# taz.de -- Landesfürsorgeverband Oldenburg im NS: Verhungernlassen für den P… | |
> Im NS vernachlässigte der Landesfürsorgeverband Oldenburg Patient*innen, | |
> um sich zu bereichern. Herausgefunden hat das der Historiker Ingo Harms. | |
Bild: Dicke Mauern: die Karl-Jaspers-Klinikübernimmt heutzutage den Maßregelv… | |
HAMBURG taz | Am 9. Februar 1945 schreibt Herrmann N. an die Leitung der | |
Heil- und Pflegeanstalt Wehnen im Oldenburgischen, in der sein Sohn seit | |
Kurzem untergebracht ist: „Mein Sohn ist ja total unterernährt und | |
abgemagert und konnte bei meinem Besuch gestern vor Schwäche nicht auf | |
einem Stuhl sitzen, und solche Zustände kommen in einer Pflegeanstalt vor?“ | |
Was ihn schockiert: Er hat seinem Kind eigens Lebensmittelpakete geschickt. | |
Außerdem gehört er als sogenannter Selbstzahler zu denen, die für die | |
Unterbringung eines Angehörigen aufkommen. Zum Glück belässt es der Vater | |
nicht bei dieser Beschwerde: Zwölf Tage später holt er seinen Sohn zu sich | |
zurück, der damit nicht zu den am Ende rund 1.500 sogenannten Oldenburger | |
Hungertoten gehören wird. | |
Sie starben, weil man sie über lange Zeiträume nicht ausreichend ernährte; | |
weil man ihnen den Speiseplan einschränkte und Lebensmittelpakete von | |
Angehörigen einbehielt. Sie starben, weil in vielen Räumen, in denen die | |
pflegebedürftigen Menschen untergebracht waren, die Raumtemperatur zuweilen | |
erheblich heruntergesetzt wurde, um Heizkosten zu sparen und sie so | |
körperlich geschwächt sich auch der grassierenden Krankheiten kaum erwehren | |
konnten. | |
Herrmann N.s Geschichte ist Teil der Studie „Der Verband – Anstaltsfürsorge | |
zwischen Rassenhygiene, Bereicherung und Kommunalpolitik (Oldenburg | |
1924–1960)“. Der Historiker Ingo Harms und sein Team sind immer wieder auf | |
drei Einrichtungen gestoßen: die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen, die | |
heutige Karl-Jaspers-Klinik Wehnen; dann das Gertrudenheim in Oldenburg und | |
schließlich das Pflegeheim Kloster Blankenburg, das heute als Erstaufnahme | |
für Geflüchtete dient. Alle drei sind bereits je für sich auf ihre | |
NS-Geschichte hin untersucht worden. | |
Allerdings blieb bisher die Geschichte eines Akteurs weitgehend unbeachtet: | |
die des übergeordneten, 1924 gegründeten „Landesfürsorgeverbandes | |
Oldenburg“, dessen bestimmender Einfluss sich nicht nur auf die kommunale | |
Sozial- und Gesundheitspolitik im Oldenburger Land erstreckte, sondern auch | |
auf die Kultur- und Wirtschaftspolitik bis hinein in den Energiesektor | |
wirkte. Es ist die Geschichte vom Weg einer nahezu klassischen | |
Fürsorgeeinrichtung, zunächst entsprechend karikativ an- wie ausgelegt, die | |
sich dann zu einer Wirtschaftsinstitution entwickelt, auf die Ingo Harms | |
seinen Schwerpunkt legt. | |
Harms, lange tätig an der ‚Forschungsstelle Geschichte der Gesundheits- und | |
Sozialpolitik der Universität Oldenburg‘, stellte sich die | |
erkenntnisleitende Frage: Warum stieg der Verband zu einem ökonomisch | |
erfolgreichen lokalen Wirtschaftsakteur nicht schon in der Weimarer | |
Republik auf oder hernach in den Anfangsjahren der Nachkriegs-BRD, sondern | |
ausgerechnet während der NS-Diktatur und somit bald unter den Bedingungen | |
einer Kriegswirtschaft? | |
Aufgabe und Ziel des Verbandes, das arbeitet Harms immer wieder heraus, war | |
nicht die Senkung von Betriebskosten, auch weit weniger als vermutet der | |
[1][„Euthanasie“-Gedanke] der Nationalsozialisten, sondern die offensive | |
Vermögensbildung: „Die Vernachlässigung der Patienten war nicht die Folge, | |
sondern die Voraussetzung für die Vermögensbildung“, so seine zentrale | |
These. Als im Mai 1945 das NS-Regime endet, steht der Verband denn auch | |
solide dar: Er verfügt nicht nur über Grundstücke und Immobilien wie etwa | |
drei landwirtschaftliche Betriebe, sondern auch über Barvermögen, | |
Kapitalbeteiligungen und Stiftungskapital. | |
Die Studie ist in ihrer Komplexität und Beharrlichkeit auch das Ergebnis | |
