# taz.de -- Teilhabe an Berliner Schulen: An einigen Kindern vorbei | |
> Im Schulgesetz müsse endlich der Anspruch auf Inklusion verankert werden, | |
> fordert ein Bündnis. Der Entwurf lasse Kinder mit Behinderungen außen | |
> vor. | |
Bild: Inklusion scheitert an Schulen teils schon am rollstuhlgerechten Zugang | |
BERLIN taz | Maike Dieckmann zählt schon die Tage bis zum 11. Juni. Denn um | |
das Datum herum erwartet sie den Brief, der ihr bestätigt, ob ihr Sohn nach | |
den Sommerferien an die gewünschte Oberschule gehen kann. „Es ist dann noch | |
knapp ein Monat bis zu den Ferien, in dem wir mit der Schule seine | |
individuellen Bedarfe klären müssen“, sagt sie. „Wir müssen eine | |
Schulassistenz beantragen, uns mit allen zusammensetzen, um die spezifische | |
Förderung zu planen, und abchecken, wo die Schule nicht barrierefrei ist“, | |
zählt sie auf. „Das wird alles zeitlich schon sehr, sehr eng.“ | |
Dieckmanns Sohn soll im Herbst von einer Förderschule mit dem Schwerpunkt | |
„körperliche und motorische Entwicklung“ auf eine inklusive | |
Gemeinschaftsschule wechseln. Wegen einer starken körperlichen Behinderung | |
ist der angehende Siebtklässler auf einen Rollstuhl und viel Unterstützung | |
angewiesen. Daher sei die erste Frage immer, ob das Schulgebäude überhaupt | |
barrierefrei zugänglich ist. | |
Und daran scheiterte es schon oft. „Dass er bisher eine Förderschule | |
besucht hat, das haben wir uns nicht ausgesucht“, sagt Dieckmann. Bevor ihr | |
Sohn 2017 eingeschult werden sollte, habe sie etwa 40 Schulen angeschrieben | |
und sich 20 genauer angesehen. „Keine der Schulen kam infrage, die meisten | |
waren gar nicht rollstuhlgerecht.“ Am Ende wurde es dann die Förderschule – | |
mit einem langen Anfahrtsweg. | |
Weil sie sich [1][mit solchen Gegebenheiten nicht mehr abfinden will], | |
engagiert sich Dieckmann seit der Gründung vor knapp vier Jahren im | |
Berliner Bündnis für schulische Inklusion. Das Bündnis will, dass der Senat | |
den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung und volle, wirksame und | |
gleichberechtigte Teilhabe im Berliner Schulgesetz verankert. Inklusive | |
Bildung und Beschulung sei ein Menschenrecht, und in der | |
UN-Behindertenkonvention geregelt. Doch an Berlins Schulen sehe es in | |
dieser Hinsicht düster aus, kritisiert das Bündnis. Sie kenne viele Eltern | |
von Kindern mit Behinderungen, die sich echte Inklusion wünschten und am | |
Ende doch auf die Förderschulen zurückgeworfen seien, sagt Dieckmann. „Sie | |
wählen diese Schulen nicht aus freien Stücken, sondern weil die Regelschule | |
keine Alternative darstellt“, sagt sie. „Mit Inklusion hat das nichts zu | |
tun.“ | |
## Anspruch unter Vorbehalt | |
Laut der aktuell gültigen Fassung des Schulgesetzes von 2004 soll die | |
„sonderpädagogische Förderung“ ein „möglichst hohes Maß an schulische… | |
beruflicher Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbständiger | |
Lebensgestaltung“ ermöglichen. Das Bündnis findet das zu vage, der Anspruch | |
auf Regelschulen stehe für Kinder mit Behinderungen noch immer unter | |
Vorbehalt. | |
Derzeit befasst sich der Bildungsausschuss mit einem neuen Gesetzentwurf, | |
den Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) eingebracht hat. Er | |
soll voraussichtlich im Juni beschlossen werden und im August in Kraft | |
treten. | |
Konkret fordert das Bündnis für Inklusion dazu: Kinder mit Behinderungen | |
sollten vorrangig bei der Schulplatzvergabe berücksichtigt werden. Außerdem | |
sollte es als Rechtsanspruch im Schulgesetz verankert sein, dass jeweils | |
„geeignete und erforderliche“ Maßnahmen allen Kindern gleichberechtigte | |
