# taz.de -- Kinderheime in Berlin: Die bessere Alternative | |
> Heime haben ein mieses Image. Aber solche Schutzräume sind wichtig für | |
> Kinder und Jugendliche mit familiären Problemen. Ein Beispiel aus Berlin. | |
Bild: Garten einer WG für Kinder der Gesellschaft für erzieherische Hilfen Be… | |
Wenn Thorsten* von Familie spricht, dann meint er nicht die Mutter, mit der | |
er die ersten sieben Jahre seines Lebens verbracht hat. Nicht den | |
abwesenden Vater und auch nicht die Geschwister, zu denen er kaum Kontakt | |
hat. Thorsten spricht von einer Einrichtung, die man landläufig als | |
Kinderheim bezeichnet, von seiner Wohngruppe und vor allem von den drei | |
jungen Frauen, die zwölf Jahre lang seine Bezugserzieherinnen waren und die | |
ihm auch heute noch – ein Jahr nach seinem Auszug – Spaghetti bolognese | |
kochen, über sein frisch gestochenes Tattoo schimpfen und mit ihm | |
Weihnachten und Geburtstag feiern. | |
Thorstens Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist auch ein Blick | |
hinter das Stigma Kinderheim und hinter die Türen seines einstigen | |
Zuhauses. | |
Kinderheim – das klingt so anachronistisch. Nach Zeiten, in denen Kinder zu | |
Kriegswaisen wurden oder Eltern so arm waren, dass sie ihre vielen Kinder | |
nicht durchbrachten. Nach einer Vergangenheit, in der der Staat missliebige | |
Eltern mit Kindesentzug bestrafte und renitente Jugendliche in | |
Verwahranstalten steckte. Es klingt nach Missbrauchsskandalen: lange | |
vergangenen wie den systematischen Kindeswohlverletzungen in | |
DDR-Kinderheimen und sehr aktuellen wie den entwürdigenden Maßnahmen in den | |
Brandenburger Haasenburg-Einrichtungen, die inzwischen schließen mussten. | |
Wenn in den Medien über Kinderheime berichtet wird, dann in der Regel | |
negativ. | |
Wie aber funktioniert die gute und moderne Kinder- und Jugendhilfe? Sind | |
wir nicht längst weg von stationären Einrichtungen? Sollten nicht Kinder | |
mit so viel Unterstützung wie nötig zu Hause leben können und – wenn es | |
denn gar nicht anders geht – dann doch wenigstens in Pflegefamilien ein | |
Zuhause finden? Bedeutet ein Platz im Kinderheim nicht eine verlorene | |
Zukunft mehr? Endstation Kinderheim? | |
## In der Coronazeit eskalieren Konflikte | |
Die Coronazeit wirft ein Schlaglicht auf häusliche Gewalt, auf Gewalt gegen | |
Kinder. Durch die Medien geht die Sorge, dass inmitten der Beschränkungen | |
Familienkonflikte eskalieren – weil Entlastung durch externe Betreuung | |
fehlt, weil Existenzängste Eltern belasten, weil Kontaktbeschränkungen eine | |
explosive Enge erzeugen. Immer wieder müssen Jugendämter und | |
Familienrichter entscheiden, dass Kinder nicht mehr zu Hause leben können, | |
auch jetzt während der Coronapandemie. | |
Nicht alle dieser Kinder und Jugendlichen können in eine Pflegefamilie. | |
Manchmal ist das auch gar nicht sinnvoll. In Berlin lebten Anfang März rund | |
8.500 Kinder und Jugendliche in 230 stationären Einrichtungen der Kinder- | |
und Jugendhilfe. Für sie bedeuten die üble Verheißung, die über dem Begriff | |
Kinderheim schwebt, die alten und die neuen Bilder ein teils lebenslanges | |
Stigma. | |
„Wenn wir in den Anfangsjahren zum Geburtstag eines unserer Kinder | |
eingeladen haben, kam manchmal kein einziges Kind“, sagt Josefa Dangelat, | |
die Leiterin der Einrichtung Kinder- und Jugendwohnen in Lichtenrade, in | |
der Thorsten aufgewachsen ist. Viele sehen uns als die Resterampe der | |
Jugendhilfe“, sagt Dangelat. Es liegt an solchen Vorurteilen, dass sie die | |
