| # taz.de -- Gewalt bei der Behindertenhilfe: Nicht bloß ein Klaps | |
| > In Potsdam stand eine Pflegerin des Oberlinhauses vor Gericht. Vor vier | |
| > Jahren wurden in der Einrichtung Menschen mit Behinderung getötet. | |
| Bild: Steht schon für Pflege: ein Oberlin-Standort in Potsdam | |
| Potsdam taz | Die junge Frau ist immer noch sichtlich erschüttert. Was sie | |
| an diesem Tag vor dem Potsdamer Amtsgericht über die Zustände im | |
| Oberlinhaus, einem Wohnheim in der brandenburgischen Landeshauptstadt für | |
| taubblinde, körperlich und geistig behinderte Erwachsene, berichtet, klingt | |
| grausam. Die 22-Jährige hat dort im September 2023 eine Ausbildung zur | |
| Heilerziehungspflegerin begonnen. Keine einfache Aufgabe. Doch mit dem, was | |
| sie dort erlebt, hat sie nicht gerechnet. | |
| Die Auszubildende schildert eindrücklich, wie ihre Kollegin, die 56-jährige | |
| Esther K., die Bewohner*innen beleidigt, geschubst und sogar geschlagen | |
| haben soll. Auch soll sie einen Bewohner mehrfach gezwungen haben, Essen zu | |
| sich zu nehmen. Die Zeugin führt an ihrer Mutter vor, wie Esther K. dafür | |
| den Kopf des taubblinden Mannes nach hinten überstreckte und ihm gewaltsam | |
| klein geschnittenes Brot und ein anderes Mal Suppe einführte. Dieser habe | |
| seine Zähne zusammengebissen und den Kopf zur Seite gedreht. „Er wollte | |
| eindeutig nicht essen.“ | |
| Doch Esther K. war das egal. Einsichtig zeigt sie sich vor Gericht nicht, | |
| weder bei diesen noch bei den anderen Vorwürfen, die sie zwar nicht | |
| abstreitet, aber herunterspielt. „Er hatte ein Grinsen im Gesicht“, sagt | |
| sie zur Rechtfertigung der Zwangsernährung. Und: „Er testet gerne mal die | |
| Mitarbeiter.“ | |
| Für die Auszubildende ist das nicht nachvollziehbar. „Jemand, der nicht | |
| versteht, dass diese Menschen schwer körperlich und geistig behindert sind | |
| und das nicht aus bösem Willen machen, sollte in diesem Bereich nicht | |
| arbeiten“, findet sie. Zumal der betroffene taubblinde Bewohner sehr | |
| verstört reagierte: „Er hat geschrien und sich ans Ohr geschlagen. Es war | |
| klar zu sehen, dass es ihm nicht gut ging.“ | |
| Esther K., die seit zehn Jahren in der Einrichtung arbeitete, habe ihr | |
| gesagt, dass das zwar grob aussehe, aber normal sei, und sie aufgefordert, | |
| dasselbe zu tun. „Ich habe ihm die Hand an die Stirn gelegt. Aber ich habe | |
| gemerkt, das fühlt sich nicht richtig an und es gelassen“, sagt die junge | |
| Frau. | |
| ## Misshandlung von Schutzbefohlenen | |
| In insgesamt acht Fällen soll Esther K. im Eckard-Beyer-Haus des | |
| Oberlinhauses Bewohner*innen „gequält und roh misshandelt“ haben. Die | |
| Anklage lautet auf Misshandlung von Schutzbefohlenen „aus gefühlloser, das | |
| Leben und Leiden missachtender Gesinnung“. Strafmaß: Freiheitsstrafe von | |
| sechs Monaten bis zu zehn Jahren pro Fall. | |
| Bei einem dieser Fälle holte die Auszubildende ihre Kollegin Esther K. zu | |
| Hilfe, um einen taubblinden Mann, der an Parkinson erkrankt ist, aus der | |
| Wanne zu holen. Weil es der aber nicht schnell genug ging, soll sie ihn | |
| angeschrien haben – wohl wissend, dass er nicht hören kann. Als das nicht | |
| half, soll sie dem nackten Mann, der auf allen Vieren in der leeren Wanne | |
| hockte, mit der flachen Hand auf die Fußsohlen geschlagen haben. „Er hat | |
| daraufhin geschrien und sich in die Hand gebissen. Ich war wie erstarrt und | |
| habe mich hilflos gefühlt“, berichtet die Auszubildende. | |
| Der Staatsanwalt wirft Esther K. vor, dass sie mit den Schlägen ihre Macht | |
| demonstrieren wollte. Wie auch in anderen Fällen, in denen sie | |
| Bewohner*innen auf die Hände geschlagen haben soll, wenn sie diese in | |
| die Hose oder unter das Shirt steckten. Oder als sie einen geistig | |
