungs von ihren | |
Abenteuern in Abcoude. Joey ist ein fünfzehnjähriger Junge mit | |
kurzgeschorenen Haaren und Pickeln. Er ist anscheinend drogensüchtig und | |
Großkonsument, er sagt, er sei auch Drogenkurier für einen Dealer gewesen. | |
„Du hättest heute Nacht dabei sein sollen“, sagt er. „Mir wurde hinter | |
einer Kirmesattraktion einer geblasen, aber ich musste mein Käppi | |
aufbehalten, sonst hätte ich ihr nicht gefallen.“ | |
„Nicht gefickt?“, frage ich. | |
„Wenn das Chick von Leroy nicht gekotzt hätte, hätten wir auch gefickt, | |
aber nach dem Kotzen sind sie mit Uber nach Amsterdam gefahren.“ | |
Leroy ist 17 und lässt sich zum Sicherheitsbeamten ausbilden. Er wollte ins | |
Militär, aber das war wegen seines ADHS nicht möglich. „Sei ehrlich, | |
Bruder“, sagt Leroy, „dein Chickie kam aus einem Bus voller Downies.“ | |
Alle lachen, Joey ruft seinem Begleiter Sergio zu: „Mir wurde letzte Nacht | |
einer geblasen, freust du dich nicht für mich?“ | |
Später gehe ich mit Sara und dem Begleiter Patrick zum Supermarkt um | |
Zigaretten zu holen. Patrick sagt, dass zwei außer Kontrolle geratene Jungs | |
aus der Gruppe Gandhi ein Video gepostet haben, das zeigt, wie sie in einem | |
Hotelzimmer chillen. | |
Hier bricht keine Hysterie aus, wenn einer mal wegläuft. Repressionen rufen | |
bei Traumatisierten oft nur noch mehr Traumata hervor. | |
„Wie kommt Ihr überhaupt an Geld?“, frage ich. | |
„Wir hatten Jungs“, sagt Patrick, „die haben einen Albert-Heijn-Supermarkt | |
mit einem Messer überfallen.“ | |
Es wird Abend. Meine neuen Freunde sind genau wie ich in ihrem Zimmer | |
eingesperrt. Heute Nacht wird ihnen hinter einer Kirmesattraktion keiner | |
geblasen, aber in der Koppeling gibt es auch Attraktionen. | |
## *** | |
Shaneyney ist 17, hat kurzes, dunkles Haar, spricht kaum und isst vegan. | |
Heute Morgen fragt sie, ob sie die Nudelreste vom Vorabend zum Frühstück | |
essen darf. Das darf sie. Am Nachmittag isst sie wieder diese Nudeln. | |
Einmal fragte sie mich, ob ich eine Erdbeere wollte. Der intimste Moment | |
zwischen uns. | |
Bevor sie ins Koppeling kam, verbrachte sie zwei Jahre in einer offenen | |
Anstalt in Hoenderloo, ihrer Meinung nach war es dort schlimmer als in der | |
Koppeling. | |
Sara war drei Monate in Hoenderloo. „Bei allem musste man um Erlaubnis | |
bitten“, sagt sie. „Eines Tages bin ich abgehauen, ich bin in meinen | |
Pantoffeln zuerst vier Stunden durch den Wald geirrt. Als die Polizei kam, | |
gab ich vor, zu joggen. Einmal habe ich meiner Begleiterin ein Glas | |
nachgeschmissen. So bin ich hierhergekommen.“ | |
„Es gibt einen Ausweg aus dieser Scheiße“, sagt Begleiter Ramesh. Er ist | |
mit einer Inderin verheiratet und hat drei Kinder. „Lernen, lernen und | |
nochmals lernen.“ | |
Zeit für Projekttherapie. Die Projekttherapie setzt sich aus Musiktherapie | |
und Kunsttherapie zusammen. Während der Therapie wird man beobachtet. | |
Zuerst Kunsttherapie von Relinde und Helene. Ich sitze neben Mo, einem | |
lieben Jungen, der aus der Gruppe Mandela kommt, der | |
forensisch-psychiatrischen Gruppe. „Vorher war ich im Jugendgefängnis“, | |
sagt er, „dort hatte ich es besser als hier. Trau dich mal, das | |
aufzuschreiben.“ | |
In der Gruppe Mandela müssen sie alle 45 Minuten den Ort wechseln, 45 | |
Minuten in der Gruppe, 45 Minuten im Zimmer. Die Impulse von außen werden | |
