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# taz.de -- Euthanasie in der NS-Zeit in Hamburg: Töten statt heilen
> Da es kein Euthanasiegesetz gab, agierten NS-ÄrztInnen im rechtsfreien
> Raum. In gleich zwei Hamburger Kliniken töteten sie 200 behinderte
> Kinder.
Bild: Haben überlebt: Zwillinge 1941 im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort
Hamburg taz | Der Druck auf die Eltern war enorm: „Sie müssen das Kind ins
Krankenhaus geben, das ist nicht tragbar.“ Immer wieder suchten in der
NS-Zeit Stadtteil-Krankenschwestern auch in Hamburg die Eltern behinderter
Babys und Kleinkinder auf. Sie wollten befördern, was nicht erst die
Nationalsozialisten erfunden hatten: die schon 1920 vom Strafrechtler Karl
Binding und dem Psychiater Alfred Hoche in einer Broschüre propagierte
„Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“.
Auch das NS-Regime trachtete nach der „Reinigung“ eines gedachten Genpools
durch „Euthanasie“. Sie wollten weniger leistungsfähige Menschen –
Kostenfaktoren – loswerden. Oder, zynisch, die Kinder „von sich selbst
erlösen“.
Für den „Gnadentod“ habe es, sagt Medizinhistoriker Thomas Beddies von der
Berliner Charité, 1939 in Leipzig einen „Sündenfall“ gegeben, als Eltern
Ärzte dazu brachten, ihr behindertes Kind „einzuschläfern“. Populär sei …
etwas aber nicht gewesen, sagt Beddies. Daher war der Erlass, der Hebammen
verpflichtete, behinderte Kinder für das „Reichsausschussverfahren zur
wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“
zu melden, geheim. Überhaupt habe es nie ein „Euthanasiegesetz“ gegeben,
sondern nur eine „Ermächtigung“ Hitlers, die keine hinreichende
Rechtsgrundlage bildete. Da aber niemand prüfte, agierten ÄrztInnen im
verantwortungsfreien Raum.
Offizielles Ziel war herauszufinden, ob eine Behinderung erblich war und
man das Kind töten solle, damit das Gen verschwand. Auch die Frage, ob man
der Mutter zu weiteren Kindern raten solle, spielte hinein.
## Gleich zwei Kliniken im „Mustergau“ Hamburg
In diese Richtung lief auch das „Aufklärungsgespräch“ der ÄrztInnen mit …
Eltern. Im „Mustergau“ Hamburg geschah das in gleich zwei
„Kinderfachabteilungen“: in der vom Senat geförderten Heil- und
Pflegeanstalt [1][Langenhorn,] der Friedrich Knigge vorstand, sowie im
privaten Kinderkrankenhaus [2][Rothenburgsort,] geleitet von Wilhelm Bayer.
„Er wollte Karriere machen und hat die Nähe zur Berliner NS-Medizin
gesucht“, sagt Psychiater Marc Burlon von der Psychiatrischen Klinik
Lüneburg, der über „Euthanasie an Kindern während des Nationalsozialismus
in den zwei Hamburger Kinderfachabteilungen“ promovierte. „Bayer war auch
einer der ersten, die bei der offiziellen Einführung in die
Kinder-Euthanasie dabei waren.“
In diesen „Fortbildungen“ lernten ÄrztInnen, den Eltern eine Heilmethode
vorzugaukeln, die aber zu 95 Prozent tödlich sei. Trotzdem haben wohl
etliche an die Heilung geglaubt. „Wir haben viele Briefe, in denen sich
Eltern bitter beschweren, weil ihr Kind tot ist“, sagt Beddies.
Vielen dieser Kinder wurde eine Überdosis Luminal gespritzt, die
Lungenentzündung hervorrief. „Die Kinder starben nie leidensfrei. Sie
erstickten“, sagt Burlon. Eine Krankenschwester habe später ausgesagt: „Sie
liefen blau an und nasenflügelten.“
Dabei war die „Forschung“ mit dem Tod der Kinder nicht zu Ende: ÄrztInnen
entnahmen den Toten oft sofort die Gehirne. „Da war durchaus echtes
Forschungsinteresse“, sagt Beddies. Die Deutschen seien bei Hirnforschung
und Eugenik damals international führend gewesen. Die Grausamkeit auf die
Spitze getrieben und die „Probanden“ getötet habe man aber nur in
Deutschland.
## Gehirnpräparate erst 2012 bestattet
Von 78 in Hamburg-Langenhorn gestorbenen Kindern etwa wurden 20 gezielt
getötet. Ihre Gehirnpräparate hat Burlon im Zuge seiner Dissertation im
Universitätskrankenhaus Eppendorf gefunden. 2012 wurden fünf von ihnen,
denen man Namen zuordnen konnte, offiziell [3][auf dem Ohlsdorfer Friedhof
bestattet].
Im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort starben zwischen 1940 und 1945
mindestens 126 Säuglinge und Kleinkinder. Für 36 von ihnen, die
nachweislich umgebracht wurden, liegen Stolpersteine vor dem alten Eingang.
„Bei einigen Kindern kann man nicht mehr feststellen, ob sie gezielt
getötet wurden. Viele Akten sind verbrannt“, sagt Burlon. „Allerdings
können wir aus den gerichtlichen Aussagen der Eltern, Krankenschwestern und
Ärzte ein System rekonstruieren, dass ein Ziel hatte: das Ermorden der
Kinder“.
