| # taz.de -- Bildungsgerechtigkeit in Berlin: Großes Stühlerücken | |
| > Wegen Sparvorgaben soll Neukölln Räume in Grundschulen anderweitig | |
| > vergeben und Schulplätze abbauen. Lehrer*innen fordern Platz für gute | |
| > Bildung. | |
| Bild: Wenn die Neuköllns Schüler*innen aus den Sommerferien zurück kommen, k… | |
| Berlin taz | Grundschüler*innen sind zu teuer und verbrauchen zu viel | |
| Platz in Neukölln. Das ist die Erkenntnis aus einem Bericht der Stadträtin | |
| für Bildung, Schule und Kultur in Neukölln, Karin Korte (SPD), den sie am | |
| Montagabend im dortigen Hauptausschuss präsentierte. Demnach hatte der | |
| Bezirk im vergangenen Dezember im Bereich der Schulen ein Defizit von rund | |
| 17,5 Millionen Euro. Besonders die Kosten für Grundschulkinder liegen weit | |
| über dem Berliner Mittel. | |
| Doch der Bezirk muss sparen. Neukölln will deshalb nun Schulplätze abbauen | |
| und im Norden Teile von Grundschulen anders nutzen. In die Rixdorfer | |
| Grundschule etwa soll zum Schuljahr 25/26 die Neuköllner Volkshochschule | |
| (VHS) einziehen. In der Eduard-Mörike-Grundschule soll noch in diesem Jahr | |
| die Jugendkunstschule Platz finden. Dafür soll die Schule nun vier Räume | |
| frei machen. | |
| Lehrer*innen und Elternverbände an den Schulen sind alarmiert und fühlen | |
| sich überrumpelt. „In der stressigsten Zeit des Schuljahres kriegen wir von | |
| der Schulaufsicht eine Blutgrätsche“, sagt Christian Jessen, Lehrer der | |
| Eduard-Mörike Grundschule, im Hauptausschuss. „Wir haben keine | |
| Überkapazitäten – im Gegenteil. Es ist jetzt schon schwierig, einen Raum | |
| für Elterngespräche oder Einzelförderung zu finden.“ | |
| Die Planung gehe völlig daran vorbei, dass die Schulen in Nordneukölln in | |
| beengten Kiezen liegen. „Und die Kinder hier haben teils besondere | |
| Bedürfnisse“, sagt er. Die formelle Rechnung des Bezirks gehe nicht auf. | |
| „Die Räume werden genutzt – wir brauchen diese Plätze“, sagt Jessen. | |
| ## Eltern ärgern sich | |
| Auch an der Rixdorfer Grundschule ist der Ärger groß. Bereits jetzt nutzt | |
| die VHS die dortige Turnhalle für Kurse. Mit ihrem dauerhaften Einzug | |
| würden nicht nur Räume für den Unterricht, sondern auch für Gruppen, die | |
| diese außerhalb der Unterrichtszeit nutzen, dauerhaft verloren gehen, | |
| kritisiert Melike Çınar aus dem Vorstand der Gesamtelternvertretung. | |
| Neben der praktischen Umsetzung haben die Eltern auch Zweifel, was den | |
| Kinderschutz betrifft. „Wir sehen das Recht unserer Kinder auf faire | |
| Bildung und ihre körperliche und seelische Gesundheit durch Pläne des | |
| Bezirks erheblich bedroht“, schreibt die Elternvertretung in einem offenen | |
| Brief an den Bezirk. Korte solle die Pläne zurücknehmen. Ein Konzept für | |
| die VHS dürfe nicht zulasten der Schwächsten im Bezirk gehen. | |
| Hinter dem Vorstoß der Stadträtin liegen Sparvorgaben aus dem Senat. Im | |
| Vergleich mit anderen Bezirken liegen die Nebenkosten und die Kosten für | |
| Gebäude in Neukölln insgesamt bei 53 Euro pro Schüler*in über dem | |
| Berliner Mittel. Besonders hoch ist der Unterschied bei den | |
| Grundschulkindern. Demnach werden die Kinder teils in Schulen unterrichtet, | |
| in denen sie rein rechnerisch mehr Quadratmeter zur Verfügung haben als | |
| Schüler*innen in anderen Bezirken. | |
| Rechnerisch ergibt sich daraus eine Überkapazität. Das bedeutet: Nach den | |
| allgemeinen Vorgaben könnten mehr Kinder in den bestehenden Schulen | |
| unterrichtet werden. Neukölln ist aber ein „abgebender Bezirk“. Das | |
| bedeutet, dass relativ viele Kinder auf Wunsch ihrer Eltern Schulen in | |
| anderen Bezirken besuchen – und vergleichsweise wenige in anderen Bezirken | |
| gemeldete Kinder nach Neukölln wechseln. Auf dem Papier sieht es also so | |
| aus, als ob Räume ungenutzt bleiben. Der Senat habe den Bezirk bereits | |
| mehrfach aufgefordert zu handeln, berichtet Stadträtin Korte. Daher hätten | |
| sie nun alle Schulen einzeln begangen – und beschlossen, die Gebäude | |
| teilweise anders zu nutzen. | |
| ## Berlinweit fehlen Schulplätze | |
