# taz.de -- Krise der Psychiatrie in Bremen: Reformgeist erloschen | |
> Vor vier Jahren erneuerte Bremen die psychiatrische Unterbringung. Heute | |
> ist der Elan versackt, die Beteiligten scheinen überfordert oder | |
> desinteressiert. | |
Bild: „Des maladies mentales“, Paris, 1838: Kupferstich von Ambroise Tardieu | |
Bremen taz | Bremens Aufbruch in eine menschenfreundliche und zeitgemäße | |
Psychiatrie steckt in der Krise. Dabei galt die Reform lange als bundesweit | |
führend, als Vorbild und Inspiration für ÄrztInnen, Pflegekräfte und | |
Betroffeneninitiativen gleichermaßen. Die „Psychiatrie 2.0“ schien der | |
große Wurf zu werden und endlich Schluss zu machen mit dem Spuk der | |
Verwahrhäuser – ein Reformvorhaben, das in den 1970er-Jahren mit der | |
Psychiatrie-Enquete begann und schließlich 2013 zu einem einstimmigen | |
Beschluss des Bremer Landesparlaments führte, zur „Weiterentwicklung der | |
Psychiatriereform in Bremen“. Nach Jahren der Stagnation herrschte | |
kurzzeitig wieder Aufbruchstimmung in den Kliniken, in der Politik und auch | |
bei vielen Betroffenen, neue Initiativen haben sich zusammengefunden, | |
Projekte wurden gegründet – ja, auch die taz zeigte sich beeindruckt von | |
dem Ruck, der in das starre System gefahren war. | |
Davon ist heute, kaum vier Jahre später, nicht mehr viel zu spüren. | |
AktivistInnen resignieren, PatientInnen berichten von schweren Missständen | |
in der Klinik, die zu einer doppelten Angst führen: während einer akuten | |
Krise, mit Realitätsverlust oder Suizidgedanken, draußen allein zu sein | |
oder aber eben ins Krankenhaus gebracht zu werden und auf Station erst mal | |
ans Bett geschnürt zu werden. Das passiert teils über mehrere Tage, ohne | |
Erklärung, Nachbesprechung oder überhaupt ein Arztgespräch, das über ein | |
paar eilige Sätze hinaus ginge. | |
Hört man sich im Gemeinschaftshaus des Klinikums Bremen-Ost um, haben dort | |
fast alle entsprechende Erfahrungen gemacht. Und auch die | |
Patientenfürsprecher Detlef Tintelott und Gerlinde Tobias kennen solche | |
Fälle zur Genüge. Als der Weser-Kurier ihre Kritik kürzlich öffentlich | |
machte, geriet die Sache mal wieder etwas in Bewegung, Lösungen werden nun | |
diskutiert, auch Gesundheitssenatorin Eva Quante-Brandt (SPD) war da. | |
Bestritten hat die Vorwürfe niemand. Und wirklich überrascht konnten sich | |
ohnehin nur jene zeigen, die der Reform bislang nur aus der Ferne zugesehen | |
hatten. | |
Schlimmer noch als in der Allgemeinpsychiatrie ist es dort, wo kaum jemand | |
hinsieht: In der Forensik, wo vermeintliche und echte StraftäterInnen mit | |
psychischen Problemen untergebracht werden. Hier beklagen PatientInnen | |
fehlende Therapien, Schikanen und willkürliche Sanktionen durch das | |
Personal, tagelange Einschlüsse im sogenannten „Beobachtungszimmer“. | |
Zwischen 2009 und 2013, hatte der Senat auf Anfrage der CDU gesagt, seien | |
durchschnittlich 16 solcher Einschlüsse im Jahr vorgenommen worden. Allein | |
im ersten Monat dieses Jahres will ein Patient schon mehr als zehn gezählt | |
haben. Eine andere Gefangene berichtete, man habe ihr schon mehrfach | |
gesagt, dass sie längst im Beobachtungszimmer säße, wenn es nicht gerade | |
belegt wäre. | |
Was hinter den geschlossenen Türen der Forensik geschieht, geht die ganze | |
Gesellschaft an. Denn wer bei Forensik allein an „Triebtäter“ und | |
„sadistische Gewalttäter“ denkt, vergisst viele, die schlichtweg durchs | |