| beeinträchtigten Bewohner angeschrien, geschubst, in sein Zimmer gesperrt | |
| und mit Essensentzug bestraft haben soll, weil er ohne Erlaubnis Essen aus | |
| der Küche genommen hatte. | |
| Während der Staatsanwalt die Vorwürfe vorträgt, sitzt die kleine, blasse, | |
| stämmige Frau mit reglosem Gesichtsausdruck auf der Anklagebank. „Meine | |
| Mandantin ist sich keiner Schuld bewusst und versteht die Welt nicht mehr“, | |
| sagt ihr Anwalt, bevor Esther K. selbst das Wort ergreift. | |
| Sie blättert in ihrem Block, versucht, die Vorfälle zu erklären. Ein | |
| Antippen sei es gewesen, kein Schlagen, sagt sie. An anderer Stelle spricht | |
| sie von einem „kleinen Klaps“, es klingt nicht nach Problembewusstsein. | |
| Über einen geistig behinderten Bewohner mit, wie sie sagt, | |
| „herausforderndem Verhalten“ sagt sie: „Manchmal habe ich das Gefühl, da… | |
| er das mit Absicht macht.“ Die Vorwürfe findet sie „teilweise echt | |
| überzogen“. Warum die Auszubildende sie ohne Grund belasten sollte? „Ich | |
| weiß nicht, vielleicht ist sie zu behütet aufgewachsen.“ | |
| Als der Richter fragt, ob sie aus Überforderung so gewalttätig regiert | |
| habe, schüttelt sie bestimmt den Kopf. „Natürlich bin ich auch mal | |
| überfordert, aber das lasse ich nicht an den Bewohnern aus.“ | |
| Der Vorwurf der Misshandlung von Schutzbefohlenen wird am Ende fallen | |
| gelassen. Zwar gibt es eine eindrückliche Zeugenaussage, aber keine | |
| nachweisbaren Verletzungen. Der Richter spricht von einem „Grenzfall“. | |
| Esther K. wird am 27. Mai wegen Nötigung und Körperverletzung zu zehn | |
| Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung, sowie die Zahlung von | |
| 2.000 Euro an den Allgemeinen Behindertenverband verurteilt. | |
| ## Ableismus tötet | |
| Begleitet wurde der Prozess von einer antiableistischen Gruppe von jungen | |
| Leuten, von denen viele selbst eine Behinderung haben. Auf ihren Shirts | |
| steht mit großen Lettern: „Ableismus tötet“. Ableismus beschreibt die | |
| Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, indem man sie auf ihre | |
| Beeinträchtigungen reduziert. Die Aktivist*innen zeigen sich enttäuscht | |
| von dem Urteil. „Wenn die Gewaltvorfälle in einer anderen Einrichtung, zum | |
| Beispiel einer Kita vorgefallen wären, wo die Schutzbedürftigkeit | |
| gesellschaftlich anerkannter ist, wäre das Urteil anders ausgefallen“, ist | |
| Sprecher*in Noah überzeugt. Angesichts der fehlenden Einsicht von Esther | |
| K. befürchten sie zudem, dass die Pflegerin wegen des Fachkräftemangels | |
| trotz Verurteilung weiter in dem Bereich arbeiten könnte. | |
| Zumindest im Oberlinhaus ist das ausgeschlossen. Esther K. sei nach dem | |
| Urteil „umgehend gekündigt“ worden, teilte eine Unternehmenssprecherin mit. | |
| Auch seien alle Mitarbeiter*innen über die Vorwürfe und das Urteil | |
| informiert worden, um klarzumachen, dass keine Gewalt geduldet werde. | |
| Es ist nicht das erste Mal, dass eine Mitarbeiterin des Oberlinhauses | |
| Gewalt gegen die schwerbehinderten Bewohner*innen ausübt. Im Dezember | |
| 2021 wurde eine langjährige Pflegekraft des Trägers wegen Mordes und | |
| versuchten Mordes sowie der Misshandlung von Schutzbefohlenen zu 15 Jahren | |
| Freiheitsstrafe verurteilt. Die damals 51-jährige Ines R. hatte am Abend | |
| des 28. April 2021 im Thusnelda-von-Saldern-Haus fünf Bewohner*innen | |
| auf ihren Zimmern mit einem Messer angegriffen. Vier gelähmte | |
| Bewohner*innen verbluteten in ihren Betten, eine weitere überlebte | |
| schwerverletzt. | |
| Der Richter sprach in seiner Urteilsverkündung neben einer „enormen inneren | |
| Wut“ auch von einer „erdrückenden Arbeitslast“. Von | |
| Inklusions-Aktivist*innen wurde das scharf kritisiert: Viel sei im Prozess, | |
