| # taz.de -- Teilhabe in Schulen: Bezirke vertrödeln echte Inklusion | |
| > Neukölln plant ein weiteres Förderzentrum für beeinträchtigte Kinder. Das | |
| > Institut für Menschenrechte sieht darin einen schweren Rechtverstoß. | |
| Bild: Inklusion bedeutet, dass Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam lern… | |
| Verstößt Neukölln gegen die Menschenrechte, weil der Bezirk Inklusion | |
| verhindert? Diese Frage steht am späten Mittwochabend in der Versammlung | |
| der Bezirksverordneten (BVV) im Raum. Die Mitglieder arbeiten sich im | |
| letzten Teil der Sitzung durch die Liste von bisher vertagten Beschlüssen. | |
| Darunter auch der von der SPD eingebrachte Antrag mit der Überschrift: | |
| [1][Förderzentrum Neukölln]. Der Inhalt: „Das Bezirksamt wird gebeten zu | |
| prüfen, ob die Möglichkeit besteht, eine weitere Schule mit | |
| sonderpädagogischem Förderschwerpunkt in Neukölln einzurichten.“ Neben den | |
| Sozialdemokraten hat sich auch die CDU im Bildungsausschuss dafür | |
| ausgesprochen. | |
| Linke und Grüne lehnen den Antrag ab. „Der Ausbau ist ein klarer Verstoß | |
| gegen die UN-Behindertenrechtskonvention“, meldet sich Philipp Dehne | |
| vehement zu Wort, er ist bildungspolitischer Sprecher der Linken-Fraktion | |
| in der BVV. „Anstatt Inklusion voranzubringen, will die SPD zurück in ein | |
| segregierendes Schulsystem mit ausgrenzenden Schulen nur für Schüler mit | |
| Behinderung“, sagt er. | |
| In seiner Kritik weiß er eine gewichtige Institution an seiner Seite: Das | |
| deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) [2][kritisiert die BVV in einer | |
| Stellungnahme für diesen Antrag]. Damit würde der „Aufbau eines inklusiven | |
| Bildungssystems weiter verzögert oder gar verhindert“. Das Sonderschulwesen | |
| werde gestärkt, die Segregation von Schüler*innen mit Behinderungen | |
| zementiert, schreibt das DIMR in seiner Stellungnahme. Es appelliert an die | |
| Bezirksverordneten, den Antrag nicht anzunehmen. | |
| Das DIMR ist die nationale unabhängige Menschenrechtsinstitution der | |
| Bundesrepublik. Es ist unter anderem gesetzlich dazu verpflichtet, die | |
| Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu befördern und zu | |
| überwachen. Auch das Land Berlin hat das DIMR seit 2021 damit beauftragt, | |
| die Umsetzung der UN-Konvention in Berlin zu begleiten. Die sieht ganz klar | |
| vor, dass Schüler*innen mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet | |
| werden. | |
| ## Schwerwiegender Verstoß | |
| „Das ist das Recht der Kinder“, betont auch Dehne. Und er weist darauf hin, | |
| dass der vom DIMR monierte Verstoß tatsächlich schwerwiegend ist: „Die | |
| UN-Behindertenkonvention hat den Rang eines Bundesgesetzes“, sagt er. Die | |
| Bundesländer seien an die Vorgaben aus der UN-Konvention gebunden und zur | |
| Umsetzung verpflichtet. „Dagegen möchte die SPD verstoßen“, sagt er. | |
| Der Bezirk hätte stattdessen die Möglichkeit, [3][inklusive | |
| Schwerpunktschulen] als Übergangslösung zu echter Inklusion auszubauen. Das | |
| sind Schulen, die räumlich und personell besser ausgestattet sind und an | |
| denen Kinder und Jugendliche mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf | |
| gemeinsam lernen. | |
| „Raten Sie mal, wie viele solcher Schwerpunktschulen Neukölln hat? Keine“, | |
| sagt Dehne. Demgegenüber sei Neukölln der Bezirk mit den meisten | |
| Förderzentren. „Und in so einer Situation beantragt die SPD ein weiteres | |
