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# taz.de -- Menschliche Psychiatrie: Weniger Zwang ist möglich
> Trotz Reformwillen erreicht Bremen Spitzenwerte bei Fixierungen und
> Zwangsbehandlungen. PsychiaterInnen diskutieren, wie’s besser geht.
Bild: Obacht Psychiatrie! Aus Angst wachsen Abstand und Zwang
BREMEN taz | Geschlossene Türen, Fixierungen, Zwangsmedikation: Es ist das
Schreckensbild einer Psychiatrie, die so heute eigentlich keiner mehr will.
Doch obwohl es das erklärte Ziel sowohl der Politik als auch der
psychiatrischen FachärztInnen ist, die auf PatientInnen ausgeübte Gewalt so
weit es geht zu minimieren, steigen die Zahlen der angewendeten
Zwangsmaßnahmen an. Auf der Fachtagung „Psychiatrie 2.0: Im Spannungsfeld
zwischen Selbstbestimmung und Zwang“ sprach Gesundheitssenatorin Eva
Quante-Brandt in ihrem Grußwort von einer „Schere, die immer weiter
auseinandergeht“ – und gestand ein: „Dass wir ein Problem haben, wissen
wir, und das wissen Sie.“
## Fixierung dauert zehn Stunden
Jörg Utschakowksi, Psychiatriereferent der Senatorin, untermauerte das
„Problem“ mit Zahlen: Bei der Zahl der Zwangseinweisungen liegt Deutschland
europaweit auf Platz zwei. Die durchschnittliche Dauer von Fixierungen
liegt in Deutschland bei 10 Stunden – in England hingegen bei 20 Minuten.
Bei der Zahl der Unterbringungen nach Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG)
ist Bremen bundesweit Spitzenreiter. Das alles will eigentlich niemand,
schon gar nicht in Bremen, wo die im Jahr 2013 auf den Weg gebrachte
Psychiatriereform einstimmig in der Bürgerschaft beschlossen worden war.
Jens Reimer, der nicht erst seit den jüngsten Vorkommnissen am Klinikum
Bremen Ost in die Kritik geratene Chef des Zentrums für Psychosoziale
Gesundheit, räumte in seinem Impulsreferat ebenfalls ein: „Die Anfang des
Jahres in den Zeitungen geäußerte Kritik an der Geno und dem KBO ist nicht
unberechtigt, denn wir haben dort einen Anstieg der Zwangsmaßnahmen zu
verzeichnen.“ Anders sei es im Klinikum Bremen Nord. „Irgendetwas ist in
Nord besser als in Ost, dem müssen wir uns stellen.“ Besonderes Augenmerk
legt Reimer dabei auf die schlechte bauliche Situation in Ost und die
vergleichweise schlechtere Personalausstattung.
## Klinik behandelt Patienten zu Hause
Einen besonderen Weg zur Reduzierung von Zwang und langen
Klinik-Verweildauern zeigte Matthias Heißler, Chefarzt der Psychiatrie im
schleswig-holsteinischen Geesthacht, auf. Er hatte im Jahr 2007 mit den
Krankenkassen ausgehandelt, dass er das ihm zur Verfügung stehende Budget
von rund sieben Millionen Euro frei verwenden darf.
Er reduzierte daraufhin die psychiatrischen Stationen in seinem Haus von
drei auf eine und bildete vier mobile Einsatzteams, die die PatientInnen zu
Hause behandeln. Die verbliebenen rund 20 Betten auf der Station reichen
seither aus, den Landkreis mit 193.000 EinwohnerInnen psychiatrisch zu
versorgen. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Lebensumfeld des
Patienten: „Auf Station ist das Lebensumfeld der blinde Fleck.“ Daher müsse
so schnell wie möglich der Kontakt zu den Beteiligten im sozialen Umfeld
aufgenommen werden.
Die ÄrztInnen in Geesthacht machen daher beides: Sie versehen ihre Arbeit
auf Station und fahren in den mobilen Einsatzteams zu den PatientInnen nach
Hause. Denn der Arzt, dem ein Patient in einer akuten Krise bei der
Aufnahme auf der Station begegne, müsse später auch die ambulante Betreuung
übernehmen. „Wenn man in der Krise die Not geteilt hat, ist das der Boden
für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient.“ Diese
Erfahrung sei „nicht delegierbar“, sagte Heißler.
## Manchmal hilft Essen kochen
Auf der Station selbst sind die Türen offen. Das erfordere zwar eine gute
Vorbereitung aller MitarbeiterInnen, denn die müssten sich bereit erklären,
sehr viel mehr Verantwortung als ohnehin schon zu übernehmen. „Sie müssen
die Tür im Blick haben. Das ist wie im Fußball die Raumdeckung“, erklärt
Heißler. Aber auch durch die Einbindung der PatientInnen selbst in die
Struktur auf der Station könne man Fluchtimpulse oft verhindern. Eine
Möglichkeit sei die in Geesthacht zwischenzeitlich praktizierte
„Kochtherapie“: Die PatientInnen kochen ihr Essen gemeinsam, haben damit
etwas Sinnvolles zu tun und so „weniger Zeit zum Spinnen“. Zur Frage, wie
man das Konzept der Regionalbudgets sinnvoll auf Bremen übertragen könnte,
sagte Heißler: „Das geht nur über die Kliniken. Die müssen bereit sein,
etwas vom Budget an andere Träger zu delegieren.“
Dabei wird klar: Es kommt auf den guten Willen der Beteiligten an. Nicht in
Konkurrenz, sondern nur über Kooperation lässt sich ein solches Konzept
verwirklichen. Die ganz große Frage schließlich, ob eine Psychiatrie in
naher oder ferner Zukunft nicht gänzlich ohne Zwang auskommen könnte,
beantwortete Heißler so: „Psychisch Kranke sind keine Heiligen, das sind ja
Menschen aus Fleisch und Blut.“ Zwang sei auch in der Gesellschaft nun mal
vorhanden. „Den Zwang in den Kliniken ganz abzuschaffen, wird vielleicht
nicht gehen. Aber man kann ihn reduzieren.“
10 Aug 2017
## AUTOREN
Karolina Meyer-Schilf
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Schizophrenie
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Bremen
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