für die Jugendlichen zu stark, aber selbst sehen sie das anders. Einmal gab | |
es in der Gruppe Mandela einen Aufstand, sie haben Toaster herumgeworfen. | |
Da musste die Polizei mit Hunden und Schutzschilden anrücken. | |
„Warum warst du im Jugendgefängnis?“, frage ich. | |
„Einbruch. Mopeds stehlen. Wenn sie dich erwischen, sag nichts. Sag einfach | |
nichts, das ist dein gutes Recht, Bruder.“ | |
Ich verspreche, meine Rechte gegebenenfalls zu nutzen. | |
Dann folgt die Musiktherapie mit Harry. Ein Mann in den Vierzigern mit | |
Lesebrille, der den Eindruck erweckt, irgendwann einmal heimlich an einer | |
Karriere als Rockstar gebastelt zu haben. | |
„Ich will rappen“, sagt Sara. | |
„Worüber?“, fragt Harry. | |
„Ich rappe immer über das Leben auf der Straße“, sagt Sara. „Oder über… | |
Liebe.“ | |
„Lasst uns über die Liebe rappen“, sagt Madelon von der Gruppe Cruijff, | |
ein gepflegtes, 16-jähriges blondes Mädchen. „Die Jungs hier meinen es | |
nicht ernst. Sie ficken jeden Tag eine andere Hure. Sie wollen dich nur zum | |
Sex und dann wollen sie dich wieder loswerden.“ | |
„Ich bin schockiert“, sagt der Musiktherapeut. | |
Madelon zuckt die Achseln. | |
„Ganz viele Jungs sind so“, sagt sie. | |
## *** | |
Sergio hat Geburtstag. Die Kinder kommen, um ihm die Hand zu schütteln. | |
Jayden trägt einen weißen Pullover mit der Aufschrift „Fred Perry“. | |
„Wer ist Fred Perry?“, fragt Sergio. | |
Jayden zuckt die Achseln. „Keine Ahnung, ich habe den Pullover gekauft, | |
weil er teuer war, aber den Stoff mochte ich auch.“ | |
Die Schule beginnt. Heute sind wir zu viert in einer Klasse. Die Lehrerin, | |
Frau Dulci, spricht mit uns über unsere Zukunft. Dann kommt der Junge mit | |
der Haarbürste aus der Gruppe Gandhi herein, er setzt sich, schaut sich | |
verstört um und verschwindet wieder, um danach gleich wiederzukommen. | |
„Wir haben eine Abmachung“, sagt Frau Dulci, „keine Käppi im Unterricht.… | |
Der Junge zeigt auf Jayden. „Er trägt eine Sturmhaube.“ | |
„Vielleicht wurden mit ihm andere Vereinbarungen getroffen.“ | |
„Schau mich nicht an“, ruft der Junge mit der Haarbürste zu Jayden, „son… | |
schlag ich dich.“ | |
Da der Haarbürstenjunge seine Käppi nicht abnimmt, wird Verstärkung | |
herbeigerufen; ein kräftig gebauter Mann macht mit dem Jungen draußen eine | |
Runde. In der Zwischenzeit geht der Unterricht weiter. Madelon erklärt: | |
„Meine Mentorin ist eine Hure.“ | |
Es entsteht eine Diskussion darüber, ob Mentorinnen „Hure“ genannt werden | |
dürfen. Die Diskussion ist kaum beendet, da kommt der Haarbürstenjunge | |
zurück. Ohne Käppi, aber mit Kopftuch. | |
„Du hast mich verarscht“, sagt er zur Lehrerin, „ich muss meine Vaseline | |
haben.“ | |
Ich frage nicht, wozu der Haarbürstenjunge denn Vaseline braucht. Fräulein | |
Dulci sagt: „Vergiss nicht, dass du anschließend zum Aggressionstraining | |
musst.“ | |
Die Aussicht auf das Aggressionstraining versetzt den Haarbürstenjungen in | |
Spannung. „Muss ich dich total zusammenschlagen?“, fragt er Fräulein Dulci. | |
Shaneyney ist mucksmäuschenstill, erst als die Lehrerin wissen will, | |
welchen Beruf sie später einmal ausüben möchte, antwortet sie: „Chirurgin.… | |
Zum Mittagessen gibt es auch Kuchen. Weil Jayden aus ungeklärten Gründen | |
Probleme mit seiner Plastikgabel hat, isst er den Kuchen wie ein Hund. | |