| aber auch in der Berichterstattung, von Überforderung bei der Arbeit und | |
| vom Notstand in der Pflege die Rede gewesen – [1][als wäre das eine | |
| Rechtfertigung für Mord]. Die Opfer Lucille H., Martina W., Christian S. | |
| und Andreas K. kamen jedoch nur am Rande vor. | |
| Dass Menschen mit Behinderungen unsichtbar gemacht werden, kritisiert auch | |
| die antiableistische Gruppe in Potsdam im Prozess um Esther K. „Wurde mit | |
| den Bewohner*innen überhaupt gesprochen?“, fragt Sprecher*in Noah. | |
| Vor Gericht war davon zumindest keine Rede. Die Gruppe ist sich darüber | |
| einig, dass die „ableistische Grundhaltung“ von Esther K. eine Folge | |
| [2][der Strukturen in Behinderteneinrichtungen] ist. „Gewalt gegen | |
| behinderte Menschen wird durch ausgrenzende und diskriminierende Strukturen | |
| erst ermöglicht“, so Noah. | |
| Tatsächlich sind die Vorfälle im Oberlinhaus keine Einzelfälle. Menschen | |
| mit Behinderung werden überdurchschnittlich oft Opfer von Gewalt. Laut | |
| Studien im Auftrag des Bundessozialministeriums von 2024 haben über 60 | |
| Prozent der Befragten, die in Wohneinrichtungen leben, psychische Gewalt | |
| erfahren, etwa in Form von Beleidigungen, Anschreien, Demütigungen oder | |
| Drohungen. Mehr als die Hälfte berichtet von körperlicher Gewalt. Die | |
| Täter*innen sind demnach häufig andere Bewohner*innen, aber auch | |
| Betreuungspersonal. | |
| „Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ist an der Tagesordnung“, sagt auch | |
| Marcus Gaubner, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes. „Das | |
| zieht sich durch alle Einrichtungen.“ Für Gaubner stimmt das Verhältnis | |
| zwischen Menschen mit Behinderung und Betreuer*innen nicht. Es fehle an | |
| Selbstbestimmung – aber auch an Empathie. „In die Ausbildung von | |
| Pflegekräften muss eine psychologische Komponente rein“, fordert er. | |
| Außerdem brauche es mehr unangemeldete Kontrollen. | |
| Laut dem Brandenburger Landesamt für Soziales werden Einrichtungen wie das | |
| Oberlinhaus alle zwei Jahre geprüft. Hinzu kommen anlassbezogene | |
| Kontrollen bei Hinweisen auf Missstände. Teil des Prüfkonzepts sei seit | |
| 2018 auch die Prävention von Gewalt. Die letzte Prüfung des Oberlinhauses | |
| fand im März 2024 statt. Nach den neuerlichen Gewaltvorfällen wurde | |
| offenbar nachgebessert: Laut Heimaufsicht gibt es nun Gespräche zwischen | |
| Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen zum Thema Selbstbestimmung. | |
| Zudem würde die Einrichtungsleitung in den Wohngruppen hospitieren, um sich | |
| einen Überblick über den Umgang zu verschaffen und auch die | |
| Antidiskriminierungsbeauftragte werde einbezogen. | |
| Für [3][den Inklusions-Aktivisten Raúl Krauthausen] ist das zu wenig. Er | |
| wundert sich, dass es für die Leitung keine Konsequenzen gab – weder nach | |
| den Morden noch nach den neuerlichen Gewalttaten. „Niemand hat etwas | |
| gesehen oder gewusst“, kritisiert Krauthausen. Auch die Bewährungsstrafe | |
| für Esther K. hält er für zu gering. „Behindertes Leben wird scheinbar | |
| anders bewertet als nicht behindertes.“ | |
| Nach den Morden im Oberlinhaus gründete Krauthausen mit anderen | |
| Aktivist*innen das Projekt #AbleismusTötet. Neben kurzfristigen | |
| Maßnahmen wie einem Mitbestimmungsrecht für die Bewohner*innen von | |
| Behinderten-Einrichtungen und gesetzlichen Mindeststandards für | |
| Gewaltschutzkonzepte fordern die Aktivist*innen einen grundlegenden | |
| Wandel: Wegen der gewaltfördernden Struktur und ihres segregierenden | |
| Charakters sollten vollstationäre Wohneinrichtungen für Menschen mit | |
| Behinderungen generell abgeschafft werden. | |
| 8 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marie Frank | |
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