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# taz.de -- Tag der Menschen mit Behinderung: Kein Recht auf Schule?
> Wenn es um das Grundrecht auf Bildung geht, werden bei Kindern mit
> Behinderungen Ausnahmen von der Schulpflicht gemacht. Welche Folgen das
> hat und wie sich Eltern dagegen wehren können.
Bild: An Berliner Schulen fehlt es an vielem: an passenden Räumlichkeiten für…
Berlin taz | Lea ist 10 und konnte lange Zeit nur in die Schule gehen, wenn
ihre Eltern zweimal vormittags kamen und ihr einen Katheter legten. Fabian
ist 12 und wurde von der Schule suspendiert, weil er aufgrund seiner
Regulationsstörung um sich getreten hat.
Wie die beiden müssen viele andere Kinder mit Behinderung für ihr Recht auf
Schule kämpfen. Mindestens 1.000 Kinder in Berlin sind unbeschult, viele
weitere sind oder waren es zeitweise, schätzt das Berliner Bündnis für
schulische Inklusion, das in Kontakt mit vielen einzelnen der betroffenen
Familien steht. Silke Groth von der [1][Fachstelle MenschenKind für
chronisch kranke und pflegebedürftige Kinder] schätzt, dass 2.000 bis 3.000
Kinder in Berlin nicht oder nur zeitweise beschult werden.
In Deutschland gilt eigentlich die Schulpflicht, auch für Kinder mit
gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Trotzdem gibt es Gründe dafür, dass
Berliner Schüler*innen ganz legal vorübergehend nicht in die Schule
gehen müssen. Entweder ist ein Kind wiederkehrend oder chronisch krank,
dann wird es zu Hause oder in der Klinik unterrichtet. Oder es bedroht oder
gefährdet Andere durch sein Verhalten – und ist nur durch das Ruhen der
Schulpflicht davon abzuhalten.
## Ausschluss auch gegen den Willen der Eltern
Der Ausschluss von der Schule kann auch gegen den Willen der Eltern
passieren. Die Schulaufsichtsbehörde braucht dazu eine Stellungnahme des
Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und
Unterstützungszentrums (SIBUZ) und einen Antrag der Klassenkonferenz, um
die Schüler*innen vorübergehend zu suspendieren.
Spätestens nach drei Monaten muss sie prüfen, ob sich das Verhalten des
Schülers oder der Schülerin verändert hat. Dieser Paragraf [2][im Berliner
Schulgesetz] ist laut einem Beschluss des Verwaltungsgerichts im April
dieses Jahres „offensichtlich verfassungswidrig“.
Viele betroffene Eltern kennen diese rechtlichen Grundlagen aber ohnehin
nicht im Detail und wissen deshalb auch nicht, wenn Lehrkräfte ihre Kinder
zu Unrecht vom Schulbesuch ausschließen. Gesine Wulf vom [3][Berliner
Bündnis für schulische Inklusion] erzählt, dass sie viele solcher Beispiele
kennt: „Beim Thema Schulausschluss von Kindern mit Behinderung beobachten
wir eine Diskrepanz zwischen dem, was rechtlich zulässig ist, und der
Praxis an den Schulen.“
Selbst die Eltern, die wissen, dass ihr Kind zu Unrecht ausgeschlossen
wird, haben nicht unbedingt die Kraft, die Zeit und das Geld, um sich
dagegen zu wehren. Darüber hinaus kann es für Eltern auch emotional schwer
sein, ihr Kind etwa gegen den Willen der Lehrkräfte in die Schule zu
schicken.
## Mangel an Personal und Strukturen
Wie kommt es dazu, dass Lehrkräfte, Schulen und Behörden Kinder mit
chronischer Erkrankung oder Behinderung vom Schulbesuch ausschließen und
dabei sogar gegen Gesetze und Verordnungen verstoßen?
Die Gründe für den Schulausschluss chronisch kranker und behinderter Kinder
sind vielfältig. Oft [4][fehlt es an ausreichendem oder spezifisch
ausgebildetem Personal] und entsprechenden Strukturen. Aber Eltern und
Experten berichten auch von fehlendem politischem Willen und
Diskriminierung.
Bei der zehnjährigen Lea muss aufgrund einer Fehlbildung der Wirbelsäule
alle vier Stunden Urin aus der Blase in einen Katheter abgeleitet werden.
