# taz.de -- Neue Gedenktafel für „Euthanasie“-Opfer: Ein Stück Würde | |
> 378 PatientInnen der einstigen Hildesheimer Heil- und Pflegeanstalt | |
> wurden im NS-Staat „Euthanasie“-Opfer. Eine Gedenktafel nennt erstmals | |
> ihre Namen. | |
Bild: „Aktion T4“: Per Bus wurden die Menschen in Tötungsanstalten deporti… | |
Hamburg taz | Was fehlte, waren die Namen. Namen von psychisch Kranken und | |
Psychiatrisierten, die in der NS-Zeit der „[1][Euthanasie]“ – der Tötung… | |
Zuge der „Aktion T4“ – zum Opfer gefallen waren. Namen, die niemand mehr | |
nannte. Die Menschen wurden so erneut Opfer. Opfer des Vergessens. So ist | |
bis heute die Euthanasie-Beteiligung der damaligen „Alsterdorfer Anstalten“ | |
in Hamburg (heute „Evangelische Stiftung Alsterdorf“) zwar nicht für die | |
Institution insgesamt, aber doch für einzelne dort Beschäftigte ein | |
Schandfleck, über den man lieber schweigt. | |
Und das, obwohl sich dort eine [2][„Stolperschwelle]“ des Künstlers Gunter | |
Demnig und ein [3][großes Mahnmal] finden, mit Fotos und Biografien von | |
TäterInnen und Opfern. Beides initiiert vom unermüdlichen Psychologen und | |
Gedenk-Aktivisten [4][Michael Wunder,] der den Opfern ihre Würde | |
wiedergeben will. | |
Aber das Erinnern bleibt unlieb; das spürte auch Jochen Arnold, | |
Gründungsdirektor des Zentrums für Gottesdienst und Kirchenmusik im | |
einstigen Hildesheimer Michaeliskloster. In dem 1010 erbauten, 1803 | |
säkularisierten Gebäude sowie zwei weiteren Hildesheimer Klöstern | |
residierte seit 1827 die Heil- und Pflegeanstalt, die bis zu 1.000 | |
PatientInnen versorgte. | |
378 von ihnen wurden bis zum 24. 8. 1941 in den berüchtigten „Grauen | |
Bussen“ in die [5][Tötungsanstalten] im hessischen Hadamar und in | |
Brandenburg/Havel deportiert, wo sie durch Gas ermordet wurden. Das dem | |
einstigen Hildesheimer Kloster heute benachbarte Gymnasium Andreanum und | |
das Ameos-Klinikum – Nachfolgeklinik der Pflegeanstalt – haben bereits 2005 | |
Mahnmale für die „Euthanasie“-Opfer aufgestellt. | |
## Die Frage der Persönlichkeitsrechte | |
Aber es fehlten deren Namen, und das wollte Jochen Arnold ändern. Basierend | |
auf der intensiven Recherche des [6][Heimat-und Geschichtsvereins] und des | |
Hildesheimer Stadtarchivs trug er sie zusammen, alle 378. „Es wäre mir | |
schon vor 20 Jahren ein Bedürfnis gewesen, die Namen der Ermordeten zu | |
nennen, weil jeder Mensch eine persönliche Würde hat, die wesentlich mit | |
seinem Namen verbunden ist“, sagt Arnold. Dennoch sei er etwas unsicher | |
gewesen, ob eine Nennung so die Persönlichkeitsrechte der Opfer und ihrer | |
Angehörigen verletzten würde. Gedenkorte in Prag oder Jerusalem und die | |
Begegnung mit den HistorikerInnen hätten ihn dann ermutigt, „auf die Sache | |
ganz neu zuzugehen“. | |
Am 4. August dieses Jahres hat Arnold nun eine Gedenktafel mit den Namen im | |
Innenhof des einstigen Klostergebäudes enthüllt. Dazu wurden in Anwesenheit | |
einiger Angehöriger die Namen verlesen. Die Biografien der Opfer wurden | |
noch nicht recherchiert. Auch die Geburts- und Sterbedaten stehen da nicht. | |
„Da wir nicht von allen das Sterbedatum wissen – das haben die Nazis so | |
wenig dokumentiert wie die wahren Todesursachen –, wollten wir keine | |
Ungleichbehandlung“, sagt Arnold. | |
Es ist eine der letzten Amtshandlungen des Theologen und Kirchenmusikers. | |
Am 1. September wechselt er zur Evangelischen Kirche Westfalen. Aber es ist | |
wohl seine nachhaltigste Initiative. Denn die Namen der Opfer rufen eine | |
Epoche ins Bewusstsein, in der [7][etliche ÄrztInnen] die NS-Ideologie der | |
[8][Eugenik], auch der Zwangssterilisation zur „Verhinderung erbkranken | |
Nachwuchses“ feierten. | |
Wie viele außerdem der NS-Idee eines „Gnadentods“ für schwer kranke, nicht | |
arbeitsfähige Menschen frönten, ist nicht bekannt. Wohl aber, dass etliche | |
früh – und somit wohl aus Überzeugung – in die NSDAP eintraten. Auch der | |