Als der heute in Rothenburgsort lebende Regisseur Dirk Schattner davon
erfuhr, war über diese Praxis er so schockiert, dass er gemeinsam mit dem
Komponisten Mario Stock das Musical „Anna und das Kinderkrankenhaus
Rothenburgsort“ verfasste und 2018 uraufführte. „Die Fakten stimmten, aber
reale Biografien habe ich nicht verwendet“, sagt er. „Es waren abgerissene,
gestohlene Leben, und ich hätte viel dazu erfinden müssen. Da sich die
Ärzte schon an den Kindern vergriffen hatten, wollte ich es nicht noch
einmal tun.“ Mehrfach ist das Musical seither aufgeführt und von
SchülerInnen nachgespielt worden.
SchülerInnen waren es auch, die 2019 eine temporäre Installation mit
Kinderkrankenbett vor das einstige Krankenhaus Rothenburgsort brachten. Die
Installation, die heute vor der nahen Thomaskirche steht, zeigt auch
Silhouetten von Krankenschwestern. Wie viel sie wussten? „Auch wenn nur die
Stationsärztin zusammen mit der Stationsschwester tötete – gewusst haben es
wohl alle“, sagt der Celler Journalist Andreas Babel, der gerade an der
dritten Auflage seines Buchs „Kindermord im Krankenhaus: Warum Mediziner
während des Nationalsozialismus in Rothenburgsort behinderte Kinder
töteten“ arbeitet. „Geweigert und wegbeworben haben sich meines Wissens
aber nur ganz wenige Ärztinnen.“
## Ärztin deckte kommunistischen Widerstand
Geblieben ist auch Gerda Friedrich. Als Ärztin in Ausbildung arbeitete sie
von März bis Mitte Mai 1944 in Rothenburgsort. „Täterin war sie mit
Sicherheit nicht, sonst hätte sie in den Prozessen mal jemand belastet“,
sagt Babel. „Aber von den Tötungen gewusst hat sie bestimmt.“
Nun könnte man vermuten, dass Gerda Friedrich die Kindermorde guthieß, war
sie doch 1940 der NSDAP beigetreten. Allerdings geschah das wohl, um die
Aktivitäten ihres Verlobten, des 1944 im KZ Fuhlsbüttel ermordeten Kurt
Friedrich, im kommunistischen Widerstand zu decken. Gerda Friedrich
heiratete ihn posthum, arbeitete in den 1950ern in der Geesthachter
Heilstätte Edmundsthal und stand bis 1966 als Ärztin im Hamburgs
Adressbuch. „Danach verliert sich ihre Spur“, sagt Babel, der gern mehr
über Gerda Friedrich wüsste. Ambivalent war sie zweifellos, kann man doch
fragen, wie sich diese Mitwisserschaft mit ihrem Widerstandsethos vertrug.
Allerdings hat auch niemand sonst die Kindermorde angezeigt. Und bei den
Nürnberger Nachkriegsprozessen der Alliierten sagten die ÄrztInnen, dies
sei eine „innerdeutsche Angelegenheit“. Außerdem hätten sie damals kein
Unrechtsbewusstsein gehabt.
Claas-Hinrich Lammers, Ärztlicher Direktor der heutigen Asklepios-Klinik in
Langenhorn, versteht das nicht. „Es ist unvorstellbar, dass vor 80 Jahren
Menschen hier ebenso wie heute Schutz, Pflege und Therapie suchten und
stattdessen in den Tod geschickt wurden – durch aktives Zutun oder
zumindest passives Zulassen der damaligen Verantwortlichen.“ Deshalb gibt
es dort Stolpersteine, eine Gedenktafel, mehrere Informationsstelen sowie
regelmäßige Gedenkfeiern.
## Mühsames Gedenken in Rothenburgsort
In Rothenburgsort ist das anders. Äußerst reserviert reagiert Ansgar
Ferner, Leiter des heutigen Instituts für Hygiene und Umwelt, auf Fragen
nach der Euthanasie-Vergangenheit des Ortes. Das Gedenken hat er ganz einer
Privatinitiative um Stolperstein-Aktivistin Hildegard Thevs überlassen. Die
ehemalige Lehrerin kämpft seit Jahren für einen zusätzlichen Gedenkort vor
dem einstigen Kinderkrankenhaus.
Allerdings hat Hamburgs Senat das Gebäude 2006 an den privaten Investor
Deutsche Immobilien Chancen (DIC) verkauft. Insidern zufolge verbietet der
Kaufvertrag weitere Gedenkorte auf dem Gelände. Ein DIC-Sprecher will das
weder bestätigen noch dementieren, sagt aber, der Geschichte werde bereits
„sichtbar und würdig gedacht“. Da das Gebäude unter Denkmalschutz stehe,
seien zudem „beim Umgang mit Vorschlägen für die Schaffung zusätzlicher
Erinnerungsorte auf dem Grundstück praktische Erfordernisse einzubeziehen“.
Klartext: Es ist nicht erwünscht. Bleibt das kleine öffentliche Rasenstück
zwischen Trottoir und Straße vor dem alten Eingang. Die Machbarkeitsprüfung
verlief positiv. Jetzt kann der zuständige City-Ausschuss beim Bezirk die
Finanzierung beantragen.
7 Feb 2021
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## AUTOREN
Petra Schellen
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