| # taz.de -- Klassenbesuch in Berlin: Schule ohne Grenzen | |
| > Die Fläming-Grundschule in Berlin war vor 50 Jahren Deutschlands erste | |
| > inklusive Schule. Was klappt hier bei der Integration besser als | |
| > woanders? | |
| Bild: Unterricht in der Fläming-Grundschule in Berlin. Andernorts steht es mit… | |
| Berlin taz | Freitag, kurz nach acht Uhr in einer Klasse der | |
| Fläming-Grundschule im [1][bürgerlichen Berlin-Friedenau]. Ein Kind (Name | |
| und Geschlecht sollen unerkannt bleiben) soll den Stundenplan vorstellen, | |
| aber die Konzentration ist weg. In einfachen Bildern sind alle Fächer des | |
| Tages an einer Wand untereinander angezeigt. Doch das Kind wird unsicher. | |
| Was sollen sie nur bedeuten? Die Klasse wartet gespannt. Dann springt ein | |
| Mädchen auf, beugt sich zum Kind hinüber und flüstert den Stundenplan | |
| Stunde für Stunde zu, damit dieses ihn laut verkünden kann. Die | |
| Klassenlehrerin Luisa Schön und der pädagogische Mitarbeiter Tobias Meier | |
| (beide Namen geändert) bleiben still. | |
| „Die Kinder helfen einander, das ist die beste Lösung“, sagt Meier. Lange | |
| hätten sie für diese Atmosphäre gearbeitet. 19 Kinder sitzen im Unterricht, | |
| eine ungewöhnlich kleine Größe – auch für diese Schule. Zwei von ihnen | |
| haben [2][ADHS]. Ein weiteres hat die Glasknochenkrankheit. Das Kind, das | |
| den Stundenplan vorgestellt hat, hat die Förderdiagnose „geistige | |
| Entwicklung“, dass heißt, es liegt mit seiner schulischen Leistung weit | |
| hinter den anderen zurück. Ein anderes Kind hat die gleiche Diagnose und | |
| ist außerdem autistisch. Manchmal schreit es, macht Geräusche, ist unruhig, | |
| steht plötzlich auf und läuft durch den Raum. | |
| Die Fläming-Grundschule hat eine besondere Geschichte: Sie ist Deutschlands | |
| erste [3][inklusive Schule]. Vor knapp 50 Jahren kämpften Eltern dafür, | |
| dass ihre Kinder, die eine Behinderung hatten und im Kindergarten noch mit | |
| allen anderen Kindern spielen durften, mit Beginn der Schulzeit nicht | |
| ausgeschlossen würden. Sie forderten ein, dass ihre Kinder, egal ob sie im | |
| Rollstuhl saßen, gehörlos waren oder das Down-Syndrom hatten, auf dieselbe | |
| Schule gehen konnten wie deren Freundinnen und Freunde. Die | |
| Fläming-Grundschule stand an ihrer Seite. | |
| Im Schulalltag begann eine Reise ins Unbekannte, eine Zeit des | |
| Experimentierens mit verschiedenen Unterrichtsformaten, die allen Kindern | |
| gerecht werden konnten. Und des Entwickelns eines Schulteams, das den | |
| Anforderungen gewachsen war. „Wir fragen nicht: Was muss das Kind können, | |
| damit es zu uns passt? Sondern: Was muss die Schule schaffen, damit das | |
| Kind zu uns gehen kann?“, verdeutlicht Schulleiterin Christiane Wendt die | |
| Haltung bis heute. | |
| ## Lernen auf den Gängen und auf dem Boden | |
| Mit dem Geld für zusätzliche Personalstellen, das das Land Berlin | |
| mittlerweile für seine Schulen mit Schwerpunkt Inklusion ausgibt, hat sich | |
| die Friedenauer Grundschule Sonderpädagoginnen, pädagogische Mitarbeiter, | |
| Schulhelferinnen, Sozialpädagogen, Integrationserzieherinnen und | |
| Psychologen ins Haus geholt. Auch eine sonderpädagogische | |
| Koordinationskraft gibt es mittlerweile, die sich um Supervisionen kümmert, | |
| um die Flut an Anträgen, die ausgefüllt werden müssen, und um die Beratung | |