Türen ihrer Einrichtung für Besucher*innen öffnet. Sie habe mit ihrem Team | |
Schulen besucht, mit Lehrer*innen gesprochen, die Eltern eingeladen. „Alle | |
einzeln.“ | |
Auch Familienrichter hat Dangelat durch die Einrichtung geführt. Richter, | |
die immer wieder darauf beharrten, dass Kinder und Jugendliche auch in | |
schwierigstem familiärem Umfeld verbleiben. Alles ist besser als ins Heim? | |
„Sie müssen es sich einfach mal anschauen“, sagt Josefa Dangelat. | |
Wir fahren weit in den Süden Berlins, in den äußersten Zipfel von | |
Tempelhof-Schöneberg, nach Lichtenrade. In den Vorgärten der | |
Einfamilienhaussiedlung sind die Magnolien verblüht, stattdessen blühen | |
Flieder und Apfelbäume, Hirtentäschel steht an den Wegrändern. Ist es das | |
grau geklinkerte Haus oder vielleicht das gelb getünchte? Das mit dem | |
Holzanbau oder das mit dem Trampolin im Garten? | |
Fünf Häuser hat die Gesellschaft für erzieherische Hilfen Berlin-Tempelhof, | |
ein kleiner gemeinnütziger Träger, hier angemietet, fußläufig im Viertel | |
verteilt. Sie fügen sich ein in die gleichförmige Verschiedenheit der | |
Einfamilienhäuser und beherbergen derzeit 44 Kinder und Jugendliche in | |
kleinen Gruppen. | |
„Die meisten bezeichnen uns tatsächlich als Kinderheim“, sagt Leiterin | |
Josefa Dangelat. In der Behördensprache heißt es stationäres Kinder- und | |
Jugendwohnen. „Wir bevorzugen aber den Begriff Wohngruppen.“ WG – das | |
gefalle auch den Kindern besser, sagt Dangelat. | |
Josefa Dangelat ist noch jung, 34 Jahre gerade erst geworden, und hat doch | |
schon einige Kinder großgezogen. Darunter auch Thorsten, einen ihrer ersten | |
Schützlinge. Seit fast 12 Jahren, nahezu ihr ganzes Erwachsenenleben, | |
arbeitet Dangelat hier in Lichtenrade. Die Frau mit dem langen braunen | |
Haar, buntem Schal, den Strassohrringen und dem breiten Lächeln hat | |
angefangen als Praktikantin, wurde dann Erzieherin, später pädagogische | |
Koordinatorin, seit vergangenem Jahr ist sie die Leiterin der Einrichtung | |
mit den fünf Einfamilienhäusern und drei Wohnungen. | |
Nach der Ausbildung – „erst mal was Praktisches“ – hat Dangelat studiert | |
und nebenbei weiter hier gearbeitet. „Ich fahre nach Hause“ – das sagte | |
Josefa Dangelat zu dieser Zeit auch, wenn sie auf dem Weg zu ihrer | |
Wohngruppe in Lichtenrade war. | |
Von den Jugendämtern der Stadt bekommt ihre Einrichtung in normalen Zeiten | |
eine Anfrage pro Woche. „Gerade sind es deutlich mehr, um die sieben“, sagt | |
Dangelat. Das jüngste Kind, das sie im Auftrag des Jugendamts einziehen | |
lassen sollten, war noch keine acht Monate alt. „Das mussten wir ablehnen, | |
das können wir nicht leisten.“ Die meisten Neuzugänge sind um die vier | |
Jahre alt. So wie das Mädchen, das nun mit einem Schnuffeltuch im Arm in | |
der Tür eines der Häuser steht. „Das ist unsere Clearing-Stelle“, sagt | |
Dangelat und meint damit die Gruppe für neu aufgenommene Kinder. | |
## Ankommen in der Clearing-Stelle | |
Die Clearing-Stelle ist der Ort der Ungewissheit. Manche der Kinder, die | |
hier ankommen, hat das Jugendamt direkt aus der Schule abgeholt oder aus | |
verwahrlosten Wohnungen. „Clearing“ steht für Klärung, denn noch ist | |
unklar, ob die Eltern sich dauerhaft oder nur zeitweise nicht kümmern | |
können. Vielleicht sind sie im Krankenhaus, in der Psychiatrie oder im | |
Gefängnis. | |
Fünf Kinder zwischen 4 und 13 Jahren leben im Moment in der | |
Clearing-Gruppe. In drei hellen Zimmern mit bunter Bettwäsche, | |
