# taz.de -- Psychiatrie und Wohngemeinschaft: Vorsicht beim pinken Zylinder | |
> Eine Wohngemeinschaft für schwule Männer mit psychischen Erkrankungen | |
> ermöglicht den Bewohnern ein normales Leben in Hamburg. | |
Bild: In einer Wohngemeinschaft in Hamburg sollen psychisch kranke schwule Män… | |
HAMBURG taz | Heute ist ein guter Tag. Sascha fläzt sich in den schwarzen | |
Ledersessel, die Beine hält er locker übereinander geschlagen, die Augen | |
blicken offen geradeaus. „Normalerweise würde ich jetzt so richtig | |
abdrehen. Doch ich fühle mich echt stabil“, sagt er und lacht einen Moment | |
auf, ganz so, als überraschten ihn die eigenen Worte. | |
Jetzt: Das sei der Winter, die Kälte, das seien die dunklen Wochen im | |
Januar und Februar, sagt Sascha. Für ihn ist es die härteste Zeit im Jahr. | |
„Normalerweise“ zumindest: Dann, wenn seine Manie wieder ausbricht. Wenn | |
die erste Euphorie, dieses „Hochgefühl, das keine Droge schaffen kann“ | |
schwindet und Wahnvorstellungen sein Leben bestimmen. | |
## Emotionale Achterbahn | |
13 Jahre lang ging das so. Heute wirkt der 44-Jährige entspannt, wenn er | |
darüber spricht, was hinter ihm liegt – und was ihn hergeführt hat, in | |
diese Wohnung, die erst seit wenigen Monaten sein Zuhause ist. Sascha | |
leidet unter einer bipolaren Störung, er ist manisch-depressiv. Und Sascha | |
ist schwul. | |
Nun lebt er in der „Andersrum-WG“, Hamburgs erster betreuter | |
Wohngemeinschaft für schwule Männer mit psychischen Erkrankungen. „Hier | |
wohnen zu können, ist ein Riesenglück“, sagt Sascha. Hohe Decken und heller | |
Parkettboden, ein paar bunte Wände, im langen Flur lehnt ein Rennrad an der | |
Wand: Die sanierte Altbauwohnung wirkt gemütlich und aufgeräumt, alles hier | |
scheint seinen festen Platz zu haben. | |
Seitdem Sascha im Frühjahr eingezogen ist, habe sein Alltag wieder so etwas | |
wie „Struktur und Ordnung“, sagt er. Seit Mai gibt es die WG in Altona, | |
betreut werden Sascha und seine drei Mitbewohner durch Mitarbeiter des | |
Psychosozialen Trägervereins Eppendorf/Eimsbüttel (PST), der die WG | |
zusammen mit dem Magnus-Hirschfeld-Centrum (MHC) verwaltet. Alle Bewohner | |
sind schwul, die Betreuer zum Teil auch. Nun wurde das Angebot ausgebaut, | |
im Dezember hat der PST die zweite „Andersrum-WG“ eröffnet. | |
## Doppelt stigmatisiert | |
Neu ist das Prinzip des betreuten Wohnens in der psychosozialen Arbeit | |
nicht: Allein der PST betreut insgesamt 20 WG's für psychisch Kranke in | |
ganz Hamburg. Dass sich die „Klienten“, wie es in der Fachsprache oft | |
heißt, Wohnungen teilen, habe sich eben bewährt, erklärt PST-Mitarbeiter | |
Herbert Villhauer. Die Bewohner führten ein selbstständiges Leben – nur | |
eben „eines mit Hilfestellung“. | |
Villhauer ist 56 Jahre alt und selbst schwul, sein Outing liegt bereits | |
Jahre zurück. Er hatte die Idee zu den Hamburger „Andersrum-WG's“. Drei | |
Jahre lang hat er am Konzept gearbeitet, bis die erste Wohngemeinschaft an | |
den Start ging. | |
Doch warum ist dieses spezielle Betreuungsangebot überhaupt nötig? | |
Villhauer überlegt einen Moment, bevor er seine Gedanken in Worte fasst. | |
