| # taz.de -- Reform auf dem Prüfstand: „Es muss sich dringend etwas ändern“ | |
| > Die Grünen-Politikerin Kirsten Kappert-Gonther war eine treibende Kraft | |
| > hinter der Bremer Psychiatrie-Reform. Damals, sagt sie, herrschte | |
| > Aufbruchstimmung | |
| Bild: Kritisiert die lahme Umsetzung der Psychiatrie-Reform: Kirsten Kappert-Go… | |
| taz: Frau Kappert-Gonther, was haben Sie empfunden, als sich die Bremer | |
| Bürgerschaft 2013 einstimmig für Ihren Antrag zu einer Psychiatrie-Reform | |
| aussprach? | |
| Kirsten Kappert-Gonther: Ich weiß noch, wie ich damals in der Bürgerschaft | |
| saß: Als bei diesem Beschluss tatsächlich alle Hände hochgingen, und für | |
| Menschen, die sonst kaum eine Lobby haben, eine ganze Bürgerschaft sagte: | |
| Ja, die Angebote für psychisch Kranke müssen verbessert werden, da entstand | |
| nicht nur im Parlament, sondern in ganz Bremen eine Aufbruchstimmung. Sie | |
| schloss an die große Psychiatriereform der 1980er-Jahre an und viele | |
| ambulante Anbieter psychosozialer Hilfen haben richtig was bewegt. | |
| Was war der Grundgedanke Ihres Antrags? | |
| Es ist für Menschen in einer psychischen Krise oft schwierig, schnell und | |
| passgenaue Hilfen zu bekommen. Wir haben den Antrag ja damals genau darum | |
| eingebracht, weil die psychiatrische Situation in Bremen nicht so gut ist | |
| wie sie sein müsste, insbesondere was die Versorgung der schwer und | |
| chronisch Kranken anbelangt. Denn die werden vom Versorgungssystem oft | |
| vergessen. | |
| Warum ist das so? | |
| Gerade schwer und chronisch psychisch Kranke brauchen vielfältige und | |
| passgenaue Angebote in den Stadtteilen, die überwiegend ambulant sind und | |
| gelegentlich, in schweren Krisen, auch stationär. Dafür braucht es eine | |
| verbindliche Vernetzung dieser Angebote, und das geht nur, wenn alle | |
| Anbieter zur Kooperation bereit sind und die Interessen der NutzerInnen | |
| über ihre eigenen Interessen stellen. Dafür braucht es klare politische | |
| Rahmenbedingungen. Die herzustellen, ist manchmal schwierig. | |
| Gibt es da Berührungsängste? | |
| Die Auseinandersetzung mit psychischen Krankheiten ist ein Thema, vor dem | |
| viele Menschen zurückschrecken. Und zwar gar nicht aus bösem Willen, | |
| sondern weil es so komplex und auch persönlich beängstigend ist. Das war | |
| dann ein ganz bemerkenswerter Prozess im politischen Raum in Bremen, dass | |
| in allen Fraktionen diese Notwendigkeit der Verbesserung diskutiert wurde, | |
| und alle nachher einstimmig gesagt haben: Wir wollen genau das: mehr | |
| verbindliche Vernetzung, mehr regionale und ambulante Angebote. | |
| Welche Fortschritte gibt es bislang in der Umsetzung? | |
| Es wurden mehrere Modellprojekte angeschoben, von denen mir zwei besonders | |
| am Herzen liegen: Zum einen die verstärkte Miteinbeziehung psychisch | |
| kranker Menschen in die Behandlung. Dafür werden Menschen zu | |
| GenesungsbegleiterInnen ausbildet, die Erfahrung mit einer psychiatrischen | |
| Erkrankung und ihrer Behandlung haben. Denn wenn jemand aus eigener | |
| Erfahrung weiß, was bei der Krise geholfen hat, dann verbessert das die | |
| Behandlung. Gut ist auch das Nachtcafé im Bremer Westen, also es gibt schon | |
| Bewegung. | |
| Und woran hakt es jetzt? | |