Doch ihre Schule sieht sich nicht für die medizinische Versorgung
zuständig. „Ich möchte nicht, dass meine Schule Schwerpunkt ‚Pipi‘ wird…
das habe die Schulleiterin ihm gesagt, erzählt Leas Vater Samuel.
Tatsächlich untersagt der Berliner Senat Lehrkräften medizinische Maßnahmen
wie das Katheterisieren oder das Setzen von Spritzen.
Leas Eltern haben deshalb die medizinische Versorgung ihrer Tochter während
der Schulzeit bis vor kurzem komplett selbst übernommen. Zweimal vormittags
musste Lea versorgt werden, dazu kam das Bringen zur und das Holen von der
Schule, weil die Schülerin den Weg nicht allein bewältigen kann.
## Scheinheilige Debatte
Konnten Leas Eltern die Versorgung in der Schule nicht sicherstellen, weil
sie krank oder verhindert waren, musste Lea zu Hause bleiben. An Arbeiten
war für Samuel lange Zeit kaum zu denken. Das [5][Thema Schulpflicht] sei
für ihn eine scheinheilige Debatte, meint er: „Es gibt kaum Bemühungen, die
Beschulung von chronisch kranken Kindern sicherzustellen.“
Nur sehr langsam entwickle der Berliner Senat hierfür ein
Problembewusstsein. Tatsächlich sollen ab nächstem Jahr in einem
Modellprojekt immerhin an 10 Regelschulen Schulgesundheitsfachkräfte
eingeführt werden.
Leas Eltern müssen zum Glück nicht darauf warten, dass diese Unterstützung
auch in der Schule ihrer Tochter ankommt. Sie haben mittlerweile gegen den
Willen der Schulleiterin durchgesetzt, dass eine von der Krankenkasse
finanzierte medizinische Pflegekraft Lea in der Schule versorgt.
„Wir sind in einer sehr privilegierten Situation“, meint Samuel. „Wir sind
zu zweit und hatten lange Zeit genug Geld auf dem Konto.“ Vielen anderen
Eltern mit behinderten Kindern, besonders auch Alleinerziehenden, würde es
deutlich schlechter gehen.
## Kein Schulbesuch ohne Schulassistenz
Fabian ist 12 Jahre alt und geht auf eine Förderschule. Er hat eine Fetale
Alkoholspektrum-Störung, eine hirnorganische Schädigung, die zu
Auffälligkeiten in der Wahrnehmung und Regulation führt, wie sie auch bei
ADHS und Autismus bekannt sind.
Seine Pflegemutter Katja sagt, dass er mehr Zeit als andere brauche, um
Dinge zu verarbeiten. „Mein Sohn lernt echt ganz gut, aber er ist kein
Überflieger. Er braucht kleine Gruppen und [6][einen Schulassistenten], der
ihn in schwierigen Situationen unterstützen kann.“
Genau aber das sei das Problem. Fällt sein Schulassistent aus, darf er
nicht in die Schule gehen. In letzter Zeit konnte der Träger nur für zwei
Tage eine Schulassistenz bereitstellen – also ging Fabian nur zwei Tage die
Woche zur Schule, berichtet die Mutter.
Fabian schreit mitunter los, wenn er sich ärgert. Es kommt auch manchmal zu
Handgreiflichkeiten mit den anderen Schülern, die mittlerweile genau
wüssten, wie sie ihn provozieren können. Das passiere aber nur, wenn er
nicht von seinem vertrauten Schulassistenten begleitet wird, der ihn in
solchen Situationen normalerweise gut auffängt, sagt Katja.
## Überforderte Vertretungskräfte
Letztens eskalierte eine Situation: Fabian trat vor Wut um sich, die
Vertretungskraft fühlte sich überfordert. „Jetzt ist er auch noch von der
Schule suspendiert“, erzählt Katja. Gerade versucht sie alles, um
wenigstens ab und zu eine Betreuung für Fabian zu bekommen. Mal findet sie
für zwei Stunden eine Einzelfallhilfe, mal bezahlt sie einen Personal
Trainer für ein paar Stunden. All das würde helfen, damit Fabian
Abwechslung hat und sie ab und zu ein bisschen arbeiten kann. Aber den
Stoff der Schule würde er trotzdem verpassen.