Draußen begegne ich einer Mitarbeiterin der Gruppe Pink, jener | |
Mädchengruppe, die in die Innenstadt verlegt wurde und von der die meisten | |
Opfer von Loverboys geworden sind. | |
„Du solltest mal bei uns vorbeischauen“, sagt sie. „Wenn eine mit dem | |
Ritzen anfängt, machen es ihr gleich alle nach. Oft, wenn sie neben dir | |
sitzen, um dich auf die Probe zu stellen. Jungs machen das nicht, nur | |
Mädchen. Manchmal beantworte ich das Telefon mit dem albernen Spruch: | |
‚Spitze, dass ich ritze.‘“ | |
Der Ruhemoment am Nachmittag. Wir werden für eine halbe Stunde in unserem | |
Zimmer eingesperrt. Ich habe den Drang, meine Faust an der Fensterscheibe | |
kaputt zu schlagen. Eine geschlossene Jugendeinrichtung geht einem mehr | |
unter die Haut als ein Aufenthalt im Irak oder Afghanistan. | |
Weil mir meine Hände zu lieb sind, werfe ich mich aufs Bett und kann nicht | |
aufhören zu weinen. | |
*** | |
Eine Sitzung um halb neun morgens, bei der die Ereignisse des Tages | |
resümiert werden. Die Kinder dürfen nicht dabei sein – der Schriftsteller | |
aber ist nun doch ein Kind mit Privilegien, er darf zuhören. | |
Die Aufgaben im Falle eines Alarms werden auf die verschiedenen Gruppen | |
verteilt. Eine Frau sagt: „Obama packt die Arme, Cruijff die Beine, Gandhi | |
führt Regie.“ | |
So wird das zu Boden bringen der jungen Leute schon fast zu einem Tanz. | |
Jacqueline, 16, ist wieder da. Sie war über eine Woche weg, sie hat | |
halblange blonde Haare. Jacqueline hat eine Blase, die Gitta verarztet. | |
„Ist noch eine Zigarette in meinem Schließfach?“ fragt Jacqueline. Rauchen | |
ist sinnstiftend. Dann wendet sich Jacqueline an mich: „Man muss denen | |
sagen, dass Kinder nicht auf diesen Betten liegen können, die Matratzen | |
sind zu hart.“ | |
Jacqueline geht nicht intern zur Schule und weil es extern einigermaßen gut | |
läuft, darf sie, obwohl sie weggelaufen war, zur Türe raus. Diejenigen, die | |
nicht extern zur Schule gehen, gehen zu Herrn Richard, der vorher in einem | |
Sternerestaurant gearbeitet hat; aber Chefkoch war nicht so sein Ding. | |
Seine Kochkurse, die auch ich bereits besucht habe, sind legendär. | |
Die Kinder werden aus ihrer Lethargie geweckt, die Messerklingen sind lang | |
und scharf, Zwischenfälle gibt es keine. „Wenn du Angst hast, hast du | |
verloren“, sagte Richard. „Aber wenn es sein muss, dann werfe ich mich auf | |
ein Kind.“ | |
An diesem Morgen gibt Richard keinen Kochkurs. Acht Kinder arbeiten auf | |
verschiedenen Ebenen. Manchmal heißt arbeiten sich einen Film anzusehen. | |
Ich helfe einem Jungen bei seinem Bewerbungsschreiben. | |
„Wie lange hast du schon nicht mehr gekifft?“ fragt Richard den Jungen, | |
„sei ehrlich.“ | |
„Eine Woche.“ | |
„Wann hast du gekifft?“ | |
„Beim Aufstehen“, sagt der Junge. | |
„Das ist nicht gut, ich trinke auch keinen Wodka beim Aufstehen. Ich habe | |
früher viel getrunken“, erzählt Richard. „Wenn ich getrunken hatte, hatte | |
ich den Mut, ein hübsches Mädchen anzusprechen. „ | |
Das Gespräch dreht sich jetzt um Koks. „Es macht dich aggressiv“, sagt ein | |
Junge. | |
Ein anderer Junge ruft: „Es gibt dir Selbstvertrauen.“ Was nicht alles | |
unter Selbstmedikation fällt… | |
Wenn ich die Kinder nach ihrer Zukunft frage, lautet die Antwort oft: | |
Betreutes Wohnen. | |
Auf der Treppe begegne ich Jaydens Eltern. | |