Familienbildern an den Wänden und Bilderbüchern in den Regalen, mit Puzzles | |
auf dem Boden und Barbies im Bett. Im Bad rotieren kleine Jeans in der | |
Waschmaschine, auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Matheheft. „Kleiner, | |
größer oder gleich“, die Seite ist aufgeschlagen und die Erzieherin erklärt | |
einem siebenjährigen Mädchen mit dunklen Locken, wann die Dinge gleich und | |
ungleich sind. | |
Die ganz Kleinen spielen indes Verstecken. Die Vierjährige mit dem | |
Schnuffeltuch hat sich das Knie gestoßen und weint. Die Erzieherin holt | |
Wundspray und Pflaster, versorgt vorsichtig die äußerlich kaum sichtbare | |
Schramme. Es ist genau die Erzieherin, die vor dreizehn Jahren auch | |
Thorsten in Empfang nahm – mit einem Geschenk auf dem Bettchen. Daran | |
erinnert sich Thorsten heute noch. | |
Eines Tages sei er mit dem Taxi von zu Hause abgeholt und nach Lichtenrade | |
gebracht worden. Nur den Rucksack mit seinem Gameboy hatte er dabei. | |
Thorsten war da gerade mal sieben Jahre alt und hat quasi nicht gesprochen. | |
„Ich habe die Welt nicht verstanden“, erinnert er sich bei einem Treffen in | |
der Wohnung von Josefa Dangelat. Was genau in seinem ersten Zuhause, mit | |
der alleinerziehenden Mutter, vorgefallen war: Thorsten weiß es nicht und | |
will sich auch nicht erinnern. „Was ich sagen kann, ist, dass meine Mutter | |
nicht gesund ist.“ Um den Jungen zu schützen, durfte sie ihn damals ein | |
Jahr lang nicht sehen, nicht wissen, wo er war. | |
„Wir wissen nie genau, was die Kinder alles erlebt haben“, sagt Dangelat. | |
Manchmal erfahren es die Erzieher*innen nach und nach, manchmal nie. Manche | |
Kinder lassen sich nicht duschen, sprechen wie Thorsten kein Wort. Es gibt | |
Kinder, die ihr eigenes Erbrochenes essen mussten, die massive Gewalt oder | |
die Last der Verantwortung für psychisch erkrankte Eltern verarbeiten | |
müssen. Es sind Kinder aus akademischen und aus sogenannten bildungsfernen | |
Haushalten, ohne und mit Migrationshintergrund. „Auch Kinder aus dem | |
Menschenhandel hatten wir schon hier“, sagt Dangelat. | |
Das Mädchen mit dem Schnuffeltuch, das zurzeit in der Clearing-Stelle lebt, | |
hat aufgehört zu weinen und winkt mit den anderen zum Abschied. Die | |
Siebenjährige mit den Matheaufgaben wird uns mit ihrem rosa Fahrrad noch | |
ein Stück durch die Spielstraße der Siedlung begleiten. | |
## Ein festes Team pro WG | |
Es gibt sie auch heute noch, die großen Einrichtungen mit vielen Kindern in | |
einem Haus und einem Schild vor der Tür. Die zwei Frauen, die vor 17 Jahren | |
das Kinder- und Jugendwohnen in Lichtenrade begründeten, „wollten das | |
anders machen, familiärer“, erzählt Dangelat. Sie fanden ein | |
Einfamilienhaus zur Miete, mit einer Gruppe von sechs Kindern ging es los. | |
Dann kam noch ein Haus dazu und noch eins und weitere. Jedes gefundene Haus | |
bedeutete einen Vermieter, der „uns eine Chance gab“. Und Nachbar*innen, | |
„die wir von Anfang an mit eingebunden und überzeugt haben, dass wir gute | |
Nachbarn sind“. | |
„Gerade bei Kindern, bei denen noch regelmäßiger Kontakt zu den Eltern | |
besteht, ist eine Einrichtung wie unsere manchmal die bessere Alternative | |
zu Pflegeeltern“, sagt Dangelat. Zu jeder der fünf Intensivgruppen, in die | |
die Kinder nach dem Clearing kommen und in denen sie rund um die Uhr | |
betreut werden, gehört ein festes Team von mindestens vier Erzieherinnen | |
und Erziehern. Da sei die Zusammenarbeit zwischen Eltern und neuem Zuhause | |