Eigentlich müssten sie ihn an der Förderschule, die für Kinder wie ihn mit
mehr und passendem Personal ausgestattet ist, auch ohne Schulassistenten
beschulen können, meint Katja. Doch die Schule sage, das sei nicht möglich.
Der Schulausschluss mache Fabian sehr zu schaffen: „Fabian ist jetzt in
einem Alter, wo er spürt, dass er ausgegrenzt wird. Er fragt sich, warum er
nicht gewollt ist.“
Expert*innen bestätigen, dass der Schulausschluss gravierende psychische
Folgen auf die jungen Menschen haben kann. Das Risiko, psychisch zu
erkranken, sei sehr hoch, sagt etwa Isabella Sasso, die zu Schulabsentismus
von Kindern und Jugendlichen [7][im Autismus-Spektrum] forscht. Die meisten
der Kinder, mit denen sie für ihre Forschung gesprochen hat, hätten
zusätzlich die Diagnose einer psychischen Erkrankung bekommen. Auch die
Eltern werden stark belastet und stehen zudem als Fachkräfte dem
Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung.
Unter dem Personalmangel leiden vor allem diejenigen, die den größten
Hilfebedarf haben. „Die unterstützenden Maßnahmen für Kinder mit
Behinderung fallen als Erstes weg, weil die Stundentafel erhalten werden
soll“, sagt Karin Petzold, die den Vorstandsbereich Schule der GEW leitet
und als Lehrerin an einer Berliner Grundschule tätig ist.
## Rechtfertigungen der Bildungsverwaltung
Die Senatsbildungsverwaltung argumentiere damit, dass eine individuelle
Unterstützung nicht zu rechtfertigen sei, wenn ganze Klassen ohne Betreuung
dastehen. Karin Petzold sieht das anders: „Das Recht auf individuelle
Förderung sollte Vorrang haben, es kann nicht immer zu Lasten der Kinder
mit Förderbedarf ignoriert werden.“ Man brauche dringend mehr Kolleg*innen,
um kleinere Gruppen und mehr Zeit für jedes Kind zu haben.
An Berliner Schulen fehlt es auch an passenden Räumlichkeiten für
Klassenteilungen, Therapien, Beratung oder Rückzug – und an der
Bereitschaft, allen Schüler*innen etwa durch die Nutzung solcher
Möglichkeiten gerecht zu werden. Viele autistische Kinder brauchen in
bestimmten Situationen die Möglichkeit, geräuschreduzierende Ohrenschützer
zu tragen, Selbststimulierungswerkzeuge wie etwa Stressbälle zu nutzen oder
sich beispielsweise mit einem Tablet in einen Ruheraum zurückzuziehen.
„Die vielen Menschen an einer Schule verursachen vielfältige Geräusche,
Gerüche und visuelle Reize, die auf autistische Schüler*innen bedrohlich
wirken können“, erklärt Stephanie Fuhrmann vom Verein White Unicorn, der
sich für die Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfeldes einsetzt. Auch
die Möglichkeit, zumindest teilweise von zuhause aus per Fern- oder
Onlineunterricht zu lernen, würde manchen helfen.
In der UN-Behindertenrechtskonvention werden solche individuellen Lösungen
als „angemessene Vorkehrungen“ bezeichnet. Das Berliner Bündnis für
schulische Inklusion fordert: Der Rechtsanspruch darauf muss in das
[8][Berliner Schulgesetz] aufgenommen werden – auch um die Nichtbeschulung,
wie sie aktuell Fabian und viele andere behinderte Kinder in Berlin
betrifft, zu verhindern.
3 Dec 2024
## LINKS
[1] https://humanistisch.de/menschenkind
[2] /Teilhabe-an-Berliner-Schulen/!6012441
[3] https://buendnis-inklusion.berlin/
[4] /Ueberlastete-Lehrkraefte/!6050468
[5] /Wenn-die-Tochter-nicht-zur-Schule-geht/!6035453
[6] /Scheiternde-Inklusion/!5971775
[7] /Psychologin-ueber-Autismus/!6044990
[8] /Teilhabe-an-Berliner-Schulen/!6012441
## AUTOREN
Janna Degener-Storr
Sarah Kröger
## TAGS
Menschen mit Behinderung
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