| # taz.de -- Menschenversuche in Schleswig-Holstein: Über 3.000 Betroffene | |
| > Bis in die 70er-Jahre wurden in Schleswig-Holstein Medikamente an | |
| > psychisch Kranken und Menschen mit Behinderung getestet. Nun liegt eine | |
| > Studie vor. | |
| Bild: Kliniken und Heime haben im Auftrag der Pharmaindustrie mit Patient:innen… | |
| Neumünster taz | In allen größeren psychiatrischen Anstalten und | |
| Behinderteneinrichtungen Schleswig-Holsteins fanden Medikamententests an | |
| Patient:innen statt, betroffen waren mindestens 3.000 Menschen. Das ist | |
| das Ergebnis [1][einer Studie der Lübecker Universität]. Der Kieler | |
| Landtag, der die Aufarbeitung in Auftrag gegeben hatte, will 2022 ein | |
| Symposium zum Thema veranstalten und dort den Betroffenen eine Bühne | |
| bieten. Deren Verbänden reicht das nicht: Sie wollen eine Entschuldigung | |
| der Kirche und Entschädigungen für das erlittene Leid. | |
| „Entweder du nimmst das Zeug von alleine oder die jucken dir das mit ’ner | |
| Spritze in den Hintern rein“, so erinnert sich ein Betroffener, der als | |
| Kind in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf dem Hesterberg in Schleswig | |
| lebte. Solche Tests waren legal, weil nicht direkt verboten – allerdings | |
| galten auch damals ethische Regeln, die Menschenversuche ohne Einwilligung | |
| untersagten. | |
| Zu diesen Regeln zählte der „Nürnberger Kodex“, der unter dem Eindruck der | |
| NS-Verbrechen entstanden war. Dennoch waren solche Tests in der | |
| Nachkriegszeit und bis weit in die 1970er-Jahre gängig. „Die Versuche waren | |
| kein isoliertes Ereignis und sie waren auch nicht geheim“, sagte Cornelius | |
| Borck, Direktor des Instituts für Medizingeschichte der Universität Lübeck, | |
| bei der Vorstellung der Ergebnisse im Sozialausschuss. | |
| Die Versuche seien „Teil des Problemkomplexes um die unwürdigen | |
| Verhältnisse in Behindertenhilfe und Psychiatrie“. 41 | |
| Medikamentenerprobungen vor Markteinführung und 34 Anwendungsbeobachtungen | |
| von Arzneimitteln nach Markteinführung konnte das Forschungsteam | |
| nachweisen. | |
| Fündig wurde das Team um Borck und Christof Beyer in den | |
| Landeskrankenhäusern Schleswig, Neustadt und Heiligenhafen, in den | |
| kirchlichen Einrichtungen in Rickling und Kropp sowie in der | |
| Psychiatrischen Klinik der Uni Kiel und dem Städtischen Krankenhaus | |
| Lübeck-Ost. „Ethische oder rechtliche Bedenken waren weder von | |
| Herstellerseite, noch von Seite der klinisch Tätigen und der | |
| Aufsichtsbehörden nachweisbar“, heißt es im Bericht. Für Eckhard Kowalke, | |
| Vorsitzender des Vereins ehemaliger Heimkinder in Schleswig-Holstein, | |
| beweist „die Dokumentation klipp und klar, dass die Verantwortungsträger, | |
| Staat, Kirchen, private Träger sowie Pharmaunternehmen, | |
| Medikamentenmissbrauch betrieben haben“. | |
| Diese Anerkennung ist für die Betroffenen wichtig, aber darüber hinaus | |
| fordern sie eine „öffentliche Entschuldigung der Kirchen, eine | |
| Entschädigung, die über die bisherigen Hilfen hinausgeht, und die | |
| Zusicherung, dass heute und in Zukunft keinem Kind ähnliches Leid | |
| passiert“, sagt Günther Jesumann, der Beauftragte der Opfervertretungen. | |
| Die Medikamententests fanden aus finanziellen Gründen statt. Denn die | |
| Anstalten – die während der NS-Zeit bestenfalls Verwahranstalten und | |
| schlimmstenfalls Tötungsfabriken waren – blieben in der Nachkriegsjahren | |
| die „Armenhäuser“ im Medizinbetrieb. Extremer Personalmangel und knappe | |
| Finanzen bestimmten das Bild in den 1950er-Jahren: Eine Pflegerin betreute | |
| „30 und mehr Kinder“ und musste nebenbei das Putzen beaufsichtigen, die | |
| Kleidung der Kinder in Ordnung halten und Strümpfe stopfen, beschrieb ein | |
| Anstaltsleiter den Alltag. „Wir behelfen uns notgedrungen auf die Weise, | |
| dass wir Unruhestifter abends in ihrem Bett mit Gurten festbinden, die | |
| unter dem Bettrahmen verknotet werden.“ Die neuen Medikamente halfen, die | |
| Patient:innen zu beruhigen, machten sie therapie- oder schulfähig – | |
| wobei „dieses Motiv eher nachrangig erscheint “, heißt es im Bericht. | |
| Es ging um „eine,optimale' Sedierung im Hinblick auf den Anstaltsalltag“. | |
| Der Bericht bringe „Licht in ein schlimmes Dunkel“, sagte der | |
| CDU-Landtagsabgeordnete und Sozialausschussvorsitzende Werner Kalinka. | |
| Vertreter:innen aller Landtagsfraktionen setzten sich dafür ein, das | |
| Thema über die Legislaturperiode hinaus zu behandeln und die Betroffenen | |
| nicht im Stich zu lassen. | |
| ## Pharmaindustrie zahlt nicht | |
| Die erhalten bisher eine finanzielle [2][Förderung von der Stiftung | |
| „Anerkennung und Hilfe“], in die Bund, Länder und Kirchen, allerdings nicht | |
| die Pharmaindustrie, eingezahlt haben. In Schleswig-Holstein erhielten | |
| bisher rund 1.000 Betroffene Geld von der Stiftung, teilt das | |
| Sozialministerium mit. | |
| Sozialminister Heiner Garg (FDP) appelliert an vier nachweislich an | |
| Medikamentenversuchen beteiligte Pharmahersteller, dass sie sich zu ihrer | |
| Verantwortung bekennen und sich an der Aufarbeitung beteiligen. Die | |
| Betroffenenverbände kritisieren die Stiftung, unter anderem, weil nicht | |
| alle Opfer erfasst werden. Taten nach 1975 sind ebenso ausgeschlossen wie | |
| einige Heime. „Wir haben kein Mitspracherecht, wir werden abgespeist“, sagt | |
| Eckhard Kowalke. Ein weiteres Ärgernis: Viele Betroffene haben noch keine | |
| Anträge gestellt, aber die Frist dafür läuft im Juni ab. | |
| 6 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl19/umdrucke/05100/umdruck-19-05160.… | |
| [2] /Entschaedigung-von-ehemaligen-Heimkindern/!5672370 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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