| Förderzentrum? Ich kann es eigentlich nicht fassen“, sagt er, das sei ein | |
| unglaublicher Verstoß. Am Ende hat er seine Redezeit bis auf die letzte | |
| Sekunde ausgereizt. | |
| Der Bezirk [4][braucht dringend mehr Schulplätze] für Kinder mit | |
| sonderpädagogischem Förderbedarf. Das liegt auch daran, dass der Bedarf | |
| angestiegen ist, vor allem im Bereich der geistigen Entwicklung. Und | |
| vermutlich sogar mit Dunkelfeld, da „Kinder teils auch nicht diagnostiziert | |
| seien“. Damit begründen die Verordneten von SPD und CDU ihre Unterstützung | |
| für den Antrag. | |
| Kinder könnten gar nicht beschult werden | |
| „Es wäre auch ein Verstoß gegen die Menschenrechte, wenn die Kinder nicht | |
| beschult werden“, sagt Marina Reichenbach (SPD), die dem Bildungsausschuss | |
| vorsitzt. Beide Fraktionen betonen auch, dass es ein „Prüfauftrag“ sei und | |
| dass auch ein Förderzentrum zur Schwerpunktschule werden könne „wenn | |
| irgendwann mehr Geld da ist“. | |
| Sie begründen ihren Antrag auch damit, dass Eltern solche Schulen | |
| bevorzugen – ein Argument, gegen das [5][Verfechter der Inklusion | |
| einwenden], dass Eltern unter den jetzigen Bedingungen von halbherzig | |
| verstandener Inklusion keine wirkliche Wahl hätten – und dass Elternwille | |
| auch nicht der Maßstab sei. Die Verordneten nehmen den Antrag am Ende mit | |
| 29 zu 19 Stimmen an. | |
| „Es braucht kein Provisorium, aus dem irgendwann etwas besseres wird, | |
| sondern politische Konzepte“, hatte Susann Worschech, bildungspolitische | |
| Sprecherin der Grünen in der BVV, zuvor gefordert. Doch daran mangelt es | |
| nicht nur in Neukölln: Während der Senat auf seiner Webseite die | |
| Schwerpunktschulen als wichtigen Schritt zur Inklusion bewirbt, planen | |
| weitere Bezirke den Ausbau von reinen Förderzentren. Darunter etwa | |
| Reinickendorf, Spandau, Marzahn und Steglitz-Zehlendorf. | |
| ## Menschenrechtsinstitut ermahnt auch das Land | |
| Auch das hatte das DIMR bereits kritisiert. Es [6][ermahnt Berlin, | |
| angesichts dieses Ausbaus die Vorgaben der UN-Konvention], des | |
| Landesgleichberechtigungsgesetzes und des Koalitionsvertrages einzuhalten. | |
| „Das Versprechen, die Inklusion an den Berliner Schulen zu unterstützen und | |
| qualitativ weiterzuentwickeln, wird durch die Errichtung neuer | |
| Förderschulen zu reiner Rhetorik“, heißt es vom DIRM. | |
| Denn selbst bei den inklusiven Schwerpunktschulen, die der Senat als | |
| Übergangslösung feiert, sieht das DIMR Handlungsbedarf. Es bestehe „die | |
| Pflicht eine Entwicklung voranzutreiben, die die Schwerpunktschulen | |
| [7][zugunsten der inklusiven Schule] überwindet“, betonen sie. Von diesem | |
| Schritt ist nicht nur Neukölln noch weit entfernt: Auch Lichtenberg und | |
| Pankow haben bisher keine einzige Schwerpunktschule. Und auch andere | |
| Bezirke, in denen der Ausbau von Förderzentren im Raum steht, haben | |
| lediglich eine einzige. | |
| 23 Jan 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/bezirksverordnete… | |
| [2] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/zur-beschl… | |
| [3] https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/inklusion/schwerpunktschulen/ | |
| [4] /Bildungsgerechtigkeit-in-Berlin/!6022076 | |
| [5] /Teilhabe-an-Berliner-Schulen/!6012441 | |
| [6] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuelles/detail/berliner-senat… | |
| [7] /Klassenbesuch-in-Berlin/!6018054 | |
| ## AUTOREN | |
| Uta Schleiermacher | |
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