| von Kolleginnen und Kollegen. Für gewöhnlich gibt es so eine Stelle an | |
| Schulen gar nicht. Aber in Berlin-Friedenau hatten sie aus der jahrelangen | |
| Erfahrung heraus das Gefühl, dass genau so jemand gebraucht werde. | |
| Klassenlehrerin Luisa Schön ist wie die meisten ihrer Kollegen und | |
| Kolleginnen eine studierte Sonderpädagogin. Ob in ihrer Klasse | |
| Inklusionskinder sind oder nicht, spielt für sie keine große Rolle. Sie | |
| gewährt den Kindern viel Freiraum. Phasenweise dürfen sie auf dem Boden | |
| arbeiten, draußen in den Gängen lernen oder sich in einen ruhigen Nebenraum | |
| zurückziehen. | |
| Ein wilder Haufen ist die Klasse trotzdem nicht. Peu à peu hat sie mit | |
| ihnen erarbeitet, dass auch beim freieren Lernen Regeln eingehalten werden | |
| müssen. „Klassen sind immer vielfältig, unabhängig von der Inklusion“, s… | |
| sie. „Es gibt immer Kinder, auf die man unterschiedlich eingehen muss. | |
| Jedes einzelne Kind bringt sein Päckchen mit.“ | |
| Dass sie einander helfen, ist eine Selbstverständlichkeit in der Klasse. | |
| Die Kinder, die nicht alleine auf den Pausenhof gehen können, werden von | |
| anderen abwechselnd begleitet. Damit sie sich mit gehörlosen Kindern | |
| verständigen können, lernen sie alle ein paar Ausdrücke in der | |
| Gebärdensprache. Und wenn ein Kind zu laut und unruhig wird, wissen die | |
| Kinder meist, wie es beruhigt werden kann. Die Jungen und Mädchen | |
| entwickeln feine Antennen für die Nöte ihrer Mitschüler. „Manchmal bessere | |
| als die Erwachsenen“, findet Tobias Meier. | |
| ## UN besorgt über Inklusion in Deutschland | |
| Doch was an der Fläming-Grundschule selbstverständlich ist, scheint | |
| woanders noch unmöglich. Im Jahr 2009 ratifizierte Deutschland die | |
| UN-Behindertenrechtskonvention. Darin verpflichtet man sich offiziell | |
| sicherzustellen, dass kein Kind aufgrund einer Behinderung vom allgemeinen | |
| Bildungssystem ausgeschlossen wird. Im vergangenen Jahr kassierte | |
| Deutschland von der UN eine Rüge, dafür dass es ziemlich flächendeckend an | |
| dieser Vision gescheitert ist. Das UN-Komitee zeigte sich unter anderem | |
| „besorgt, über die mangelnde Umsetzung einer inklusiven Bildung“ sowie üb… | |
| „die Hindernisse, auf die Eltern stoßen, wenn sie ihre gehandicapten Kinder | |
| auf eine Regelschule schicken wollen“. | |
| Die Entwicklung der schulischen Inklusion in Deutschland beobachtet auch | |
| Fabian van Essen, Professor für Heilpädagogik und Inklusionspädagogik an | |
| der IU Internationalen Hochschule, die ihren Sitz in Erfurt hat. Zwar sieht | |
| er, dass es in Deutschland immer mehr Kinder mit einem sogenannten | |
| „Förderbedarf“ an staatlichen Regelschulen gibt. Das liege aber daran, dass | |
| immer mehr Kinder diesen Status zugebilligt bekommen. Die Zahl der Kinder, | |
| die getrennt in Förderschulen lernen, ist seit 2009 kaum gesunken. In | |
| einigen Bundesländern stieg sie sogar etwas an. „Es ist ein Armutszeugnis, | |
| was seit damals in Sachen Inklusion passiert ist“, resümiert van Essen. | |
| Dabei wisse man aus Studien, dass die Schulleistungen aller Kinder in | |
| inklusiven Schulen überhaupt nicht gefährdet seien, sofern Inklusion gut | |
| umgesetzt werde. Im europäischen Vergleich wird in Deutschland besonders | |
| stark separiert. In Italien etwa gibt es nahezu keine Förderzentren. | |
| Portugal ist dabei, sie abzuschaffen. In Großbritannien haben die Schulen | |