damalige Hildesheimer Anstaltsleiter Hermann Grimme wurde schon im Mai 1931 | |
NSDAP-Mitglied, zwei Jahre vor der Machtübergabe. | |
Grimme ist eine ambivalente Figur. „Als er auf der Direktorenkonferenz im | |
Februar 1940 erfuhr, dass die PatientInnen getötet werden sollten, erlitt | |
er einen Nervenzusammenbruch“, berichtet der Psychiater Thorsten Sueße. | |
Grimme habe mehrere Eingaben verfasst, unter anderem an die Gesellschaft | |
deutscher Neurologen und Psychiater. Eine Antwort bekam er nicht. | |
Sueßes 1985 gemeinsam mit Heinrich Meyer edierte Dissertation über die | |
„Tötung psychisch Kranker aus den niedersächsischen Heil- und | |
Pflegeanstalten im Dritten Reich“ war die erste zu dem Thema. Erstmals | |
studierte Sueße die bis dato unter Verschluss gehaltenen Akten der | |
Hannoverschen NS-Prozesse von 1950, bei denen alle Verantwortlichen – | |
GutachterInnen, ÄrztInnen, Verwaltung, PflegerInnen – freigesprochen | |
wurden. | |
Dabei hatten viele aktiv zur „Euthanasie“ beigetragen: Hildesheims | |
Anstaltsleiter Grimme etwa sagte: „Der Führer tut so etwas nicht“ und | |
füllte besonders viele Patienten-Meldebögen aus. „Er redete sich ein, es | |
könne nichts Schlimmes dahinterstecken“, sagt Sueße. Das Gegenteil trat | |
ein: Bald erhielt Grimme die Aufforderung, 120 dieser Menschen zur | |
„Verlegung“ – in Wahrheit zur Deportation in die Tötungsanstalt – | |
auszuwählen. Grimme entzog sich. Er nahm Urlaub und überließ die Aufgabe | |
seinem Stellvertreter August Jacobi. | |
Der tat wie ihm geheißen – wie so viele, die in Nachhinein bloß Befehle | |
befolgt haben wollten. „Aber dieses Argument trägt nicht, sobald man | |
vergleicht, wie andere Anstalten verfuhren“, betont Sueße. „Es gab durchaus | |
Spielräume.“ | |
## Todbringende Meldebögen | |
Im niedersächsischen Ilten etwa habe sich die Belegschaft geweigert, die | |
todbringenden Meldebögen auszufüllen. Das Regime schickte daraufhin eine | |
Psychiaterkommission, um die PatientInnen zu begutachten. „Aber durch die | |
Weigerung verzögerte sich alles, sodass es nicht mehr zu Deportationen aus | |
Ilten kam“, sagt Sueße. Denn am 24. 8. 1941 stoppte das Regime nach | |
Protesten aus Bevölkerung und Kirchen die – selbst nach NS-Recht illegale – | |
„Aktion T4“ und tötete die PatientInnen fortan „unauffälliger“ durch | |
Nahrungsentzug und Giftinjektionen. | |
Erheblichen Widerstand gegen die Krankenmorde leistete auch der Göttinger | |
Anstaltsleiter Gottfried Ewald. „Er hatte eine Generalklausel erwirkt, der | |
zufolge man Menschen aus ‚sonstigen zwingenden Gründen‘ zurückstellen | |
konnte“, sagt Sueße. „Er hat das stark genutzt, hat Diagnosen zugunsten der | |
PatientInnen gefälscht, sie auf dem Papier gesünder gemacht und | |
Schwerstkranke vor der Kommission versteckt. Er bat Angehörige, ihre | |
Verwandten rechtzeitig abzuholen.“ Sanktionen seitens des NS-Regimes erlitt | |
Ewald nicht. | |
## Räumung zugunsten einer SS-Führerschule | |
In Lüneburg dagegen war man besonders eifrig: Unter Anstaltsdirektor Max | |
Bräuner und dem Kinderarzt Willi Baumert, dem „Herodes von Lüneburg“, gab | |
es exzessive Kindstötungen. Zudem rückte das Regime bisweilen bedrückend | |
nah: Das Michaeliskloster musste 1943 zugunsten einer SS-Führerschule | |
namens „Haus Germanien“ geräumt werden. Dort wurden als „germanisch“ | |
geltende Freiwillige der Waffen-SS aus Norwegen, Schweden, den Niederlanden | |
und Belgien in NS-Ideologie geschult. | |
Der heutige Hildesheimer Institutsdirektor Arnold erwähnt auch das bei | |
seinen Hausführungen. Diese Phase solle nicht verschwiegen werden. „Eine | |
Informationstafel gibt es dazu noch nicht“, sagt er. Aber ein QR-Code, der | |
auch auf weitere Gedenkorte in Hildesheim verweist, enthüllt weiterführende | |
Informationen. | |
27 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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