| Bisher wird seitens der Gesundheit Nord … | |
| … der Bremer Klinikholding … | |
| … nicht wirklich deutlich, wie sie als entscheidender stationärer Anbieter | |
| der kommunalen Pflichtversorgung hier in Bremen die politischen Beschlüsse | |
| mit umsetzen will. Dabei geht es mir jetzt nicht darum, ob jemand einen | |
| politischen Beschluss umsetzt, sondern darum, gerade den schwer und | |
| chronisch Kranken endlich die notwendigen Hilfen zugute kommen zu lassen. | |
| Was sind das konkret für Hilfen? | |
| Diese Hilfen sind überwiegend wohnortnah und in den Quartieren zu | |
| etablieren. Man denkt ja manchmal, diese Menschen müssten eher in die | |
| Klinik, aber das Gegenteil ist meistens der Fall. Natürlich gibt es auch | |
| Ausnahmen. Es gibt Krisen, da braucht man auch mal einen stationären | |
| Aufenthalt, aber in der Regel geht es darum, dass Menschen in ihrem | |
| Quartier Unterstützung im Alltag bekommen. Denn eine psychische Erkrankung, | |
| gerade wenn sie besonders schwer ist, entwickelt sich nicht in wenigen | |
| Wochen und geht auch nicht innerhalb weniger Wochen wieder weg. Betroffene | |
| brauchen eine langfristige Begleitung. Und die kann eben sinnvollerweise | |
| nicht auf einer Station stattfinden, sondern da, wo die Menschen leben, in | |
| ihrem Alltag. | |
| Wie passt das nun mit den aktuellen Entwicklungen im Klinikum Bremen Ost | |
| zusammen? Dort sollen Patienten über längere Zeiträume sediert und fixiert | |
| worden sein, und es soll zu wenig Gesprächsangebote geben … | |
| Das widerspricht dem politischen Willen und übrigens auch meiner | |
| Vorstellung von Psychiatrie, wie ich sie als Fachärztin für Psychiatrie und | |
| Psychotherapie gelernt habe. Ich nehme die Hinweise über die | |
| Behandlungssituation auf den Stationen in Bremen Ost sehr ernst. Da muss | |
| sich dringend etwas ändern. | |
| Woran liegt das? | |
| Ich unterstelle, dass die Menschen, die auf den Stationen arbeiten, ihre | |
| Patientinnen und Patienten gut behandeln wollen. Aber man muss sie auch in | |
| die Lage dazu versetzen. | |
| Gibt es zu wenig Personal? | |
| Die Leitung der Klinikholding kann ja entscheiden, wie sie mit den | |
| Geldmitteln umgeht, die sie von den Krankenkassen zur Behandlung der | |
| PatientInnen bekommt. Es ist eine Leitungsentscheidung, ob ich sage: Ich | |
| gebe das Personal in die Behandlungszentren, wo ambulante und passgenaue | |
| Hilfen im Quartier angeboten werden. Oder ich hole die Menschen auf die | |
| Stationen. Aber wenn ich Personal aus den Behandlungszentren abziehe, dann | |
| wird die ambulante Versorgung schlechter. Was bedeutet, dass die | |
| Wahrscheinlichkeit von krisenhaften Zuspitzungen steigt. Was wiederum | |
| bedeutet, dass sich Krisen auch ballen. Deshalb kann man nicht so schlicht | |
| sagen: Hier ist eine Schwester zu wenig auf Station und das ist der Grund | |
| für Missstände. Man muss die gesamte Versorgungslandschaft angucken, und | |
| das ist genau das, wofür ich werbe. Und es ist eine Leitungsentscheidung, | |
| welche Konzepte der stationären Behandlung zugrunde liegen. Biete ich ein | |
| breites therapeutisches Angebot an oder wird vor allem auf Medikamente | |
| gesetzt? | |
| Wie sieht es mit der Finanzierung aus? | |