„Psychisch kranke Schwule sind in unserer Gesellschaft einer doppelten | |
Stigmatisierung ausgesetzt, durch ihre Erkrankung und durch ihre | |
Sexualität, die immer eine besondere Auseinandersetzung mit Männlichkeit, | |
mit gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungshaltungen bedeutet“, sagt | |
er. Gerade in betreuten Wohnungen sei es wichtig, dass sich die Bewohner | |
aufgehoben und angenommen fühlen, die eigenen vier Wände würden zum | |
Schutzraum. | |
„Ein solches Angebot für Schwule war in Hamburg längst überfällig, denn d… | |
Bedarf ist groß“, sagt Villhauer. Lange vor der Gründung der ersten | |
Andersrum-WG häuften sich beim PST die Anfragen von Männern, die lieber mit | |
anderen Schwulen zusammenleben und auch von solchen betreut werden wollten. | |
Verständlich, sagt Villhauer: Psychisch kranke Schwule fühlten sich oft als | |
„Sondergruppe in der Sondergruppe“. | |
## Zwischen Depression und Manie | |
Psychiater, Sozialarbeiter und andere psychisch Kranke seien oft | |
verunsichert im Umgang mit dem Thema Homosexualität. Viele hätten noch | |
immer Berührungsängste: „Wenn die Betreuer selbst schwul sind, können die | |
Klienten sich leichter öffnen und freier über die eigene sexuelle | |
Orientierung und damit verbundene Alltagsprobleme sprechen. Etwa dann, wenn | |
es um Liebeskummer, Partnerschaft oder die Partnersuche geht.“ | |
Sascha findet es angenehm, dass seine Homosexualität „einfach gar kein so | |
großes Thema“ in der WG sei, sagt er. Er selbst habe nie homophobe | |
Anfeindungen erlebt. Ausschlaggebend sei beim Einzug daher vor allem eines | |
gewesen: „Ich bekomme Hilfe, wenn ich sie brauche, fülle mich aber nicht | |
kontrolliert oder eingeschränkt.“ | |
Wie wichtig die Unterstützung im Alltag für Sascha ist, zeigt der Blick auf | |
seine Geschichte: Mehr als zehn Jahre bestimmte der stete Wechsel zwischen | |
Depression und Manie sein Leben. Erste depressive Symptome zeigten sich im | |
Teenager-Alter – und noch heute prägt der Takt dieser lange vergangenen | |
Zeit Saschas Psyche. Weil es an Weihnachten immer wieder zu Stress und | |
Streitereien in seiner Familie kam, wurde seine Depression zum | |
Jahreswechsel stärker. | |
## Ein Weg aus der Isolation | |
Mit der Selbstständigkeit – Sascha eröffnete einen eigenen Frisörladen in | |
Hamburg – verschlechterte sich sein Zustand, nun kamen manische Phasen zur | |
Depression hinzu. „Dann war ich plötzlich voller Energie, hatte Lust auf | |
Veränderung, habe verrückte Hüte getragen“, sagt Sascha und lacht. „Wenn | |
ich wieder mit einem pinken Zylinder herumlaufe, sollten hier die | |
Alarmglocken schrillen.“ | |
Doch auf die Euphorie folgte die Angst: Sascha litt unter Verfolgungswahn, | |
er verließ seine Wohnung nicht mehr, verteilte Kerzen auf dem Fußboden, um | |
„Schutzkreise“ zu ziehen – gegen all die obskuren Monster, die ihm | |
vermeintlich auflauerten und dabei doch so real schienen. Ein paar | |
stationäre Aufenthalte in der Psychiatrie, eine Insolvenz und drei | |
Herzinfarkte später suchte der 44-Jährige schließlich den Kontakt zum PST. | |