oft leichter als in einer Pflegefamilie. „Wenn es mit einem der Erzieher | |
nicht passt, sind noch drei andere da.“ Für die Eltern bedeutet das weniger | |
Bedrohung, weniger Feindbild. Für das Kind bedeutet es weniger | |
Loyalitätskonflikt und weniger Stress. | |
Wir entfernen uns von dem Haus mit der Clearing-Gruppe, laufen durch die | |
Spielstraße hindurch an einem Spielplatz vorbei, Anwohner grüßen. Das Haus, | |
bei dem wir jetzt ankommen, liegt versteckt in zweiter Reihe. „Das ist | |
unser Schmuckstück“, sagt Josefa Dangelat auf der kleinen Treppe zum | |
Eingang. | |
Die fünf Kinder, die im „Schmuckstück“ wohnen, sind schon keine mehr. Drei | |
Mädchen, zwei Jungs – alle zwischen 13 und 14. Zwei Ältere sind gerade | |
umgezogen in eine Jugendwohngruppe des Trägers, in der sie nur noch | |
stundenweise betreut und begleitet werden. Die drei Mädchen sitzen am | |
langen Esstisch aus dunklem Holz, lernen Französisch und Englisch. Auf dem | |
Tisch stehen Wasser und Gebäck. Die Erzieherin sitzt am Kopfende und macht | |
die Abrechnung. | |
„Hier stimmt was nicht, es ist zu viel Geld in der Kasse“, stellt sie fest. | |
„Hat noch jemand einen Bon in der Tasche?“ Die Mädchen verneinen. In der | |
Ecke steht ein Klavier, über dem Kamin hängen Bilder von gemeinsamen | |
Ausflügen. Einer der Jungen steckt den Kopf zur Terrassentür herein, er | |
sucht in dem kleinen Garten nach Käfern für den | |
Naturwissenschaftsunterricht. „In 20 Minuten ist Hofpause“, sagt die | |
Erzieherin und grinst. Auch hier herrschen Homeschooling-Bedingungen. | |
Im Obergeschoss die Jugendzimmer: Sportplakate an den Wänden, selbst | |
gemalte Bilder auf dem Boden, ein Schminktisch an der Wand, Wäscheständer | |
voller Klamotten. Jeder Jugendliche richtet sein Zimmer selbst ein. Und | |
wäscht seine Wäsche eigenständig. In der Clearing-Gruppe, dort wo wir am | |
Anfang die ganz Kleinen getroffen haben, bleiben die Neuankömmlinge bis zu | |
fünf Monate. In einer festen Gruppe wie dieser hier verbringen sie dann | |
häufig ihre restliche Kindheit und Teile ihrer Jugend. So wie Thorsten. | |
„Das war dann mein Zuhause“, sagt der heute 20-Jährige. Das kleine Kind im | |
Hintergrund sei er am Anfang gewesen. Er, der schlecht hörte und kaum | |
sprach. Bloß nicht auffallen. Und dann sei das entstanden, was er heute als | |
Familie bezeichnet: Zusammenhalt, Vertrauen, miteinander lachen, auch mal | |
Mist machen und trotzdem gemeinsam positiv in die Zukunft schauen. „Ich | |
wurde so respektiert, wie ich bin“ – von den anderen Kindern, von seinen | |
Erzieher*innen. Aus dem stillen Jungen im Hintergrund wurde nach und nach | |
der Aufgeschlossene und Hilfsbereite, der große Bruder, manchmal auch der | |
Pausenclown. | |
Wenn Thorsten anderen heute erzählt, dass er in einer Einrichtung groß | |
geworden ist – „Heim klingt so negativ“ –, dann sagt er auch: „Ich wi… | |
aber kein Mitleid, ich hatte es gut.“ Mit seiner Wohngruppe ist er in die | |
Türkei, nach Schweden und Griechenland gereist. Dank einem Programm für | |
Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen hat er fünf Jahre lang immer | |
wieder die Ferien bei einer niederländischen Gastfamilie verbracht. „Mit | |
denen habe ich heute noch Kontakt.“ | |
## Muster durchbrechen | |
Häuser mit Klavier, Kamin und eigenem Garten, einträchtiger Heimunterricht, | |
Reisen ins Ausland – fast vergisst man, dass es sich um Menschen mit | |
schwierigen Biografien handelt, die hier aufwachsen. „Das täuscht jetzt ein | |
