| # taz.de -- Entschädigung von ehemaligen Heimkindern: Leeres Versprechen? | |
| > Schleswig-Holsteins CDU will einen Landesfonds, um misshandelte ehemalige | |
| > Heimkinder zu unterstützen. Doch es sind viele Fragen offen. | |
| Bild: Profitiert bis heute von Medikamenten-Versuchen an Heimkindern, entschäd… | |
| Neumünster taz | Schläge, Hunger, Behandlungen mit nicht zugelassenen | |
| Medikamenten: Viele Kinder und Jugendliche, die in den | |
| Nachkriegsjahrzehnten in Heimen in Schleswig-Holstein untergebracht waren, | |
| erlebten psychische und physische Misshandlungen. Dafür erhalten Betroffene | |
| bereits heute Hilfe aus einer Stiftung, in die Länder, Bund und die Kirchen | |
| einzahlen. Die CDU-Landtagsfraktion kündigte zuletzt einen eigenen Fonds | |
| des Landes für mehr Hilfen an – und hat vermutlich zu viel versprochen. | |
| „Das Thema Heimkinder ist in besonderer Weise ein Anliegen von uns“, | |
| [1][sagte der CDU-Abgeordnete und Sozialausschussvorsitzende Werner Kalinka | |
| dem NDR.] „Wir wollen über das Parlament deutlich machen, dass wir allen | |
| eine Unterstützung geben wollen.“ | |
| Betroffene kritisieren die bestehende Stiftung „Anerkennung und Hilfe“, | |
| weil dort nur ein bestimmter Personenkreis angenommen wird. So werden Fälle | |
| berücksichtigt, die sich zwischen 1949 und 1975 zugetragen haben – aber | |
| Betroffene berichten auch von späteren Misshandlungen. Zudem sind nicht | |
| alle Einrichtungen einbezogen. Und: Anträge können nur noch bis Ende des | |
| Jahres gestellt werden. | |
| Mehr Hilfe wäre also durchaus im Sinn der Opfer, sagt auch Günther | |
| Jesumann, Beauftragter des Landes für die ehemaligen Heimkinder. Doch er | |
| ist vorsichtig, was die Bewertung des Kalinka-Vorschlags angeht: „Wir hören | |
| hin, aber wir loben noch nicht.“ Denn außer der Ankündigung „gab es bisher | |
| nichts. Es scheint sich eher um eine Gedankenskizze zu handeln.“ Die | |
| Opferverbände sind bisher nicht einbezogen worden. | |
| ## Vorsichtige Zustimmung | |
| Laut dem Bericht des NDR gebe es inzwischen von mehreren Seiten Zustimmung | |
| zum Plan der CDU. Doch die ist höchstens vorsichtig. Bedeckt hält sich das | |
| Sozial- und Gesundheitsministerium, in dessen Zuständigkeit ein solcher | |
| Fonds fallen könnte. Sprecher Max Keldenich weist darauf hin, dass es im | |
| Büro der Stiftung in Neumünster schon 1.150 Anfragen gab, von denen die | |
| meisten bewilligt wurden, in anderen Fällen laufe noch die Prüfung. | |
| Rund sieben Millionen Euro wurden in Schleswig-Holstein an Opfer | |
| ausgezahlt, 2,1 Millionen Euro hat das Land in den Stiftungstopf | |
| eingebracht. Zudem habe sich das Land dafür eingesetzt, dass länger als | |
| ursprünglich geplant Anträge gestellt werden können, über eine weitere | |
| Verlängerung werde nachgedacht, so Keldenich. Zum neuen Fonds mag er sich | |
| nicht äußern: Der Vorschlag sei „derzeit in Prüfung“, Fragen seien bitte… | |
| die „regierungstragenden Fraktionen“ zu stellen. | |
| Doch auch die CDU, deren Abgeordneter Kalinka den Vorschlag ursprünglich | |
| gemacht hatte, mag zurzeit nichts mehr dazu sagen: „Es gibt nichts Neues“, | |
| heißt es auf Anfrage. | |
| Denn es ist fraglich, wie ein solcher Fonds gestaltet werden und wer – | |
| außer dem Land Schleswig-Holstein – Geld einbringen sollte. Die Kirchen, | |
| der Bund und die anderen Länder sind bereits an der Stiftung beteiligt. Die | |
| Pharmaindustrie, deren Rolle zurzeit in Schleswig-Holstein wissenschaftlich | |
| erforscht wird, beteiligt sich bisher nicht finanziell. | |
| Eine Sprecherin von Bayer verweist auf Anfrage darauf, die Firma habe „seit | |
| Beginn der öffentlichen Diskussion über den Einsatz von Medikamenten in | |
| Kinderheimen in den sechziger und siebziger Jahren gemeinsam mit anderen | |
| Unternehmen diesbezügliche Recherchen aktiv unterstützt“. | |
| ## Bayer zahlt nichts | |
| So dürfen auch die Betroffenen selbst in den Firmenarchiven nach Berichten | |
| und Belegen suchen. Mehrere Aktive des Verbandes ehemaliger Heimkinder in | |
| Schleswig-Holstein nahmen dieses Angebot wahr und förderten zahlreiche | |
| Dokumente zutage. Sie zeigen, dass damals getestete Medikamente teilweise | |
| bis in die Gegenwart verkauft werden. Doch eine finanzielle Hilfe für die | |
| ehemaligen Heimkinder lehnt die Industrie ab, schließlich seien Tests für | |
| neue Medikamente in den Nachkriegsjahren „auf der Grundlage der damals | |
| geltenden rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen und unter der | |
| Voraussetzung der entsprechenden Indikationsstellung durchgeführt“ worden. | |
| Verärgert über den Vorstoß der CDU ist Birte Pauls. Die Abgeordnete sitzt | |
| für die SPD im Gesundheits- und Sozialausschuss. „Bisher haben wir beim | |
| Thema Heimkinder fraktionsübergreifend gut zusammengearbeitet und uns für | |
| gemeinsame Lösungen eingesetzt.“ Das Versprechen weiterer Hilfen wecke | |
| Erwartungen und würde zu einer Enttäuschung führen, wenn es am Ende nicht | |
| dazu käme. | |
| Sie wünscht sich weiter einen gemeinsamen Einsatz des ganzen Landtags, etwa | |
| um die Förderung aus der Stiftung Anerkennung und Hilfe unbürokratischer zu | |
| gestalten und zu entfristen: „Ich war von Anfang an der Meinung, dass es | |
| keiner Fristen bedarf.“ Denn „wer heute ein Recht auf Hilfe hat, hat es | |
| auch übermorgen noch“. | |
| 19 Jun 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Ein-Hilfswerk-fuer-Heimki… | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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