„Wie geht's?“, frage ich. | |
„Besser“, sagt der Vater, „bevor er hierher kam, hatte er sich ein halbes | |
Jahr lang nicht geduscht und kein Wort gesagt. Jetzt duscht er und sagt ab | |
und zu etwas.“ | |
Fortschritt muss man in einen historischen Kontext einordnen. | |
Und wir, die nicht glauben, verletzte Kinder zu sein, nennen betreutes | |
Wohnen Liebe. | |
## *** | |
Manchmal wollen die Kinder nicht aufwachen. Es gibt auch nur wenig, wofür | |
sich das Aufwachen lohnt. Einige Begleiter kippen in ihrer Verzweiflung ein | |
Glas Wasser über das Kind, Begleiter Earvin klingelt lieber mit Schlüsseln, | |
obwohl Sep glaubt, dass das Klingeln mit Schlüsseln den Eindruck verstärkt, | |
dass wir uns in einem Gefängnis befinden. | |
Am schwierigsten finde ich das Rumhängen. Wir warten, auf Ausgang, auf | |
Zigaretten, auf einen Besuch, wenn der Besuch da ist, warten wir darauf, | |
dass er wieder weggeht, auf unser Telefon, das sich in einem Schließfach | |
befindet und das wir nur eine Stunde am Tag benutzen dürfen, und dann | |
dürfen wir nur Nummern wählen, die von unseren Begleitern genehmigt wurden; | |
wir warten auf das Leben. | |
Der Junge, der immer mit einer Haarbürste herumläuft, weil er ständig Angst | |
hat, dass seine Frisur nicht richtig sitzt, sagt: „Sie wollen mich | |
kaputtmachen, und die scheiß Jugendfürsorge will das auch.“ | |
Madelon, die nach eigenen Angaben ein Model war und auch | |
Profi-Eiskunstläuferin, stimmt ihm zu. „Ja, das ist wirklich so“, sagt sie. | |
Wir müssen weiter über die Zukunft sprechen, egal wie beängstigend dies | |
auch ist. Jayden sieht die Zukunft so: „Ich möchte einfach nur zu Hause | |
bleiben.“ Nach weiterem Andringen sagt er: „Ich möchte Zollbeamter werden. | |
Dann kann ich Koffer voller Crack öffnen.“ | |
Er hat ein Stück geschrieben, dessen erster Satz lautet: „Ich war mit | |
meinen Freunden in Amsterdam am Chillen, wir haben eine Nitratbombe vor dem | |
Haus meiner Mutter angezündet.“ | |
Nichts geschieht grundlos, aber darüber wird nicht geredet. Lass die | |
Hilfeleistenden, die Außenstehenden, die Leser ruhig Rätsel raten. Wir sind | |
unsere Geheimnisse. | |
Das letzte Mittagessen. Die Kinder haben schon lange zu mir gesagt: „Du | |
musst einen Alarm auslösen.“ Ich löse einen Alarm aus. Fünf Männer stürm… | |
herein und wollen mich in mein Zimmer schleifen. Ich weiß, dass dies ein | |
Spiel ist, und doch widerstrebt sich alles in mir gegen diese Gewalt. Ich | |
bin wieder 17, ich will meine Schule nicht beenden, ich hasse jeden, der | |
Macht über mich ausüben will. Ich verweigere mich. Ich sage Nein. | |
Die Kinder haben ein Büchlein für mich gemacht, als Abschiedsgeschenk. | |
Ich würde sie gerne umarmen, aber ich traue mich nicht. | |
Sep sagt: „Diese Kinder sind Krieger.“ Soldaten, würden sie wahrscheinlich | |
eher von sich selbst behaupten. | |
Wenn ich nicht einer von ihnen bin, wer bin ich dann? Ein beschädigtes | |
Kind, getarnt als Krieger; ich kann nichts anderes sein, ich will nichts | |
anderes sein. | |
Was diese Kinder mir beigebracht haben, ist, ein besserer Krieger zu | |
werden. | |
Und wenn nicht jetzt, wann dann? | |
Übersetzung aus dem Niederländischen von Andrea Prins | |
15 Jan 2020 | |
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Arnon Grünberg | |
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