| Das ein Bezirk Schulen verkleinern und Schulplätze abgeben will, verwundert | |
| angesichts des berlinweiten Mangels an Schulplätzen. Philipp Dehne, | |
| bildungspolitischer Sprecher der Linken-Fraktion in der Neuköllner | |
| Bezirksverordnetenversammlung (BVV), kritisiert die Pläne des Bezirks daher | |
| scharf. „Das beruht auf einer reinen Betrachtung von Räumen und | |
| Quadratmeterzahlen“, sagt er. „Stattdessen müsste doch von den | |
| pädagogischen Konzepten der Schulgemeinschaft aus geschaut werden.“ | |
| Bei neu gebauten Schulgebäuden legt der Senat andere Maßstäbe zugrunde. | |
| Dieses Musterraumkonzept sollte auch für Schulen im Bestand gelten, fordert | |
| Dehne. „Nach diesem Konzept fehlen der Eduard-Mörike Grundschule laut deren | |
| Schulleitung sogar 500 Quadratmeter“, sagt er. „Das ist wirklich absurd.“ | |
| Bildungspolitiker Dehne kritisiert zudem, dass der Bezirk über die Flächen | |
| die Kosten senken will. Stattdessen könnte man sich auch anschauen, warum | |
| die Nebenkosten so hoch sind. „Das wäre auch eine Stellschraube.“ Auch die | |
| Schulplatzprognosen des Bezirks zweifelt Dehne an. So würden die Kinder der | |
| rund 60 Willkommensklassen gar nicht mitgezählt. | |
| ## Räume für Pädagogik | |
| Auch die Grünen kritisieren die Situation als „katastrophal“. „Es gibt d… | |
| Druck, Schulen effizienter zu nutzen“, sagt Susann Worschech, | |
| bildungspolitische Sprecherin der Grünen in Neuköllns BVV. Die | |
| Bildungsverwaltung schaue pauschal auf die reinen Raumzahlen, ohne zu | |
| fragen, was wirklich gebraucht werde. | |
| „Wir haben heterogene Klassen, und für Inklusion oder binnendifferenzierten | |
| Unterricht braucht es mehr als einen Raum für 26 Kinder, vor allem im | |
| Ganztag“, sagt sie. Kinder müssten auch mal den Raum wechseln, um in | |
| kleinen Gruppen zu arbeiten, sich zu erholen, zu toben oder sich | |
| anderweitig zu beschäftigen. „Laut Senat soll sich die Pädagogik nach den | |
| Räumen richten“, kritisiert sie. Dabei müsste es andersrum sein. | |
| Tatsächlich besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was der Senat als Ziele | |
| vor sich herträgt, und dem Druck, den er auf Neukölln ausübt. Regelmäßig | |
| verkündet die Bildungsverwaltung stolz die Eröffnung neuer, räumlich | |
| großzügig geplanter „Compartment-Schulen“. Dort sind die Räume auf moder… | |
| pädagogische Konzepte zugeschnitten. Bildungssenatorin Katharina | |
| Günther-Wünsch (CDU) betont bei fast jedem Termin, wie wichtig es ihr sei, | |
| allen Kindern gute Chancen auf eine gute Bildung zu ermöglichen. Bei den | |
| Gipfeln gegen Jugendgewalt betonte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner | |
| (CDU) immer wieder, wie wichtig Prävention ist und dass kein Kind | |
| zurückgelassen werden sollte. Doch beim Spardruck des Senats ist davon in | |
| Neukölln keine Rede mehr. | |
| ## Meridian bestimmt Globalsummen | |
| Dass überhaupt so gerechnet wird, liegt daran, dass die Bezirke sogenannte | |
| „Globalsummen“ erhalten. Dafür legt die Verwaltung den Meridian zugrunde. | |
| Konkret bedeutet das: Aus allen Schulkosten wird der Mittelwert errechnet, | |
| und daraus ergibt sich, was die Bezirken pro Platz ausgeben dürfen. | |
| Am Montagabend im Hauptausschuss meldete sich dazu Martin Hikel, Neuköllns | |
| Bezirksbürgermeister und seit kurzem auch Vorsitzender der Berliner SPD zu | |
| Wort. „Für manche Dienstleistungen ist diese Systematik vielleicht nicht | |
| berechtigt“, sagte er. Das sei auch Thema im Rat der Bürgermeister*innen. | |
| „Bei der Modernisierung der Verwaltung wird das auch ein Thema sein“, | |
| versprach er. | |
| Die Eltern und Lehrer*innen, die Montag in den Ausschuss gekommen sind, | |
| kann das nicht beruhigen. „Wir waren jetzt schon in mehreren Ausschüssen. | |
| Immer heißt es, ‚wir wurden aufgefordert‘ oder ‚wir müssen abgeben‘. … | |
| muss ich hingehen, um unsere Fragen und Forderungen an die wirklich | |
| Verantwortlichen heranzutragen?“, fragt ein Elternvertreter. | |
| 9 Jul 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Uta Schleiermacher | |
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