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# taz.de -- Studie über Bremer Pflegeeinrichtungen: Bestraft und ruhig gestellt
> Die Autorin Gerda Engelbracht untersuchte das Leid von Kindern in
> Behindertenheimen und psychiatrischen Anstalten in der Nachkriegszeit.
Bild: Ganz anders als der Alltag: Sommerfest im Evangelischen Hospital Lilienth…
Bremen taz | Mit drei Jahren wird Eva Cramer in die Heil- und Pflegeanstalt
Wehnen gebracht. „Frühkindlicher Hirnschaden mit Schwachsinn schweren
Grades sowie fast vollständige Blindheit“ lautet die Diagnose.
Zunächst entwickelt sich das Mädchen prächtig, gemessen an seinen
körperlichen und geistigen Voraussetzungen. Doch dann, im Alter von zehn
Jahren, geht Evas Leistungsfähigkeit plötzlich zurück. Mit 14 Jahren „sitzt
sie ausgezogen in der für sie üblichen zusammengekauerten Haltung“, heißt
es in der Akte. Während ihrer Pubertät bekommt sie ruhigstellende
Medikamente verabreicht. Sie erstickt schließlich im Alter von 15 Jahren,
durch die flüssige Zwangskost waren ihre Atemwege bis in ihre bronchialen
Verästelungen mit Grießbrei angefüllt.
Die eindrücklichen Schilderungen stammen aus der kürzlich veröffentlichten
„Studie zur Situation von Bremer Kindern und Jugendlichen in den
stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und
Jugendpsychiatrie zwischen 1949 und 1975“. Sie beschreibt die unwürdigen
Bedingungen, unter denen die Bewohner*innen in Bremer Heimen zum Teil leben
mussten.
Mit Dokumenten und Zeitzeugenaussagen dokumentierte Studienautorin Gerda
Engelbracht die internen Abläufe in insgesamt sechs Pflegeeinrichtungen in
und um Bremen.
Wie etwa die gängige Praxis, Jugendliche auf Erwachsenenstationen zu
verlegen, wo sie sexuellen Übergriffen schutzlos ausgeliefert waren.
Bernhard Lichte ist genau das passiert. Von Geburt an gehörlos, wurde er
als Kind auf der Erwachsenenstation sexuell missbraucht. „Ich habe immer
geschwiegen, weil ich Angst hatte“, heißt es in seinem Gedächtnisprotokoll.
Erst als er von der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ erfuhr, habe er sich
getraut, über das Erlebte zu sprechen.
Aufgabe der bundesweit tätigen Stiftung ist es, Menschen zu unterstützen,
die als Kinder und Jugendliche zwischen 1949 und 1975 in Heimen
untergebracht waren und noch heute an den Folgen leiden. Wissenschaftliche
Aufarbeitung leistet dazu einen wichtigen Beitrag, die Arbeit der Stiftung
wird von einer Forschungsgruppe begleitet. Da die Gelder jedoch begrenzt
waren, gab die Bremer Sozial- und Gesundheitssenatorin 2018 eine eigene
Studie in Auftrag.
Die ist als Reaktion auf eine Kleine Anfrage der Bremer Linksfraktion zu
werten, in der diese sich nach dem Aufklärungsstand über den
Medikamentenmissbrauch an Heimkindern in der Jugend- und Behindertenhilfe
sowie stationären Psychiatrie erkundigt hatte. Außerdem forderte sie eine
Verlängerung der Antragsfrist auf Entschädigung bei der bundesweiten
„Stiftung Anerkennung und Hilfe“ – die Frist sollte Ende 2019 auslaufen.
Zwar ist sie mittlerweile verlängert, aber nur um ein Jahr. „Es ist
bedauerlich, dass nur noch bis Ende 2020 Anträge auf Entschädigung von den
Betroffenen gestellt werden können“, sagt Engelbracht. Sie gehe davon aus,
dass aufgrund der Coronapandemie viele Betroffene, vor allem diejenigen,
die in Heimen lebten, keine Anträge gestellt hätten; schließlich konnten
die Mitarbeiter*innen des Amtes für Versorgung und Integration Bremen
(AVIB) die Menschen längere Zeit nicht aufsuchen. Zudem sei die
Hemmschwelle groß, sodass die Betroffenen – wie Bernhard Lichte – sich oft
erst überwinden müssen. Bremen setzt sich derzeit, gemeinsam mit mehreren
anderen Bundesländern, für eine neuerliche Fristverlängerung ein.
Der Titel der Studie „Kein Platz – Nirgendwo“ unterstreicht zweierlei. Zum
einen, dass die Bauplanung von Heimen für Menschen mit größerem
Unterstützungsbedarf in den 50er- und 60er-Jahren nur schleppend voran
ging. Zum anderen, dass die Kinder und Jugendlichen vor allem eines waren:
nicht gewollt. Sie verdienten keinen Platz in der Gesellschaft.
„Schwachsinn“ oder „Idiotie“ hießen damals übliche Diagnosen.
Dass es in den 1960er-Jahren, angestoßen durch die Bremer Lebenshilfe, auch
zu einer positiven Entwicklung von ambulanten Hilfsangeboten,
Fördereinrichtungen und ersten Wohnheimen kam, konnte über die Missstände
in den stationären Einrichtungen nicht hinwegtäuschen.
Horst Lison, ehemaliger ärztlicher Leiter des Evangelischen Hospitals
Lilienthal bezeichnete die dortigen Zustände gar als „schleichende
Euthanasie“. Ein Vergleich, der nicht von ungefähr kommt: Viele Kinder und
Jugendliche überlebten das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht und starben an
den Folgen überdosierter Medikamente, durch Nahrungsentzug oder
Vernachlässigung.
Den Überlebenden ging es in den Folgejahrzehnten nicht viel besser. So
waren Bestrafungen der Kinder und Jugendlichen an der Tagesordnung: Diese
reichten von Prügelstrafen, Einsperren, Fixierung mit Hand- und Fußschellen
über das Festbinden von Bewohner*innen am Bettgestell bis hin zu starken
ruhigstellenden Medikamenten, Elektroschocks und sexualisierter Gewalt.
Begründet wurden die Maßnahmen oft mit Aggressivität der Kinder.
„Für die war das Aggression, für mich war das der Wunsch nach Freiheit“,
sagt Zeitzeuge Manfred Teichmann dazu in seinem Gedächtnisprotokoll.
16 Sep 2020
## AUTOREN
Lena Toschke
## TAGS
Heimkinder
Alten- und Pflegeheime
Missbrauch
Menschen mit Behinderung
Psychiatrie
Heimunterbringung
Gewalt gegen Kinder
Leben mit Behinderung
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