# taz.de -- „Euthanasie“ und ihr Erbe: Späte Ehrung für die Opfer | |
> Belangt wurden sie nie: In Hamburg-Rothenburgsort wird nun an die Kinder | |
> erinnert, die von Nazi-Ärzt:innen ermordet wurden. | |
Bild: Am Ort des Schattens: Hildegard Thevs (l.) und Oboistin Katharina Apel-Sc… | |
Hamburg taz | [1][Durch den Lärm] dringt eine Melodie, gespielt von einer | |
einzelnen Oboe: „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“. Der Text des Liedes | |
erzählt davon, dass Gott alle Kinder kenne und liebe, sei ihre Zahl noch so | |
groß. Wer nah genug herangekommen ist an das sanierte Backsteingebäude, | |
hört auch die Stimmen, die allmählich einsteigen, mitsummen, eher, als dass | |
sie singen: Auf einem schmalen Stück Rasen und dem Gehweg haben sich | |
Menschen versammelt, auch viele ältere; so viele, dass nicht alle sitzen | |
können. | |
Hamburg-Rothenburgsort, das ist auf dem Stadtplan keine schlechte Lage, | |
nicht weit vom Hauptbahnhof und der Hafencity. Im Zweiten Weltkrieg quasi | |
ausgelöscht, danach maximal zweckdienlich wieder aufgebaut und heute | |
sichtlich in Umwälzung: Zum Verkehrs- kommt hier an der Marckmannstraße | |
noch reichlich Baulärm, rundherum wird saniert, nachverdichtet, auch | |
Nachkriegs-Rotklinker abgerissen und ersetzt. | |
Das Hamburger Hygiene-Institut steht hier schon länger, als der „Hamburger | |
Feuersturm“ zurückliegt, jene [2][alliierten Bombenangriffe im Jahr 1943] – | |
zumindest das Gebäude: Ein Kinderkrankenhaus war es zwischen 1898 und 1982. | |
Ein Kinderkrankenhaus aber, hier im hafenarbeitergeprägten, armen | |
Rothenburgsort, das klingt nach Umsicht, nach Fürsorge, nach Sorge um die | |
Schwächsten. | |
Was kaum weiter entfernt sein könnte von dem Anlass, der an diesem | |
Dienstagmittag die [3][Oboistin Katharina Apel-Scholl] hierhergeführt hat, | |
die Summenden und dazu [4][allerlei Vertreter:innen des Bezirks | |
Hamburg-Mitte, Hamburgs Gesundheitssenatorin und die | |
Bürgerschaftspräsidentin]: Ein Gedenkort war einzuweihen, Kindern gewidmet, | |
die hier im „Dritten Reich“ gezielt ermordet wurden von hochrangigen | |
deutschen Mediziner:innen. | |
## Mindestens 126 Kinder ermordet | |
„Mindestens 126 Kinder“ seien hier, in der einstigen „Kinderfachabteilung… | |
zu Tode gekommen, so formulierte es im Juni 2021 ein gemeinsamer Antrag von | |
SPD, CDU, FDP, Grünen und Linken in der Bezirksversammlung. | |
Fraktionsübergreifend wurde darin [5][ein „dauerhafter Lern- und Gedenkort“ | |
gefordert]; im Antragstext selbst ist dann präziser von Mord die Rede. | |
Lange Jahre verhinderte die Eigentümerin des Objekts so ein Gedenken. | |
Es kursiert auch die Zahl 127: So viele Namen von Opfern habe Hildegard | |
Thevs rekonstruieren können, [6][war noch etwas früher] in der Presse zu | |
lesen; seit Jahrzehnten inzwischen engagiert sich die frühere Lehrerin für | |
das Gedenken im Stadtteil. Die Zahl indes hat ihre Tücken: Jetzt warnte | |
Thevs geradezu davor, sie einfach in Umlauf zu bringen – nicht bei allen | |
ist klar, ob sie wirklich hier ermordet wurden. | |
2011 bereits wurden Stolpersteine vor dem Gebäude verlegt, für | |
Inssass:innen sowie für Carl Stamm, den 1933 vertriebenen jüdischen | |
Direktor. Die Leitung des Krankenhauses übernahm mit Wilhelm Bayer ein | |
überzeugter Nationalsozialist. Nach dem Krieg, 1946, hatte er keine | |
Bedenken, so zu reden: „Was das angebliche Verbrechen gegen die | |
Menschlichkeit anbelangt, so muss ich das deshalb ablehnen, da ein solches | |
Verbrechen nur gegen Menschen begangen werden kann. Und die Lebewesen, die | |
hier zur Behandlung standen, sind nicht als Menschen zu bezeichnen.“ | |
In den Augen längst nicht nur Bayers, der nie belangt wurde, wird es eine | |
noble Aufgabe gewesen sein, den Volkskörper zu entlasten von solchen | |
hilfsbedürftigen „Lebewesen“: Behinderte, chronisch Kranke, manchmal wohl | |
schlicht Kinder aus sozial randständigen Familien. Dass die, die in | |
Rothenburgsort wirkten, später vielfach weiter praktizierten, manche davon | |
in der jungen Bundesrepublik Karriere machten – auch daran erinnerten am | |
Dienstag Redner:innen. | |
## Redner ziehen Linien ins Heute | |
[7][Hamburgs Ärztekammerpräsident] Pedram Emami bekannte sich zu | |
vergangener Schuld, zog aber auch am deutlichsten Parallelen zur Gegenwart | |
in Gestalt der AfD, ohne die beim Namen zu nennen. [8][Der Psychologe | |
Michael Wunder], der die Erforschung der „Euthanasie“ in Hamburg wesentlich | |
vorangebracht hat, erinnerte an manche heutige Sterbehilfe-Diskussion. | |
Schüler:innen der [9][Stadtteilschule Bergedorf] verlasen die 127 | |
Opfer-Namen – der Draht zu diesem nicht direkt benachbarten Hamburger | |
Stadtteil ergibt sich über zwei Lehrer, einer ehemals dort tätig: Dirk | |
Schattner hatte vor Jahren ein Musical über die Kindermorde konzipiert. | |
Daraus trugen nun zwei ehemalige Bergedorfer Schüler:innen ein Lied vor. | |
Bleibender als diese eindrucksvolle Form des Erinnerns ist, was nun vor dem | |
Gebäude, hin zur trubeligen Marckmannstraße steht: Auf Stelen sind wiederum | |
die sacht umstrittenen 127 Namen zu lesen, dazu hat der Künstler Wolfgang | |
Wiedey stark abstrahiert eine Szene aus dem Krankenhausbetrieb | |
nachgebildet: eine Frau in Schwesterntracht an einem Gitterbett für | |
Kleinkinder. „Wo Schatten ist“, auch das sagte Thevs in ihrer Rede, „ist | |
auch Licht. Dieses Licht werfen wir alle, die wir hier versammelt sind.“ | |
27 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Strassenlaerm/!t5300057 | |
[2] /80-Jahre-Operation-Gomorrha/!5946144 | |
[3] https://ahoi-oboentrio.de/ | |
[4] https://www.hamburg.de/politik-und-verwaltung/bezirke/mitte/aktuelles/press… | |
[5] https://bv-hh.de/hamburg-mitte/documents/errichtung-eines-dauerhaften-lern-… | |
[6] https://www.cz.de/der-norden/rothenburgsort-gedenkt-der-ns-opfer-D6C5AC3DB4… | |
[7] https://www.aerztekammer-hamburg.org/vorstand.html | |
[8] /Archiv-Suche/!1866317/ | |
[9] https://sts-bergedorf.de/schulleben/01/2023/michael-heine/ | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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