Netz gerutscht sind: Alkoholiker und Kleinkriminelle, die vielleicht einmal | |
gehofft haben, mit Therapien Haft zu vermeiden und dann vor Gericht an den | |
falschen Gutachter geraten sind. Wer erst einmal drinsitzt, der bleibt | |
meist auch dort. Rund ein Drittel der Straftäter, die als „Gefahr für die | |
Allgemeinheit“ eingestuft worden sind, ist seit mehr als zehn Jahren in der | |
Forensik. „Entlassungen kommen hier nur selten vor“, sagt ein Inhaftierter | |
zur taz. Es bleibt nur das Hoffen darauf, dass die jährliche Anhörung den | |
Weggesperrten einen Therapiefortschritt attestiert. | |
## Draußen vor der Tür | |
Gerade hier verblüfft ausgerechnet das Reformland Bremen mit der Praxis, | |
die PatientenInnen bei diesen Anhörungen größtenteils außen vor zu lassen: | |
Die Betroffenen sitzen 25 Minuten vor der Tür, während sich Justiz und | |
Medizin drinnen beraten – und haben anschließend nur fünf Minuten Zeit, | |
selbst Stellung zu nehmen. Das berichten mehrere PatientInnen und | |
AnwältInnen übereinstimmend. | |
Die Forensik mit ihren teils tatsächlich gefährlichen Langzeitinsassen mag | |
ein Sonderfall sein – doch das Rein-Raus der sprichwörtlichen | |
„Drehtürpatienten“ in der Allgemeinpsychiatrie führt ebenfalls zu großen | |
Problemen. Als die Klinik nämlich – eigentlich ganz im Sinne der Reform – | |
begann, stationäre Betten abzubauen, war das ambulante System draußen | |
überrumpelt und überfordert mit der Anzahl und dem extremen | |
Behandlungsbedarf der Menschen. Auch hier wurde erst das Gespräch gesucht, | |
als die betroffenen Träger an die Öffentlichkeit gingen. | |
Mitten in diesem Engpass wurde dann der nächtliche Krisendienst abgestellt, | |
der seit Jahrzehnten Anlaufpunkt für Menschen war, deren Zustand nachts | |
akut wurde – aus Kostengründen, wie üblich im Haushaltsnotlageland. Im | |
gleichen Zeitraum verschwanden auch das Infotelefon „Plan P“ und die | |
„Unabhängige Patientenberatung“ aus der Bremer Präventionslandschaft. | |
Letztere war als neutrale Beratungsstelle seit 1998 bundesweit Vorreiter. | |
Immerhin: Befristete Modellprojekte beginnen seit Ende letzten Jahres | |
langsam, die hausgemachten Lücken wieder zu schließen. Und währenddessen | |
steigt die Zahl der Zwangseinweisungen im Reformland Bremen Jahr für Jahr | |
kontinuierlich an: 1.147 Einweisungen meldet das Gesundheitsressort allein | |
für das Jahr 2016. | |
In der Klinik machen die Probleme derweil die Runde: In den Berichten der | |
Besuchskommission ist nachzulesen, wie Schließungen in der einen Station | |
zum Patientenstau in der nächsten führen. Das ist nicht nur für | |
PatientInnen unerträglich, es stresst auch das chronisch unterbesetzte | |
Personal. Zwar hat man laut Gesundheitsressort 90 Prozent der in der | |
„Verordnung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der | |
stationären Psychiatrie“ vorgesehen Stellen besetzt, doch entsprechen dem | |
immerhin zehn Prozent, die fehlen. Und das ist viel, gerade in der auf | |
persönliche Zuwendung angewiesenen psychiatrischen Behandlung. Begründet | |
wird die Nichtbesetzung derzeit mit Fachkräftemangel. Ärzte und einige | |
PolitikerInnen vermuten hingegen, dass von den Krankenkassen für psychisch | |
Erkrankte bereitgestelltes Geld in andere Bereiche der Kliniken umgeleitet | |
werde. Unstrittig ist, dass die Klinikholding Gesundheit Nord (Geno) unter | |
extremem wirtschaftlichen Druck steht: Wegen der Bremer Sparpolitik zum | |
einen und wegen des Neubauprojekt des Klinikums Bremen-Mitte, das erheblich | |
