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# taz.de -- Raúl Krauthausen über Morde im Oberlinhaus: „Die Morde sind kei…
> Vor einem Jahr tötete eine Pflegerin vier Menschen mit Behinderung. Das
> Projekt #AbleismusTötet recherchiert zur Struktur der Gewalt.
Bild: Polizeidurchsuchung vor dem Oberlinhaus im April 2021
taz: Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K: Vor einem Jahr hat
eine Pflegerin diese [1][vier Menschen mit Behinderung im Oberlinhaus in
Potsdam ermordet] und eine weitere Person schwer verletzt. Der Fall hat
damals medial viel Aufmerksamkeit bekommen, doch nun scheint er fast
vergessen. Woran liegt das?
Raúl [2][Krauthausen]: Fehler im Umgang mit der Tat wurden von Beginn an
gemacht. Direkt nach der Tat gab es schon einseitige Berichterstattung.
Angehörige, Pflegepersonal und der Pfarrer der Einrichtung wurden
interviewt, doch Menschen mit Behinderungen aus dieser oder einer anderen
Wohneinrichtungen kamen kaum vor. Sie hätte man fragen müssen: Habt ihr
auch schon Gewalt erlebt? Doch sie wurden unsichtbar gemacht.
Im vergangenen Sommer haben Sie mit einem Team das Rechercheprojekt
[3][#AbleismusTötet] ins Leben gerufen. Sie wollten dabei herausfinden, ob
der Vorfall im Oberlinhaus ein Einzelfall ist oder Struktur hat. Was ist
das Ergebnis?
Die Morde im Oberlinhaus wurden oft als Einzelfall dargestellt, doch das
ist falsch. Unsere Recherchen haben ergeben, dass die Strukturen in
vollstationären Einrichtungen alle sehr ähnlich sind. Überall kann Gewalt
passieren. Überall findet Ableismus statt.
Der [4][Begriff „Ableismus“] ist erst seit einigen Jahren im allgemeinen
Sprachgebrauch. Wie grenzt er sich von „Behindertenfeindlichkeit“ ab?
Das Wort „Behindertenfeindlichkeit“ beschreibt eine aktive Handlung, wie
eine direkte Beleidigung. Unter Ableismus versteht man die strukturelle
Dimension. Beispielsweise: Jedes Jahr aufs Neue nachweisen zu müssen, dass
man behindert ist. Oder den Automatismus, dass davon ausgegangen wird, ein
behindertes Kind müsse auf eine Förderschule. Oder die starke
Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt trotz gleicher Qualifikation.
Bei ihrer Recherche haben Sie Gewaltfälle in vollstationären
Wohneinrichtungen dokumentiert. Welche Formen von Gewalt kommen dort vor?
Das Spektrum ist groß: Von niedrigschwelliger bis zu psychischer,
körperlicher und sexualisierter Gewalt. Und im schlimmsten Fall, wie im
Oberlinhaus, eben Mord. Studien zeigen, dass Frauen mit Behinderung
besonders betroffen sind. Solche Einrichtungen bieten einen Nährboden für
Gewalt, denn sie lassen kaum Raum für Selbstbestimmung und schreiben
Hierarchien zwischen Bewohner*innen und Pflegenden fort.
Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Wir sind in die Presse-Archive gegangen und haben beispielsweise geguckt,
was das Göttinger Tageblatt vor zehn Jahren berichtet hat. Und dann haben
wir versucht mit allen Beteiligten zu sprechen und wollten herausfinden,
was aus den jeweiligen Fällen geworden ist. Auffällig war, dass die Opfer
in den Berichten nur selten einen Namen hatten. Unsere Recherchen sind noch
lange nicht abgeschlossen, sondern werden nach und nach ergänzt. Bislang
haben wir ungefähr 50 Fälle mit hunderten Opfern aus zehn Jahren
recherchiert.
50 Fälle zwischen 2010 und 2020. Gibt es Schätzungen dazu wie groß die
Dunkelziffer ist?
Man geht davon aus, dass die Dunkelziffer deutlich höher ist. Laut einer
kleinen Anfrage wurden allein im Jahr 2018 238 Straftaten im Zusammenhang
von behinderten Menschen in Wohneinrichtungen angezeigt.
Der Behindertenbeauftragte möchte jetzt auch eine Studie machen. Ich denke
jedoch, dass drängender als eine Studie, unangemeldete Besuche in Heimen
zur Qualitätskontrolle wären. Eine einfache Maßnahme, die schnell umsetzbar
ist.
Ihr Rechercheprojekt beinhaltet auch einen Maßnahmenkatalog von
Behinderten- und Menschenrechtsorganisation. Die Hauptforderung lautet:
Vollstationäre Wohneinrichtungen abschaffen. Ginge es nicht auch mit einer
Reformierung?
Diese Form der Wohneinrichtungen begünstigt Gewalt. Menschen müssen dort
auf engem Raum zusammenleben, es gelangen keine Informationen von drinnen
nach draußen. In der Sozialwissenschaft nennt man so etwas „Totale
Institutionen“. Viele Bewohner*innen wissen gar nicht, was ihre Rechte
sind und Missstände dringen selten nach außen. Es gibt Berichte, dass
Bewohner*innen keine Haustiere halten dürfen, kein Internet haben,
damit sie nicht Pornos gucken können.
