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# taz.de -- Einrichtungen der Behindertenhilfe: Mehr Gewaltschutz gefordert
> Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe bleibt ein Problem. Der
> Bundesbehindertenbeauftragte drängt die Regierung zu entschiedenem
> Handeln.
Bild: Legt Handlungsempfehlungen für besseren Gewaltschutz für Menschen mit B…
Berlin taz | Die Morde im Potsdamer Oberlinhaus vor gut einem Jahr waren
eine Zäsur. Eine [1][Pflegekraft tötete vier Bewohner:innen] der
Einrichtung für Menschen mit Behinderung und in der Aufarbeitung wurde
klar: Das war mehr als eine monströse Einzeltat, es gab zuvor schon
genügend Anlässe für eine Debatte über Gewalt in Einrichtungen der
Behindertenhilfe.
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, legte am
Montag nun gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte
Handlungsempfehlungen zum Gewaltschutz vor, die „der Bundesregierung unter
die Arme greifen“ sollen.
Rund 200.000 Menschen mit Behinderung leben in stationären Einrichtungen,
etwa 330.000 arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. In einem
ersten Staatenbericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
stufte der zuständige UN-Ausschuss deren [2][Lage bereits 2015 als
besorgniserregend] ein und forderte schnelle Konsequenzen aus der starken
Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderung.
## Die Dimension der Gewalt ist unbekannt
Die genauen Dimensionen der Gewalt sind unbekannt, in den
Kriminalstatistiken wird bislang nicht erfasst, ob sich gemeldete
Gewalttaten in Einrichtungen ereigneten. 2014 machte allerdings eine Studie
deutlich, dass [3][in Einrichtungen lebende Frauen mit Behinderung] in
großem Ausmaß von Demütigungen, körperlicher Gewalt und sexuellen
Übergriffen betroffen sind.
Nach den Morden im Oberlinhaus initiierte der Verein abilitywatch jüngst
ein [4][Rechercheprojekt], bei dem für die vergangenen 10 Jahre bislang 41
weitere Fälle von Gewalt mit 180 Betroffenen in 37 stationären
Einrichtungen zusammengetragen wurden. Die Ergebnisse einer von
verschiedenen Bundesministerien beauftragten breiten [5][Umfrage zu
Gewalterfahrungen von Bewohner*innen] werden erst für 2024 erwartet.
Die strukturellen Probleme, die die Gewalt in Einrichtungen begünstigen,
sind [6][indes bekannt]. Man müsse nicht auf genaue Zahlen warten, um zu
handeln, sagt auch Behindertenbeauftragter Dusel. Es sind die fehlende
Partizipation der Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten, deren hohe
Abhängigkeit von Pflege- und Betreuungskräften, der Personalmangel in den
Einrichtungen und die Abschottung vom Rest der Welt, die Übergriffe möglich
machen und oft unsichtbar bleiben lassen.
## Einrichtungen müssen Gewaltschutzkonzepte vorlegen
Tatsächlich wurden bereits im vergangenen Jahr Weichen für einen besseren
Gewaltschutz gestellt. Seit 2021 sind die Einrichtungen [7][bundesweit
gesetzlich verpflichtet,] Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln und
umzusetzen. Doch ohne Mindestanforderungen und Sanktionen bleibt die Norm
ein stumpfes Schwert. Es sei unbekannt, wie viele Träger tatsächlich
geeignete Konzepte erarbeitet haben und wie viele dieser Konzepte
wirkungsvoll umgesetzt werden, sagt Britta Schlegel, Leiterin der
Monitoringstelle für die UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen
Institut für Menschenrechte. In ihren Handlungsempfehlungen fordern
Schlegel und Dusel deshalb eine Nachschärfung des Gesetzes.
Nötig seien die Verankerung von Mindeststandards für die Konzepte und die
Einrichtung einer unabhängigen Zertifizierungsstelle. Verträge mit Trägern
von Einrichtungen dürften nur noch bei wirksamen Gewaltschutzkonzepten
abgeschlossen werden – bisher ist das nur in einzelnen Bundesländern
verbindlich geregelt. Und natürlich – das hatte der UN-Ausschuss ebenfalls
2015 angemahnt – brauche es endlich eine wirksame und unabhängige Kontrolle
der Einrichtungen in Bezug auf deren Gewaltschutz.
Für den Schutz von Bewohner*innen und Werkstattbeschäftigten sei
außerdem deren Partizipation und Empowerment nötig, heißt es in den
Handlungsempfehlungen. Das bedeutet nicht zuletzt, Menschen je nach ihren
Kommunikationsmöglichkeiten Zugang zu Informationen und Beschwerdewegen zu
ermöglichen.
Auch das kostet Zeit, Sensibilisierung und Schulung des Fachpersonals, in
vielen Einrichtungen ist ein Wandel der Hierarchien zwischen
Bewohner*innen und Pflegekräften notwendig. In den Werkstätten habe
sich da einiges getan in den letzten Jahren mit der Etablierung von
Werkstatträten, betont Dusel. In den Wohneinrichtungen bestehe aber
erheblicher Nachholbedarf.
## Kaum Interaktion der Einrichtungen nach außen
Und dann gibt es noch den Mechanismus: Was in den Einrichtungen passiert,
bleibt in den Einrichtungen. Mit den Sozialräumen um die Häuser herum gibt
es häufig kaum Interaktion, kritisiert Dusel. Etablierte Hilfesysteme wie
Beratungsstellen, Frauenhäuser, Gemeinden und auch die Polizei müssten sich
verantwortlicher fühlen und stärker eingebunden werden. Auch regelmäßige
Besuche von unabhängigen, interdisziplinären Besuchsgruppen – vergleichbar
zur stationären Psychiatrie – können gewaltbegünstigende Strukturen
aufdecken.
Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung verpflichtet,
„verbindliche Maßnahmen zur Verhinderung von Gewalt“ voranzutreiben. Viel
Zeit bleibt dafür nicht mehr: Im kommenden Jahr soll Deutschland erneut vom
UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung geprüft und
bewertet werden. „Dann muss sich die Bundesregierung rechtfertigen, ob ihre
Maßnahmen gegen Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe ausreichend
sind“, sagt Dusel.
16 May 2022
## LINKS
[1] /Prozessende-nach-Morden-im-Oberlinhaus/!5821147
[2] https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikation…
[3] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93972/9408bbd715ff80a08af55adf886aac16/…
[4] https://ableismus.de/toetet/de
[5] https://www.ifes.fau.de/referenzen/projekte/gender-gewalt-und-menschensrech…
[6] https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Forschungsbericht…
[7] https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__37a.html
## AUTOREN
Manuela Heim
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