| per Gesetz die Pflicht, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um alle | |
| Kinder, die im Umkreis wohnen, aufnehmen zu können. In Deutschland hingegen | |
| wird von Schulen nicht erwartet, dass sie sich den Bedürfnissen von | |
| Kindern, die eine Behinderung haben, anpassen. Van Essen findet jedoch: | |
| „Wenn man eine Gesellschaft will, in der niemand ausgesondert wird, dann | |
| kann Schule ein hervorragender Ort,sein, Zusammenleben in Vielfalt zu | |
| lernen.“ Doch es fehle hier am politischen Willen, das zu ermöglichen. | |
| Christiane Wendt sieht das ein wenig anders. Sie wurde vor zehn Jahren | |
| Schulleiterin der Fläming-Grundschule, nachdem sie dort bereits viele Jahre | |
| als Lehrerin unterrichtet hatte. In wenigen Wochen wird sie in Pension | |
| gehen. Nicht die Politik, sondern die ganze Gesellschaft müsse sich mehr | |
| für Inklusion einsetzen. Sie sagt das, weil sie schon ganz andere Zeiten | |
| erlebt hat. | |
| ## Vielen Eltern geht es heute um Optimierung | |
| In den 80er- und 90er-Jahren gab es Eltern, die keine Mühe scheuten, um zu | |
| erreichen, dass ihre Kinder auf diese damals so ungewöhnliche Schule gehen | |
| konnten. Kinder, die selbst keine Behinderung hatten. Manche, die mit ihren | |
| Kindern weiter weg wohnten, kamen auf die Idee, ihren künftigen | |
| Grundschüler unter der Wohnadresse von Friedenauer Familienmitgliedern | |
| anzumelden, damit die Kinder automatisch der Fläming-Grundschule zugewiesen | |
| wurden. Illegal war das, selbst die Polizei mischte sich ein. Aber die | |
| Eltern waren schlichtweg so begeistert von der Idee, dass alle Kinder | |
| gemeinsam lernen. | |
| „Heutzutage werden die Kinder nicht mehr in erster Linie wegen des | |
| inklusiven Profils bei uns angemeldet“, konstatiert die Schulleiterin. Sie | |
| spürt keine offene Ablehnung dem Thema Inklusion gegenüber, so weit sei es | |
| nicht gekommen, sagt sie, aber es herrsche eben ein anderer Zeitgeist. | |
| Vielen Eltern würde es heutzutage um etwas anderes gehen, um Optimierung. | |
| „Es wird weniger geschaut, wie alle zusammen leben können, sondern wie das | |
| einzelne Kind am besten vorankommt.“ | |
| Für Wendt ist eine menschenwürdige Gesellschaft aber nur möglich, wenn sie | |
| inklusiv ist. „Es gibt bei uns Kinder, die werden nie etwas zu unserem | |
| Bruttosozialprodukt beitragen. Aber sie gehören in unsere Mitte.“ | |
| Hört man sich in der Klasse von Luisa Schön und des pädagogischen | |
| Mitarbeiters Tobias Meier um, wie die Jungs und Mädchen ihre Klasse so | |
| finden, bekommt man ein eindeutiges Stimmungsbild: „Unsere Klasse ist | |
| toll“, schwärmt ein Junge. „Man kann sich hier richtig wohlfühlen. Später | |
| werde ich mal alle vermissen“, pflichtet ihm sein Nebensitzer bei. | |
| Am Ende der Unterrichtsstunde lässt Luisa Schön ihren Blick über die Klasse | |
| gleiten. Sie sieht die 19 Kinder, die sich in vielen anderen Schulen in | |
| dieser Konstellation niemals begegnet wären, und ist sich sicher: „Wenn ein | |
| Kind aus dieser Klasse zum Beispiel mal Architekt wird, dann wird es sicher | |
| kein Gebäude entwerfen, das nicht rollstuhlgerecht ist. Einfach, weil es so | |
| normal für sie ist, dass das dazugehört.“ | |
| 3 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wiebke Schönherr | |
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