| # taz.de -- Prozessende nach Morden im Oberlinhaus: Angehörige bekommen keine … | |
| > Nach den Morden an vier Menschen mit Behinderung, erhält Pflegerin Ines | |
| > R. 15 Jahre Freiheitsstrafe. Sie kannte die Opfer teils aus Kindertagen. | |
| Bild: Die wegen Mordes Angeklagte (links) vor der Verkündung des Urteils im la… | |
| Potsdam taz | Ein geschmückter Weihnachtsbaum im Foyer, Lichterketten in | |
| den Fenstern und ein Glühweinstand vor dem Haus. Auf dem großen Gelände des | |
| Oberlinhaus an der Rudolf-Breitscheid-Straße 24 in Potsdam ist die | |
| Adventszeit sichtbar. Als die Polizist*innen und Notärzte am Abend des | |
| 28. Aprils 2021 im Wohnheim Thusnelda-von-Saldern-Haus eintreffen | |
| registrieren sie noch die Osterdekoration in den Zimmern. Rund acht Monate | |
| später erinnert von außen [1][nichts mehr an die Gewalttat aus dem | |
| Frühjahr.] Die zahlreichen Blumen, Kerzen und Karten vor dem Haus sind | |
| lange verschwunden. | |
| Vier Menschen mit schwerer Behinderung [2][verloren hier ihr Leben]. | |
| Martina W. starb im Alter von 31 Jahren. Christian S. war 38 Jahre alt. | |
| Lucille H. wurde 43 und Andreas K. 56 Jahre alt. Eine weitere Bewohnerin, | |
| die 43-jährige Elke T., überlebte den Angriff mit einem Messer schwer | |
| verletzt. | |
| Am Mittwoch hat das Landgericht Potsdam die langjährige Pflegerin [3][Ines | |
| R. für die Tat zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt]. | |
| Das Gericht legte die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik fest. | |
| Der Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter sieht es als bewiesen an, dass | |
| R. des vierfachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes sowie der | |
| Misshandlung von Schutzbefohlenen schuldig ist. Wäre R. an dem Tag nicht | |
| zur Arbeit gegangen, sondern zum Arzt, könnten die Opfer noch leben und | |
| wären nicht „auf so grausame Weise ums Leben gekommen“, so Horstkötter. D… | |
| Urteil ist noch nicht rechtskräftig. | |
| Noch am Tatabend wurde R. bei sich zu Hause festgenommen. Sie soll zunächst | |
| zwei Menschen gewürgt haben, dann habe sie ein Messer geholt. Gegenüber | |
| ihrem Mann äußerte sie im verwirrten Zustand: „Ich habe vier Menschen die | |
| Kehle durchgeschnitten.“ Er alarmierte zunächst die Arbeitskollegin seiner | |
| Frau, dann die Polizei und den Notruf. | |
| ## Menschen mit Behinderung kamen kaum zu Wort | |
| Sätze, wie dieser der Angeklagten, bedeuten für Boulevardmedien geeignete | |
| Schlagzeilen. Schon am Tag nach der Tat spekulierten vor allem | |
| Boulevardmedien über Tathintergründe. Aktivist*innen für Inklusion | |
| kritisierten weite Teile der Berichterstattung als ableistisch. Statt auf | |
| strukturelle Problem von Gewalt in Pflegeeinrichtungen einzugehen, sagt ein | |
| Polizeipsychologe vor laufender Kamera, dass ein Motiv gewesen sein könnte, | |
| „die Leute von Leiden zu erlösen, die vielleicht sogar unheilbar sind“. | |
| Bewohner*innen des Oberlinhauses und Menschen mit Behinderung kamen | |
| kaum oder gar nicht zu Wort. | |
| Dass es auch in dem Mordprozess vor dem Landgericht Potsdam vor allem um | |
| die Verurteilte ging, liegt in der Natur der Sache. Bewohner*innen des | |
| Oberlinhauses wurden in den zehn Verhandlungstagen nicht als Zeug*innen | |
| gehört. Eine Nachfrage dazu wurde vom Gericht bislang nicht beantwortet. | |
| Das Oberlinhaus lehnte einen Besuch auf der Station mit dem Verweis ab, | |
| dass die Prozesstage für alle Beteiligten sehr aufwühlend seien. Der Träger | |