einer Forscherlaufbahn: „Generell ist es so, wenn man sich als Historiker | |
oder als Künstler mit den Schrecken der NS-Zeit beschäftigt, kann man das | |
nicht lange machen, ohne sich eine professionelle Distanz anzueignen. | |
Diesen Weg vom ersten Entsetzen über die Erarbeitung einer | |
wissenschaftlichen Distanz bin ich auch gegangen, um andere Aspekte als die | |
Opferaspekte zu sehen – und so bin ich auf die monetär-ökonomische Seite | |
der Geschichte gestoßen“, so Harms. | |
Dabei stießen seine Forschungen immer wieder auf Gegenwehr: „Widerstand war | |
vom ersten Tag an da.“ Die für die Erforschung wichtige Anstalt Wehnen etwa | |
wurde erst kraft einer Dienstanweisung des Niedersächsischen | |
Sozialministeriums zu einer Art Mitarbeit bewegt. Zugleich profitierte | |
Harms von einem besonderen Umstand: „Ich hatte den Schlüssel zum | |
Privatarchiv des Verbandes und konnte über zehn Jahre lang in aller Ruhe | |
die dortigen Archivalien erforschen. So kamen der sachliche und der | |
ungehinderte Blick zusammen.“ | |
Die Erforschung von Haushaltsplänen, Bilanzen, Jahresabrechnungen sowie | |
Personal- und Verwaltungsakten machte es auch möglich, den Blick auf | |
scheinbar entfernte Tätigkeitsfelder des Verbandes zu lenken. Etwa das | |
[2][Museumsdorf Cloppenburg], damals fest eingebunden in die | |
völkische-bäuerliche Propaganda, wollte man doch so die im Katholizismus | |
verwurzelten Bauern für sich gewinnen. Als das Museum im Laufe des Krieges | |
auf einen Konkurs zusteuert, wird es in den Verband eingegliedert, so | |
wieder auf die Beine gestellt und beispielsweise 1944 mit 93.000 Reichsmark | |
gefördert. | |
Auch das städtische [3][Oldenburger Landesmuseum für Kunst und | |
Kulturgeschichte] profitierte: Es erhielt beträchtliche Mittel zum Ankauf | |
von Exponaten. Auch regionale Fleischmehlfabriken erhielten Zuwendungen aus | |
dem Etat des Verbandes, gleichfalls die 1940 gegründete Ferngas Weser-Ems | |
GmbH, die mit der Summe von zwei Millionen Reichsmark ausgestattet wurde. | |
„Als ich auf die entsprechenden Akten stieß, habe ich selbst gestaunt“, | |
sagt Harms. „Der Konzern, der damals in seiner Gründungsphase profitierte, | |
ist heute als [4][EWE] der fünftgrößte Energieversorger.“ | |
Bei den Internetauftritten der genannten Institutionen wird man zum Thema | |
kaum fündig. „Der heutige Bezirksverband Oldenburg hat sich im Laufe der | |
Jahrzehnte zu einer modernen, effizienten Verwaltungseinheit entwickelt“, | |
lässt der Nachfolger des einstigen Landesfürsorgeverbands unter dem | |
Schlagwort ‚Historie‘ wissen – und nicht viel mehr. Ganz so, als gäbe es | |
die Studie nicht. | |
Ingo Harms und seine MitstreiterInnen dagegen haben parallel und gemeinsam | |
mit Angehörigen ehemaliger Opfer 2004 einen Gedenkort gegründet: im Gebäude | |
der ehemaligen Pathologie, in die einst auch die Opfer des Hungerterrors | |
verbracht wurden, bevor man sie beerdigte. | |
28 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Historiker-ueber-Euthanasie-Verbrecher/!5515166 | |
[2] https://museumsdorf.de/ | |
[3] /!5685261/ | |
[4] /26012023/!5911675 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## TAGS | |
NS-Forschung | |
NS-Verbrechen | |
Oldenburg | |
Euthanasie | |
Pflege | |
IG | |
Euthanasie | |
Bremen | |
Heimkinder | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Euthanasie in der NS-Zeit in Hamburg: Töten statt heilen | |
Da es kein Euthanasiegesetz gab, agierten NS-ÄrztInnen im rechtsfreien | |
Raum. In gleich zwei Hamburger Kliniken töteten sie 200 behinderte Kinder. | |
Buchautor über Euthanasie-Überlebende: „So eine Diagnose sagt nichts aus“ | |
Die Bremerin Paula Kleine überlebte die Euthanasie und die Psychiatrie. Ein | |
Buch über ihr Leben erzählt zugleich die Geschichte der Behindertenhilfe. | |
Studie über Bremer Pflegeeinrichtungen: Bestraft und ruhig gestellt | |
Die Autorin Gerda Engelbracht untersuchte das Leid von Kindern in | |
Behindertenheimen und psychiatrischen Anstalten in der Nachkriegszeit. |