Teilhabe ermöglichen. Das könnten rollstuhlgerechte Zugänge sein, aber auch | |
absolut ruhige Räume zum Lernen oder Räume für Pflege und Lehrer*innen, die | |
unterstützte Kommunikation beherrschen. | |
Auch das Recht auf ein individuelles „Teilhabeplanverfahren“ nach dem | |
Bundesteilhabegesetz sollte auf Landesebene schulgesetzlich geregelt sein. | |
„Es genügt nicht, wenn Rechtsansprüche in anderen Landes- und | |
Bundesgesetzen oder der UN-Behindertenrechtskonvention enthalten sind – sie | |
müssen endlich ins Schulgesetz, um im Kontext Schule verankert zu werden“, | |
fordert das Bündnis. | |
## Rechtsanspruch unerfüllbar? | |
In der Senatsverwaltung für Bildung sieht man das anders. Sie fände es | |
unehrlich, den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung im Schulgesetz zu | |
verankern, da er nicht erfüllt werden könne, soll Senatorin Günther-Wünsch | |
im April in einem Bezirkselternausschuss gesagt haben. Eltern könnten ihn | |
anhand der UN-Konvention einklagen. | |
Damit nehme Günther-Wünsch in Kauf, dass die Kinder entrechtet werden, | |
kritisiert das Bündnis. „Wenn die Teilhabe von Kindern mit Behinderung noch | |
nicht mal im Gesetz verankert wird, dann werden die bisher sehr knappen | |
Ressourcen für Regelschulen ganz sicher noch weniger. Und wir Eltern müssen | |
dann das Recht und all die Bedarfe unserer Kinder noch häufiger einklagen“, | |
erklärt Dieckmann. | |
Ihr Kind gehe seit sechs Jahren auf eine Förderschule und erst jetzt habe | |
sie durch eine Infoveranstaltung herausgefunden, dass er – laut | |
verbindlichem Gesetz – Anspruch auf eine individuelle Schulassistenz hat. | |
„Stattdessen hatte er die ganze Zeit nur einen Schulhelfer mit | |
festgezurrten Aufgaben“, so Dieckmann Das seien nicht-qualifizierte Kräfte, | |
während Schulassistenzen fachlich ausgebildete Sozialarbeiter*innen | |
oder Heilpädagog*innen seien. Mit denen könnten die Schule und sie als | |
Elternteil viel anspruchsvoller und zielgerichteter zusammenarbeiten. | |
„Letztlich hat mein Kind in seiner Grundschulzeit damit nicht die | |
Unterstützung bekommen, auf die es Anrecht hätte“, sagt sie. | |
„Das Problem ist: Inklusion ist in den seltensten Fällen umgesetzt“, sagt | |
auch Gesine Wulf, die sich ebenfalls im Bündnis engagiert. „Denn Inklusion | |
bedeutet ja nicht, ein Kind mit Schulhelfer in eine Regelklasse zu setzen.“ | |
Wenn die Bildungssenatorin sagt, sie wolle Bildung für alle Kinder besser | |
machen, dann meine sie alle Kinder – außer Kinder mit Behinderung, | |
kritisiert das Bündnis. Viele Schulen würden gern inklusiv arbeiten, können | |
es aber nicht leisten. Da scheitere oft schon die Barrierefreiheit am | |
Denkmalschutz. | |
## Rund 1.000 Kinder unbeschult | |
Das Bündnis für inklusive Schulen schätzt, dass [2][rund 1.000 Kinder mit | |
Behinderungen in Berlin derzeit gar nicht beschult] werden, und da seien | |
die geflüchteten, unbeschulten Kinder mit Behinderungen noch gar nicht | |
eingerechnet. Wulf berichtet von Familien, die ihre Kinder zeitweise oder | |
auch langfristig zu Hause lassen: weil die Schulen nicht mit ihnen | |
klarkommen – oder weil es für die Kinder zu viel ist. Eltern müssten | |
teilweise auch ihre Jobs kündigen oder sich von ihrer Arbeit beurlauben | |
lassen, um die Kinder zu betreuen. | |
„Und es zieht sich dann ja weiter durch: 72 Prozent der Kinder mit | |
Förderschwerpunkt verlassen die Schule ohne Abschluss. Von dort [3][geht es | |
dann oft nur in eine Werkstatt weiter] – anstatt ihnen Wege in eine | |
Ausbildung zu ermöglichen“, kritisiert das Bündnis. So würden | |
inklusionsfeindliche Strukturen gefestigt. | |
28 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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