| ist ein eigenständiger diakonischer Anbieter. Im Wohnbereich 3 des | |
| Thusnelda-von-Saldern-Hauses, dem früheren Arbeitsbereich von Ines R., | |
| lebten 20 Menschen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung. R. arbeitete fast | |
| 30 Jahre lang in der Pflege. Die Menschen, die sie ermordete, kannte sie | |
| alle jahrelang, teilweise seit deren Kindheit. | |
| Auch Christian S, dessen Eltern in dem Prozess als Nebenkläger*innen | |
| auftraten. Immer wieder saßen sie der Mörderin ihres Sohnes im Landgericht | |
| gegenüber. Eine Antwort, warum ihnen ihr Sohn genommen wurde, haben die | |
| Eltern nicht erwartet, sagte Beatrice Vossberg, die Nebenklageanwältin. Die | |
| Eltern hätten sich durch ihre Klage vor allem Zugang zu Informationen | |
| versprochen und wollten dem Prozess auch beiwohnen, um ihre Trauer zu | |
| bewältigen. | |
| Die Pflegerin Ines R. kannten sie zuvor nur als [4][eine „fürsorgliche und | |
| mütterliche“ Person]. Vor Gericht sagte seine Mutter Karin S. aus, dass sie | |
| immer froh war, wenn R. ihren Sohn pflegte. Der 1985 geborene Christian S. | |
| kam als Frühgeburt zur Welt und erlitt als Folge einen Hirnschaden. Seine | |
| Eltern pflegten ihn 17 Jahre lang, dann zog er ins Oberlinhaus. An den | |
| Wochenenden holten sie ihn nach Hause, pflegten ihn auch. Den Eltern sei | |
| klar gewesen, dass eine Pflegeeinrichtung nicht die Zeit und Fürsorge | |
| aufwenden könne, die ihr Sohn brauche, so Vossberg. Als „Sonnenschein der | |
| Familie“ beschreibt ihn seine Mutter im Gericht: „Er war fast immer gut | |
| drauf.“ | |
| Auch Martina W. lebte seit ihrer Jugend im Oberlinhaus. Die junge Frau, die | |
| nur 31 Jahre alt wurde, hatte eine frühkindliche Hirnschädigung und wuchs | |
| bei ihrer Großmutter auf. Bei ihr lief immer der Fernseher, denn sie mochte | |
| das Flimmern, erzählte ihr Onkel Falko W. im Gericht. In den letzten Jahren | |
| hätte sich der Zustand in der Einrichtung verschlechtert, sagte W. Schon | |
| vor der Pandemie hätte er seine Nichte bei Besuchen nicht mehr im | |
| Rollstuhl, sondern nur noch im Bett angetroffen. | |
| Lucille H. lebte nach einem schweren Autounfall 2013 im Oberlinhaus. Über | |
| sie erfuhr man, dass sie Fan der Toten Hosen war, eine gute CD-Sammlung | |
| hatte und es mochte, wenn ihr jemand vorlas. Sie hinterlässt zwei Kinder. | |
| Andreas K. konnte, wie die anderen Opfer auch, nur durch kleine Gesten | |
| kommunizieren, etwa Daumen hoch oder runter. Er wurde 1964 geboren und | |
| hatte von Geburt an eine kognitive Behinderung. Nach einem Hirninfarkt 2016 | |
| war er stark körperlich eingeschränkt und lebte seitdem im Oberlinhaus. | |
| Laut einem Betreuer hörte er gerne Schlager. Seine Schwester erzählte vor | |
| Gericht, dass sie bei ihren Besuchen immer seltener mit ihrem Bruder | |
| rausgehen konnte, da er wegen Personalmangels nicht vorbereitet wurde. | |
| ## Arbeitsbelastung erkläre nicht die Tat | |
| Der Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter führte ruhig und sensibel durch | |
| den Prozess. Er nahm sich viel Zeit für alle Zeug*innen. Auch die | |
| Nebenklageanwältin bewertete die Prozessführung als sensibel. Ihrer Meinung | |
| nach sei allerdings der [5][Darstellung der Arbeitsbelastung] zu viel Raum | |
| gegeben worden. So könne der Eindruck erweckt werden, als trage der | |
| Arbeitgeber eine Mitschuld an der Tat: „Das ist strafrechtlich nicht | |
| möglich.“ | |
| Tatsächlich sprachen mehrere Mitarbeiter*innen vor Gericht von einer | |