teurer wurde als geplant war, zum anderen. | |
## Ein Papier, das es nicht gibt | |
Wohin sich die Reform zukünftig entwickeln wird, ist unklar. Wer danach | |
fragt, wird seit Monaten auf ein Papier verwiesen, das es bis heute nicht | |
gibt. Im Sommer vergangenen Jahres sollte die neue Leitung der Psychiatrie | |
ein Konzept zur Neuordnung der psychiatrischen Landschaft vorlegen, die | |
faktisch längst angelaufen ist. Dass kaum noch jemand optimistisch in die | |
Zukunft blickt, dürfte daran liegen, dass niemand weiß, was genau die | |
ReformerInnen eigentlich vorhaben. | |
Von den alten Ideen jedenfalls ist nicht mehr viel übrig. Das viel gelobte | |
Modellprojekt Bremerhaven-Reinkenheide hat zwar hübschere Räume gebracht, | |
doch das eigentliche Herzstück ist sang- und klanglos untergegangen. Die | |
Idee nämlich, Behandlungskosten grundsätzlich neu zu verwalten und die | |
Brüche zu verhindern, die etwa zwischen betreutem Wohnen und | |
Klinikaufenthalten entstehen. Die führen zu kraftraubenden Verhandlungen | |
mit den Krankenkassen und bieten Kliniken Anreize, nur günstig zu | |
therapierende, leicht Erkrankte aufzunehmen. Die Neuordnung ist ein | |
Kernstück der Reform, geboren aus der Erkenntnis, dass sich psychische | |
Krisenzustände nicht einfach nach Schema F und Preiskatalog wegtherapieren | |
lassen. Bundesweit ist die Testphase für entsprechende Modelle gerade | |
verlängert worden, Bremerhaven aber wurde frühzeitig gestoppt, obwohl eine | |
wissenschaftliche Begleitung der Uni Greifswald lief und sogar die | |
Krankenkassen im Boot waren. | |
All das führt noch die banalste Erkenntnis der Reform vor: dass es | |
historisch unbestreitbar ein Fortschritt war, die Betreuung psychisch | |
Erkrankter aus den Verwahranstalten zu holen und ins medizinische System zu | |
integrieren. Nur sind ihre Diagnosen darum noch längst nicht die | |
irgendwelcher Krankheiten unter vielen anderen. Sie sind nicht immer | |
vollständig ausheilbar – und oft ist das auch gar nicht nötig, um | |
PatientInnen zurück in ihre gewohnte Umgebung zu entlassen: Mit vielen | |
Diagnosen ließe sich einigermaßen problemlos leben, wenn man sich denn nur | |
darauf verlassen könnte, dann Hilfe zu bekommen, wenn die Situation akut | |
wird. In den Alltag eingebunden, wohnortnah und sektorübergreifend – so | |
lauten die Schlagworte der Reform, wie sie vor Jahrzehnten skizziert wurde | |
und wie die Bremer Bürgerschaft sie 2013 bekräftigt hat. Gelingen kann das | |
freilich nur, wenn die Kliniken sich an der Umstrukturierung beteiligen und | |
wenn sie die Diskussion offen führen – auch, um das Vertrauen der | |
Öffentlichkeit nicht zu verspielen. Doch danach sieht es zurzeit nicht aus. | |
Ob die Reform nun endgültig gescheitert ist oder noch zu retten: Zumindest | |
ist klar, dass sie sich in einer tiefen Krise befindet. So bemerkenswert | |
der einstimmige Bürgerschaftsbeschluss auch ist: Zum Selbstläufer ist die | |
Reform darum nicht geworden, auch wenn dank Diskriminierungsverboten und | |
UN-Behindertenrechtskonvention längst klar ist, dass Zustände wie am | |
Klinikum Bremen-Ost der Vergangenheit angehören müssen. | |
Den ganzen Psychiatrie-Schwerpunkt lesen Sie in der gedruckten | |
Norddeutschland-Ausgabe der taz.am wochenende oder [1][hier]. | |
3 Feb 2017 | |
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## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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