# taz.de -- 80 Jahre „Operation Gomorrha“: Trümmer für die Zukunft | |
> In Hamburg jährt sich zum 80. Mal die britisch-amerikanische | |
> Luftoffensive „Operation Gomorrha“ mit 37.000 Toten. Endet die Erinnerung | |
> mit den letzten Zeitzeuginnen*? | |
Bild: Mittelstraße 89 Hamburg | |
Drei hölzerne Karteikästen stehen in einem Regal im [1][Stadtteilarchiv | |
Hamm], darin ein Schatz, in dem sich Hunderte, Tausende Geschichten | |
verbergen. Solche des Leids, diese vor allem. Die Objekte bergen die Namen | |
von Zeitzeugen. Sie haben den Hamburger „Feuersturm“ von 1943 überlebt. | |
„Für uns ist das das zentrale Thema“, sagt Stadtteilarchivar Gunnar Wulf. | |
„Wir waren hier in Hamm im Zentrum des Feuersturms.“ | |
Das Wort ist für Betroffene und ihre unmittelbaren Angehörigen, ihre Kinder | |
und Enkel, eine biografisch entscheidende Vokabel: Es bezeichnet vor allem | |
die Luftangriffe der britischen Royal Air Force auf die Stadtteile Hamburgs | |
mit der höchsten Bevölkerungsdichte, zirka 37.000 Menschen sind in den | |
Nächten und Tagen vom 24. Juli bis 3. August 1943 ums Leben gekommen. | |
Strittig ist historisch, ob die britischen Bomber in diesem Areal bei für | |
sie perfekten Wetterbedingungen auch rüstungszuliefernde Kleinbetriebe | |
auslöschen wollten. Oder mit ihrer „Operation Gomorrha“, wie sie ihre | |
Kriegsaktionen nannten, einzig biblisch anmutende Rache nehmen, Vergeltung | |
üben wollten für die Luftkriege des nationalsozialistischen Deutschlands | |
auf London und Coventry – mit einem demoralisierenden Bombardement der dort | |
noch lebenden Bewohner, alte Männer, Frauen, Kinder. Wahr bleibt, dass bei | |
den letzten halbwegs legalen Reichstagswahlen im März 1933 ausgerechnet in | |
dieser Gegend die NSDAP vergleichsweise geringen Zuspruch erhielt, KPD und | |
SPD dafür umso mehr. | |
Mit blauem Kuli auf hellblauen Kärtchen jeweils notiert sind in den fast | |
abseitig gestellten Adresskästen Geburtsdatum, die alte Straße im 1943 | |
ausgebombten, ausradierten Hammerbrook und Hamm, die alte Schule, | |
Festnetznummern, sowie erste Hinweise, wo diese Person den sogenannten | |
„Feuersturm“ überlebte. Oder dass sie ein Zusammentreffen mit früheren | |
Nachbarn ihrer Straße wünscht. Oder wie ihr Lehrer in der Schule hieß. | |
Seit 1987 gibt es dieses Stadtteilarchiv, das es sich zur Aufgabe macht, | |
die Geschichte jenes Viertels aufzuarbeiten. Es war mit 90.000 Menschen mal | |
dicht bewohnt, geteilt in zwei Hälften – „Oben-Hamm“, in der die | |
Bürgerlichen lebten – und das auch topografisch tiefer gelegene | |
„Unten-Hamm“, wo die weniger Feinen wohnten, Arbeiter und Arbeiterinnen, | |
Kleingewerbetreibende. | |
Noch heute bildet die vielbefahrene Hammer Landstraße eine Art unsichtbare | |
Grenze durch den Stadtteil, die Kulturschaffende mit Aktionen wie dem im | |
August beginnenden „Hammer Sommerfestival“ zu überbrücken versuchen. Da | |
nach dem Krieg, um die Wohnungsnot zu beheben, vor allem viele kleine | |
Wohnungen gebaut wurden, ist der ganze Stadtteil heute weniger wohlhabend. | |
Heute leben in Hamm, im bürgerlichen hoch gelegenen wie im kleinbürgerlich | |
unteren Teil nur noch rund 38.000 Menschen, davon viele Singles, denn | |
Familien ziehen oft weg, wenn das zweite Kind kommt, weil der Platz nicht | |
reicht. | |
Das Stadtteilarchiv ist Ausgangspunkt unserer Hamm-Erkundung mit dem Rad, | |
das Gedächtnis dieser Gegend, die so gar nicht schön aussieht wie andere | |
Hamburger In-Quartiere, etwa das Schanzenviertel. Die Adresse führt zu | |