| hohen Arbeitsbelastung. Auch Staatsanwältin Maria Stiller sagte in ihrem | |
| Plädoyer, dass der Prozess ein Schlaglicht auf die Situation in der Pflege | |
| werfe – auch wenn das keine Erklärung für die Taten sei, so Stiller: „Es | |
| ist keine selbsterfüllende Prophezeiung, dass man fünf Menschen angreift, | |
| die nichts für die Überlastung der Pflegerin können.“ | |
| Auch andere Pflegerinnen berichteten von Unterbesetzung, | |
| Personalfluktuation und Überlastungsanzeigen. Eine ehemalige | |
| Betreuungsfachkraft nannte die Belastungssituation „eine Katastrophe“. | |
| Teilweise sei für 10 Menschen mit hohem Pflegegrad nur eine Person | |
| zuständig gewesen: „Ich habe gekündigt, weil ich das mit meinem Gewissen | |
| nicht mehr vereinbaren konnte.“ Corona habe die Situation noch verschärft. | |
| Nach der Gewalttat sei die Personalsituation durch Leasingkräfte verbessert | |
| worden. | |
| Die verurteilte Pflegerin Ines R. hat sich am ersten Verhandlungstag | |
| umfassend geäußert. Pflege sei ihre Berufung gewesen, doch die Situation | |
| sei immer belastender geworden. Auch [6][ihr Ehemann sprach von einer | |
| akuten Belastungssituation] seiner Frau kurz vor der Tat. Angebote, in eine | |
| weniger fordernde Arbeit zu wechseln, habe Ines R. aber aus finanziellen | |
| Gründen abgelehnt, sagte ihre ehemalige Chefin. | |
| ## Ein Erinnerungsort ist geplant | |
| Nach Zeugenaussagen gibt es keine Hinweise darauf, dass Ines R. schon zuvor | |
| gewalttätig gegen Menschen mit Behinderung gewesen ist. Ihrer langjährigen | |
| Therapeutin vertraute sie aber an, dass sie G[7][ewaltfantasien bezüglich | |
| Bewohner*innen hege], die sie selbst als „schrecklich, nicht normal“, | |
| bewertet hätte. Die Psychoanalytikerin habe allerdings eine klare | |
| Unterscheidung zwischen Fantasie und Realität ausmachen können und sagte, | |
| dass R. auch oft positiv von ihrer Arbeit gesprochen habe. | |
| Am neunten Prozesstag kam demgegenüber zur Sprache, dass R. eine Woche vor | |
| der Gewalttat versucht haben soll, eine Bewohnerin zu vergiften. Eine | |
| psychologische Gutachterin diagnostizierte bei R. eine | |
| Borderline-Erkrankung. Außerdem läge bei Ines R. ein missbräuchlicher | |
| Konsum von Alkohol und Medikamenten vor. | |
| In ihrer Aussage am ersten Prozesstag hatte Ines R. nicht über den Mord an | |
| den vier Menschen gesprochen. Ausführlich erzählte sie aber von ihrer | |
| Kindheit und mehreren Schicksalsschläge. Schon als Kind war sie suizidal, | |
| hatte ein schlechtes Verhältnis zu ihrer Mutter und wurde aufgrund ihrer | |
| psychischen Probleme stationär in der Charité behandelt. Sie hat zwei | |
| Söhne, einer hat eine Behinderung und lebt ebenfalls in einer Einrichtung | |
| des Oberlinhauses, der andere erkrankte zwischenzeitlich an einem | |
| Hirntumor. | |
| Seit der Tat werden Bewohner*innen und Mitarbeitende seelsorgerisch | |
| betreut. Die Verarbeitung des Schmerzes stünde im Mittelpunkt der | |
| Aufarbeitung, heißt es in einer Erklärung des Oberlinhauses. Kein Urteil | |
| könne das Verbrechen und den Verlust auch nur ansatzweise abbilden: „Für | |
| das Oberlinhaus bleibt die Tat und das grenzenlose Leid, das damit über | |
| die Opfer und ihre Angehörigen gebracht wurde, unermesslich.“ | |
| In Vergessenheit geraten soll die Tat nicht. Auf dem Gelände des | |
| Oberlinhauses, wo derzeit nur die Adventsdekoration ins Auge fällt, soll | |
| ein Erinnerungsort für die getöteten Bewohner*innen installiert werden. | |
| 22 Dec 2021 | |
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