Andere haben mir berichtet, dass sie ihren Sprachcomputer nicht nutzen
dürfen, weil es angeblich den Datenschutz des Pflegepersonals verletzt. Was
dort wirklich vor sich geht, kann nur durch Undercover-Recherchen
offengelegt werden. Ich selbst habe das mal gemacht.
Was haben Sie dort erlebt?
Ich war vor drei Jahren für fünf Tage in einer Einrichtung. Ich wurde nicht
misshandelt, falsch angepackt oder ähnliches. Doch allein, dass man nicht
mitbestimmen darf, was und wann man essen möchte, ist doch schon falsch.
Sobald man seine Bedürfnisse kommuniziert, gilt man als Querulant*in. Wieso
dürfen die Bewohner*innen beispielsweise nicht mitentscheiden, wer
ihnen auf der Toilette hilft?
Angenommen ich bin 18 Jahre alt, lerne gerade meine Sexualität kennen und
werde dann von jemanden unterstützt, den oder die ich attraktiv finde. Dann
kann ich nichts dagegen tun. Bewohner*innen von Heimen sollten auch
miteinbezogen werden in die Verteilung von Geldern oder der Einstellung von
Personal.
Sie beschreiben das Leben der Menschen aus den Heimen als eine Form der
Abschirmung von der Außenwelt. Ist das während der Pandemie schlimmer
geworden?
Ja, die Angehörigen durften zwar relativ schnell wieder zu Besuch kommen,
doch es ist die Frage, ob die eine Gewalterfahrung bemerken würden.
Wichtiger ist der regelmäßige Kontakt in die Außenwelt, der während Corona
natürlich stark eingeschränkt war. In Großbritannien hat man in den 80ern
herausgefunden, dass Missbrauchs- und Gewaltvorfälle abnehmen, sobald
Bewohner*innen zur Arbeit pendeln. Denn so haben sie täglichen Kontakt
mit einer Fahrer*in, die bemerken würde, ob es mir an einem Tag schlechter
geht.
Wie sähe eine gute alternative Wohnform für Menschen mit schwerer
Behinderung aus?
Kleinere Wohngruppen, in denen sich die Bewohner*innen ihre
Mitbewohner*innen und Assistenzen selbst aussuchen können. Oder eine
eigene Wohnung mit Assistenz. Doch was es dafür unbedingt braucht, ist mehr
barrierefreier Wohnraum. In Schweden muss jede*r Bewohner*in, die in einer
Einrichtung lebt, auch eine alternative Wohnform angeboten werden. Und die
Wohngruppen bestehen aus maximal vier Bewohner*innen. Auch in Deutschland
gibt es die Möglichkeit für mehrfach schwerstbehinderte Menschen mit
Assistenz in einer eigenen Wohnung zu leben. Doch viele wissen das nicht.
Je eingeschränkter Menschen sind, desto weniger kennen sie ihre Rechte.
Für Menschen mit Behinderungen gibt es bei Gewalterfahrungen verschiedene
Hilfestellungen. Wie gut funktionieren die?
Die Situation ist schwierig, es gibt kaum Angebote in leichter Sprache.
Viele Notrufnummern fühlen sich für Menschen in Heimen nicht zuständig,
andere sind total versteckt auf irgendwelchen Behördenseiten. Wir haben nun
eine Liste erstellt für Betroffene und Angehörige, welche Nummern helfen
können.
Wenige Monate [5][nach den Morden im Oberlinhaus] sind in einem Sinziger
Wohnheim [6][während der Flutkatastrophe zwölf Menschen mit Behinderung
ertrunken]. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Glauben Sie, dass dieser Fall
noch Konsequenzen mit sich bringen wird?
Nein, leider nicht, dabei wäre es bitter nötig, unabhängig davon, was bei
den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft herauskommt. Selbst bei der
Evakuierung eines ICE wegen Unwetter, und das passiert im Vergleich zu
Flutkatastrophen wirklich häufig, gibt es kein Rettungsverfahren für
Menschen, die im elektronischen Rollstuhl sitzen. Die Feuerwehr muss dann
aus irgendwelchen Holzpaletten schnell eine Rampe bauen. Nur ein Beispiel,
das beweist, dass Deutschland dringend einen Katastrophenschutz braucht,
der Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt stellt.
Ihre Recherchen sind nun veröffentlicht, wie soll es jetzt weitergehen?
Im Idealfall hoffen wir, dass Strukturen geschaffen werden, mit denen
behinderten Menschen dann geholfen wird, wenn sie Hilfe brauchen. Es kann
allerdings nicht sein, dass eine siebenköpfige NGO wie wir es sind, das
ehrenamtlich macht. Wir sind Partner*innen angewiesen. Deswegen sind
unsere Forderungen auch ganz klar an die Politik adressiert. Wir konnten
mit unserer Recherche beweisen, dass Gewaltvorfälle in vollstationären
Wohneinrichtungen keine Einzelfälle sind. Jetzt ist die Politik an der
Reihe und muss handeln. Und sie sollen uns bloß nicht mit irgendwelchen
Studien kommen.
28 Apr 2022
## LINKS
[1] /Urteil-gegen-Pflegerin-in-Oberlinhaus/!5821125
[2] /Raul-Krauthausen-ueber-Mediennarrative/!5692940
[3] http://ableismus.de
[4] /Tod-von-Menschen-mit-Behinderung/!5769240
[5] /Prozessende-nach-Morden-im-Oberlinhaus/!5821147
[6] /Ertrunkene-Menschen-mit-Behinderung/!5785903
## AUTOREN
Carolina Schwarz
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