„Mein Leben war über mir zusammengebrochen und ich hatte nie gelernt, für | |
mich selbst zu sorgen“, sagt Sascha. Bürokratie, regelmäßig Medikamente | |
einnehmen, Rechnungen bezahlen – bei all diesen Aufgaben, die er früher | |
nicht allein bewältigen konnte, helfen nun Herbert Villhauer und seine zwei | |
Kollegen aus dem PST-Team. | |
Nach zwei Jahren Psychotherapie geht es Sascha heute besser. Das Leben in | |
der WG trägt dazu bei: In diesem Jahr ist die Manie zum ersten Mal | |
ausgeblieben. Zweimal in der Woche kommen die Betreuer nun zu | |
Gesprächsrunden in der „Andersrum-WG“ vorbei, dazu gibt es Einzelsitzungen | |
mit den Bewohnern. Wer will, kann auch die Freizeitangebote des PST nutzen, | |
etwa Schwimm- oder Kochkurse besuchen. Das sei keine Pflicht, betont | |
Villhauer – aber eben ein Weg aus der Isolation, in die sich Depressive oft | |
begäben. | |
## Distanz ist wichtig | |
Die Betreuer seien rund um die Uhr erreichbar, kämen aber nie unangekündigt | |
vorbei. „Eine gewisse Distanz ist wichtig“, sagt Villhauer. „Sascha ist ja | |
nicht mein Kumpel, sondern eben mein Klient.“ Damit das Zusammenleben | |
funktioniert, gelten in der WG außerdem klare Hausregeln: Kein Alkohol- | |
oder sonstiger Drogenkonsum wird toleriert, keine physische oder verbale | |
Gewalt. | |
Jeder Bewohner hat einen eigenen Mietvertrag, finanzielle Unterstützung für | |
die Miete leistet das Fachamt für Eingliederungshilfe der Sozialbehörde, | |
bei dem jeder zuvor einen Nachweis für eine diagnostizierte psychische | |
Erkrankung vorlegen musste. | |
Ginge es nach Villhauer, so bliebe es in Zukunft nicht bei nur zwei | |
„Andersrum-WG's“, andere Zielgruppen könnten mit einbezogen werden, etwa in | |
Lesben- oder Queer-WG's. „Doch alles der Reihe nach. Es geht um Menschen, | |
die zusammen eine soziale Gemeinschaft aufbauen. Es braucht Zeit, die | |
passende Konstellation zu finden“, sagt Villhauer. | |
## Kein Ort für Suchtkranke | |
Zumal auch das Betreuungskonzept des PST zu den Bewerbern und deren | |
Bedürfnissen passen müsse: „Suchtkranke etwa können wir nicht aufnehmen, da | |
wir nur alle paar Tage in der Wohnung sind, keine Zimmerkontrollen | |
durchführen“, sagt Villhauer. | |
Weitergehen soll es mit den „Andersrum-WG's“ in jedem Fall – nicht nur, | |
weil die Nachfrage da ist. „Auch wenn es heute deutlich mehr Akzeptanz für | |
Schwule gibt: Ich merke, dass die Welt wieder ein Stück weit homophober | |
geworden ist“, sagt der Betreuer. „Auch darum ist es mir wichtig, mit den | |
Andersrum-WG's ein Zeichen zu setzen.“ | |
In Saschas Wohngemeinschaft wird nun ein Zimmer frei, bald stehen die | |
ersten WG-Castings an. Egal, wer einziehen wird – Sascha will bleiben. | |
„Hier fühle ich mich sicher genug, um meine Pläne für die Zukunft | |
umzusetzen“, sagt er. Eine Umschulung zum medizinischen Bademeister machen | |
etwa. Oder erst einmal ins Fitnessstudio gehen, bei dem er sich gerade | |
angemeldet hat. „Hier habe ich ja immer jemanden, der mir dafür in den | |
Hintern tritt“, sagt Sascha. | |
27 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Annika Lasarzik | |
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