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# taz.de -- Psychiatrie auf Augenhöhe: Irre
> Das Bewusstsein ist fortgeschritten, die Praxis hinkt hinterher – weil
> die Kosten schwer abzurechnen sind. Dabei hat jeder Dritte zumindest
> einmal psychische Probleme.
Bild: Während seiner Zeit in der Göttinger Psychiatrie malte der Patient Juli…
BREMEN taz | Mit finsteren „Irrenhäusern“ hat die moderne Psychiatrie kaum
noch etwas gemein. Doch auch wenn heute die Heilung im Mittelpunkt steht
und nicht das Wegschließen vermeintlich gefährlicher Wahnsinniger, ist ihre
gesellschaftliche Ausgrenzung nicht überwunden. Die Mauer seien nur
unsichtbar geworden, sagen Betroffene. Auch ÄrztInnen und Pflegekräfte
beklagen die Stagnation der seit 40 Jahren laufenden Reformen.
Psychiatrie-Verbände fürchten gar, dass zentrale Errungenschaften erneut
auf dem Spiel stehen – aus Kostengründen.
So wird kommende Woche auf dem „Welttag der Seelischen Gesundheit“ am 10.
Oktober nicht nur für Akzeptanz von Krankheit und seelische Krisen
geworben, sondern in vielen Veranstaltungen auch scharfe Kritik an der
herrschenden Gesundheitspolitik laut. Gastgeberstädte der „Woche der
Seelischen Gesundheit“ sind im Norden diesmal Lübeck, Stade, Rostock und
Bremen. Ausgerichtet werden die Informations- und Kulturveranstaltungen
zumeist von den Kliniken, inhaltlich gestaltet werden sie aber auch von
Psychiatrieerfahrenen selbst.
## Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Dass es heute eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe gibt, ist keine
Selbstverständlichkeit. Als die Psychiatriereform 1975 begann, hätte sich
wohl kaum ein Arzt darauf eingelassen. Auch die damals auf ihrem Höhepunkt
befindliche Antipsychiatriebewegung war kaum versöhnlicher gestimmt. Heute
werden Betroffene vielerorts in die therapeutische Arbeit eingebunden und
sind in unabhängigen Besuchskommissionen daran beteiligt, geschlossene
Stationen zu kontrollieren.
Missstände gibt es freilich auch heute noch. Doch das Problembewusstsein
vieler Entscheider hat sich geändert – und auch rechtlich haben sich die
UN-Behindertenrechtskonvention und das Grundgesetz als wirksame Schranken
erwiesen. Zumindest der Anspruch besteht, es gut zu machen. Nur ist das bei
Personalknappheit und Spardiktat gar nicht einfach umzusetzen.
Das Problem liegt bei maßgeblich von den Krankenkassen konstruierten
Sachzwängen. Es geht ums Geld. Genauer gesagt um die Frage, wie die
Kliniken ihre Leistungen mit den Kassen abrechnen. Anders als in der
Somatik ist der notwendige Aufwand nicht messbar, weil er nicht an der
Diagnose sondern am Betreuungsaufwand hängt. Für eine Blinddarmentzündung
gibt es eine Fallpauschale, für gebrochene Beine eine andere. In der
Psychiatrie hingegen zählen aus guten Gründen die Behandlungstage.
## Falsche Anreize durch Pepp?
Die anstehende Neuregelung wird das zumindest aufweichen. Strittig ist
dabei das geplante Entgelte-System namens „Pepp“ – „Pauschalierendes
Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“. Es gebe falsche Anreize, so
die Kritik: Es werde sich künftig rechnen, PatientInnen möglichst früh zu
entlassen und an der eigentlich besonders wichtigen persönlichen Zuwendung
und der langsamen Einbeziehung des Alltags außerhalb der Kliniken zu
sparen. Außerdem lohnt sich die Betreuung Schwerkranker unter Pepp
erheblich weniger als die Aufnahme leichter Fälle auf entsprechend
lukrativen Spezialstationen.
Diese Trennung spiegelt sich auch in der gesellschaftlichen Akzeptanz
psychischer Erkrankungen. So ist die Rede von der „Modediagnose Burnout”
ins Positive gewendet eher ein Aufruf, sich mal eine Auszeit zu gönnen.
Gleichzeitig aber fühlen sich Schwerkranke ausgestoßen und stigmatisiert.
Es sind ausgerechnet die einst gegen zähe Widerstände erstrittenen
Betreuungsstandards, die sich heute ins Gegenteil kehren: Denn der
Mehrarbeit durch persönliche Betreuung und ausführliche Dokumentation kann
dank dem Stellenabbau der vergangenen Jahre niemand mehr gerecht werden. So
bleibt vor allem der am wenigsten messbare Bereich auf der Strecke: die
Zuwendung.
Bei der „Woche der Seelischen Gesundheit“ läuft in Rostock auch die zehnte
Ausgabe des Filmfests „Ab’gedreht”, das Filme über psychisch Erkrankte
zeigt und zur Diskussion stellt. Auch in Bremen wird thematisiert, wie das
Bild psychischer Erkrankungen vom Unterhaltungsfernsehen beeinflusst wird.
Ein weiterer Schwerpunkt der diesjährigen Aktionswoche ist der Umgang mit
den Flüchtlingen – insbesondere mit den unbegleiteten Minderjährigen. Denn
deren Betreuung stellt die psychiatrische Infrastruktur gleich vor ein
doppeltes Problem: Die große Zahl teils schwerst Traumatisierter zum einen
– und zum anderen, dass sie in der Fremde und von Abschiebung bedroht gar
keine gesunde Lebenswelt haben, in die man sie eingliedern könnte.
## Seelische Erkankungen sind kein Nischenproblem
Doch seelische Erkrankungen sind kein Nischenproblem: Jeder dritte Mensch
erleidet im Laufe seines Lebens wenigstens eine seelische Krise, hat das
Robert-Koch-Institut erhoben. So geht es bei der Verbesserung der
Psychiatrie auch um handfeste gesellschaftliche Interessen: Seit der
Jahrtausendwende hat sich die Zahl der aus psychischen Gründen
Krankgeschriebenen fast verdoppelt. Bei den Frühberentungen sind psychische
Erkrankungen die am weitesten verbreitete Ursache. Schon vor einigen Jahren
hat die Bundesregierung die Belastung der Volkswirtschaft aufgrund
psychischer Störungen auf rund 70 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung
geschätzt.
Und wenn es dann letztlich ökonomische Gründe sein sollten, die
Menschenrechte psychisch Erkrankter nicht aufzugeben – dann ist das besser
als nichts.
Den ganzen Schwerpunkt zum Thema Psychiatrie lesen Sie in der gedruckten
Norddeutschland-Ausgabe der taz.nord oder [1][hier].
1 Oct 2015
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## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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