| Es gibt Hinweise dafür, dass das Geld, was den Krankenhäusern zur | |
| Versorgung der psychisch Kranken zur Verfügung gestellt wird, gar nicht | |
| vollständig im psychiatrischen Bereich landet, sondern dafür genutzt wird, | |
| andere Krankenhausbereiche zu subventionieren. | |
| Die Kliniken müssen allerdings auch wirtschaftlich arbeiten. | |
| Das Konzept einer gut vernetzten, aufeinander abgestimmten psychiatrischen | |
| Versorgung zwischen ambulant, teilstationär und stationär läuft | |
| wirtschaftlichen Interessen nicht zuwider. Wenn man das Geld, das die | |
| Krankenkassen und die öffentliche Hand für die Versorgung psychisch Kranker | |
| bezahlen, gut aufteilen würde zwischen dem ambulanten und dem stationären | |
| Sektor, könnte man damit eine gute psychiatrische Versorgung machen. | |
| Die Gesundheitssenatorin ist verantwortlich für die Umsetzung der Reform – | |
| aber sie ist auch im Vorstand der Klinikholding. Ist das ein Widerspruch? | |
| Die Gesundheitssenatorin hat den Auftrag, das gesamte Versorgungsangebot so | |
| sicherzustellen, dass es den Menschen hier in Bremen bestmöglich zugute | |
| kommt. Das Geld, dass für psychisch Kranke zur Verfügung steht, muss auch | |
| für sie eingesetzt werden. Wenn man davon ausginge, dass die | |
| Gesundheitssenatorin ein Interesse an Quersubventionierung hat, dann wäre | |
| das ein Interessenkonflikt. | |
| Der neue Leiter des Zentrums für psychosoziale Medizin, Jens Reimer, sollte | |
| bis Ende des Jahres 2016 ein Konzept zur Umsetzung der Reform entwickeln – | |
| ist da schon etwas passiert? | |
| Nach meiner Kenntnis ist kein Konzept vorgelegt worden. Ich habe deshalb | |
| darum gebeten, Professor Reimer zu der nächsten Sitzung der | |
| Gesundheitsdeputation einzuladen. Damit er uns – auch wenn bis dahin noch | |
| kein schriftliches Konzept vorliegt – zumindest mündlich darlegt, wie sich | |
| die Gesundheit Nord ihren künftigen Beitrag zur psychiatrische Versorgung | |
| vorstellt. Wir haben die politische Verantwortung sicherzustellen, dass | |
| psychisch Kranke gute Bedingungen finden. Und das geht nur, wenn man die | |
| Angebote verbindlich im gemeindepsychiatrischen Verbund koordiniert. | |
| Was erwarten Sie jetzt von der Bremer Klinikholding? | |
| Als erstes, dass sie die Missstände abstellt und dass sie ihrem | |
| Versorgungs- und Vernetzungsauftrag insbesondere für die schwer und | |
| chronisch psychisch Kranken besser nachkommt als bisher. Und das bedeutet, | |
| die Behandlungszentren in den Stadtteilen gut auszustatten und verbindliche | |
| Kooperationsstrukturen festzulegen. | |
| Was muss konkret passieren, um den Beschluss umzusetzen? | |
| Wir müssen das Konzept der Klinikholding zur Psychiatrie sehen und | |
| überprüfen, ob es den Anforderungen einer modernen kommunalen | |
| Pflichtversorgung entspricht und die Behandlungsangebote wirklich | |
| verbessert. Dann geht es um die konkrete Umsetzung. Meine Lieblingsvariante | |
| wäre, dass dafür bei der Gesundheitssenatorin ein Expertengremium | |
| eingesetzt wird, in dem externe Fachleute dabei sind und natürlich auch | |
| Angehörigen- und Betroffenenvertreter. | |
| 5 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Karolina Meyer-Schilf | |
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