bisschen“, sagt Dangelat, als wir die Intensivgruppe wieder verlassen. | |
Einfach seien ihre Schützlinge gewiss nicht. „Gerade in dieser Gruppe gab | |
es gestern erst eine Prügelei.“ | |
Aber die betonte Familiarität in den Gruppen, die gutbürgerliche | |
Ausstattung der Häuser, die intensive Begleitung der Kinder und | |
Jugendlichen, sie ist Ausdruck des Glaubens, dass man den zerstörerischen | |
Mustern der Eltern etwas anderes, ebenso Wirkungsstarkes entgegensetzen | |
muss. „Die Muster durchbrechen“, sagt Dangelat. Das kostet auch Geld. | |
„Wir gehören sicher nicht gerade zu den günstigen Einrichtungen“, sagt die | |
Leiterin. Jeder Träger verhandelt mit dem Landesjugendamt seinen Kostensatz | |
– je nach Ausstattung. Aber den Jugendämtern der Bezirke, die die | |
Einrichtungen bezahlen, steht jedes Jahr nur ein bestimmtes Budget zur | |
Verfügung. Im Zweifel bedeute das, so Dangelat: Entscheidung nach den | |
Kosten und nicht nach dem Bedarf des Kindes. Ob Kinder und Jugendliche in | |
gut ausgestattete und vergleichsweise teure Einrichtungen wie diese kommen, | |
hängt auch von dem Bezirk ab, in dem sie leben. Einige Jugendämter, so | |
erzählt es Josefa Dangelat, würden aufgrund des enormen Kostendrucks gar | |
nicht mit ihrer Einrichtung zusammenarbeiten. Bei anderen seien sie dagegen | |
dafür bekannt, dass viele ihrer Schützlinge Abitur machten. „Wir hören | |
immer wieder, dass das für stationäre Einrichtungen sehr ungewöhnlich ist.“ | |
Als Thorsten kam, hat er nicht gesprochen – elf Jahre später hat er den | |
Mittleren Schulabschluss geschafft, in diesem Jahr will er seine Ausbildung | |
beenden. Er hat schon lange eine Freundin, träumt von einem „guten Job und | |
einem guten Auto, irgendwann auch Familie“. Zu seiner Herkunftsfamilie hat | |
er kaum Kontakt, er weiß sich zu schützen vor dem, was er „das Negative“ | |
nennt. „Aber verlassen fühle ich mich nicht, ich habe ja meine Wohngruppe.“ | |
Ob er sich fragt, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht nach | |
Lichtenrade, in die Einfamilienhaussiedlung, zu Josefa Dangelat und den | |
anderen gekommen wäre? „Nicht das, was ich heute bin“, sagt er schlicht. | |
## „Er hat es allen gezeigt“ | |
„Er hat es allen gezeigt, hat immer mitgezogen.“ Josefa Dangelat ist | |
sichtbar stolz, ein Lebensweg wie der von Thorsten ist auch ihr Erfolg. | |
Selbstverständlich ist er nicht. „Die Erzieher, die mit großen Utopien | |
kommen, die alle retten wollen, die bleiben oft nicht lange.“ Denn immer | |
gibt es auch die Kinder, bei denen es nicht gelingt, die großen | |
Belastungen, die zerstörerischen Muster der Eltern zu überwinden. Bei denen | |
sich die Geschichten von Sucht, Kriminalität und Beziehungsabbruch | |
wiederholen. Kürzlich ist das Kind einer ehemaligen Bewohnerin eingezogen. | |
Und einer ihrer Schützlinge hat, genau wie einst ihre Mutter, sehr früh ein | |
Kind bekommen. | |
„Gerade bei denen, die recht spät zu uns kommen“, sagt Dangelat, heiße | |
pädagogischer Erfolg manchmal einfach, „dass sie als Erwachsene nicht auch | |
im Gefängnis landen oder in der Psychiatrie“. Es gebe Kinder und | |
Jugendliche, die sie weiterschicken müssen, weil „wir mit unseren Mitteln | |
nicht weiterkommen und sie vielleicht woanders noch eine Chance haben“. | |
Auf einem der kleinen Siedlungswege in Lichtenrade zeigt Josefa Dangelat | |
noch einmal auf eines der versteckten Häuser. Es gibt eine Unsichtbarkeit, | |
die sie hier wollen, in den Häuschen ohne Schilder am Eingang – um ihre | |
Kinder vor dem Stigma Kinderheim zu schützen. Und es gibt eine fatale | |
Unsichtbarkeit, bei der Einrichtungen wie diese genau hinter dem Stigma | |
verschwinden. Auch jetzt in der Coronazeit. | |
„Uns gibt es bei allen Danksagungen und Prämien nicht“, sagt Dangelat. Und | |
auch nicht in den Überlegungen zu Quarantäne und Mitarbeiterschutz der | |
Gesundheitsämter. Dabei seien die Anforderungen an die Erzieher*innen in | |
stationären Kinder- und Jugendeinrichtungen besonders hoch: Die 44 Kinder | |
und Jugendlichen in Lichtenrade sind noch immer die meisten Tage zu Hause | |
statt in der Schule oder im Kindergarten. Bei sechs Kindern pro Gruppe sind | |
die Erzieher*innen schnell nur noch mit Heimunterricht beschäftigt. | |
Sie müssen aber auch die Eltern auffangen, die ihre Kinder zunächst nur | |
noch per Videochat sehen konnten und selbst jetzt nur mit Abstand. Und die | |
Kinder, die in diesen ersten Wochen „unheimlich viel Nähe brauchten“. Einem | |
Vierjährigen, sagt Dangelat, „dem kann ich nicht erklären, was Corona ist, | |
der sieht nur, dass Mama nicht wie sonst zweimal in der Woche kommt“. | |
Die Erzieherin aus der Clearing-Gruppe arbeitet fast jeden Tag statt sonst | |
an drei Tagen in der Woche, der Mann versorgt das eigene Kind. Die | |
alleinerziehenden Mitarbeiterinnen hätten teils ihre Kinder mitgebracht, | |
viele verzichteten auf angemeldeten Urlaub und Übertage. Auch die älteren | |
kämen ohne Unterlass zum Dienst. | |
Es ist ähnlich wie in anderen stationären Einrichtungen und doch anders: | |
„Bei uns können keine Fremden übernehmen, wir arbeiten mit Kindern.“ Weil | |
das so ist, in Coronazeiten wie auch sonst, „könnten wir nicht mal für | |
unsere Belange streiken“, sagt Dangelat, die sich auch im Vorstand der | |
Interessenvertretung der freien Kinder- und Jugendhilfeträger Berlins | |
engagiert. Mit Blick auf die Sparzwänge der Nach-Corona-Zeit befürchtet | |
sie, dass es sich bei ihnen, den Unsichtbaren, dann auch leichter kürzen | |
lässt. | |
## Fehlende Anerkennung | |
Doch trotz fehlender Anerkennung, trotz der Negativbilder, trotz der hohen | |
Anforderungen: „Ich kann mir nichts anderes vorstellen“, sagt die | |
Erzieherin der Clearing-Stelle. Auch wenn sich ein Feierabend um 12 mal bis | |
16 Uhr hinziehen könne, weil man bei einem Konflikt nicht einfach „Ich geh | |
dann mal“ ruft. „Unsere Arbeit muss man leben.“ Die Hälfte des Teams ist | |
wie sie und Dangelat schon seit mindestens 10 Jahren dabei, „die haben | |
gefälligst auch bis zur Rente zu bleiben“, Dangelat lacht. Und meint es | |
doch ganz ernst: „Die Kinder haben doch schon so viele Beziehungsabbrüche | |
erlebt.“ | |
So wie Thorsten haben all ihre einstigen Schützlinge ihre Handynummer. | |
Thorsten ruft an, wenn er Rat braucht – zu seiner Beziehung, der | |
Ausbildung, dem Umgang mit der Mutter. Dangelat war dabei, als er zum | |
ersten Mal seinen Vater wiedersah, er besucht sie in ihrem Zuhause und sie | |
ihn in seinem. Es ist eine Vermischung von Arbeit und Privatleben, bei der | |
jeder seine eigene Grenze finden dürfe und müsse, sagt die Leiterin des | |
Kinder- und Jugendwohnens in Lichtenrade. „Aber wenn ich zehn Jahre lang | |
ein Kind erziehe, dann sage ich am Ende nicht: Tschüss und komm klar!“ Bei | |
Josefa Dangelat klingt das ganz selbstverständlich. | |
* Thorsten heißt eigentlich anders und hat sich diesen Namen ausgesucht, um | |
seine Geschichte zu erzählen. | |
29 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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