einem modernen Kulturzentrum an der großen Straßenkreuzung Sievekingdamm | |
und Hammer Landstraße. Per Fußgängerrampe ist es über eine Art Hochplateau, | |
Platz der Kinderrechte genannt, erreichbar. Fern vom Autolärm bietet das | |
Zentrum auch Platz für ein Straßencafé mit jungen Bäumen, sichtbar wird es | |
von der Bevölkerung angenommen. | |
## Vorleben und Verbindungen eines Stadtteils | |
Die Karteikästen im Archiv sagen viel über das Vorleben dieses Stadtteils. | |
In ihnen Spuren einer Erinnerungsorganisation, die mal wie eine | |
Facebook-Gruppe funktionierte, ein Kontaktstiftungsinstrument: „Wir | |
benutzen die Karteikarten aber kaum noch. Viele Menschen sind auch schon | |
gestorben“, sagt Gunnar Wulf, der in dieser Gegend Kind war und über eine | |
ABM-Maßnahme zu seinem Job kam – er ist seit Anfang an dabei. Früher wurden | |
mit Hilfe der Adressen auch Verbindungen hergestellt, von ehemaligen | |
Bewohnern, die ihre Freunde und Nachbarn suchten. | |
In dem Regal steht auch eine aus den Trümmern geborgene alte | |
Schreibmaschine und ein aus Papier nachgebautes Modell der Villa | |
Ohlendorff. Denn Hamm-Oben war einmal Treffpunkt der Reichen und Wichtigen | |
– lange vor dem heute prominenten Blankenese an der Elbe. Hier hatten | |
einflussreiche Hamburger Kaufleute und Reeder ihre Sommersitze. | |
Wer erkunden will, wie diese Welt mal aussah, muss sich zum großen Tisch in | |
der Mitte des Stadtteilarchivs nur umdrehen. Dort sind in eng aneinander | |
gestellten Kästen über 43.000 Fotos nach Straßennamen sortiert, | |
Lichtbilder, die die Menschen im Lauf der Jahre vorbeibrachten. Alle in | |
Schwarz-Weiß. Teils wunderschöne Jugendstil- und Gründerzeitfassaden, die | |
ans heutige Wien erinnern, interessante Läden, alte Straßenbahnen, große | |
Kindergruppen, die auf der Straße spielen. Auch für die Nachbarstadtteile | |
wie Rothenburgsort, Borgfelde und Hammerbrook sind hier Bilder zu finden. | |
Es kommen auch heute noch Menschen vorbei und suchen danach, aber es sind | |
nur noch wenige, manchmal aber auch die Kinder der ums Leben Gekommenen. | |
Sie wollen dann sehen, [2][wie die Straße aussah, wo ihre Eltern mal | |
lebten.] Ob es von dem Haus oder dem Laden noch ein Foto gibt? Es ist sogar | |
möglich, über ein altes Straßenregister – das in der Hamburger | |
Staatsbibliothek einsehbar ist –, nachzuschauen, wer damals unter welcher | |
Hausnummer wohnte. „Wir müssen immer aufpassen“, sagt Stadtteilarchivar | |
Wulf. „Die Leute klauen sonst einfach die Bilder.“ Wer eines haben möchte, | |
könne es bestellen. „Ein Abzug drei Euro.“ | |
In der Mitte des großen Tisches liegen Bücher, auch sie kann man erwerben. | |
Darunter das Heft „Die längste Nacht“ mit den Berichten von zwölf | |
Zeitzeugen zum Hamburger „Feuersturm“, 2013 wurde sie zum 70. Jahrestag | |
erstellt. Die erste Angriffswelle in der Nacht zum 25. Juli 1943 galt | |
zunächst anderen Stadtteilen in Hamburgs Westen und traf nur vereinzelt | |
Häuser in Hamm, weil die Bomber nicht genau zielten. Meteorologisch | |
herrschte „perfektes“ Angriffswetter: viele Tage lang wolkenloser Himmel. | |
## Unsagbares Glück im Unglück | |
„Mancher hat durch dieses Unglück unsagbares Glück“, heißt es in dem Hef… | |
Herr M. zum Beispiel wurde in dieser Nacht „ausgebombt“, während die | |
Bewohner im Keller ausharrten, die elterliche Wohnung zerstört. Der damals | |
15-jährige lieh sich ein Rad und flüchtete zu seinen Großeltern an den | |
Stadtrand. „Uns wäre der Verlust der Wohnung leichter gefallen, wenn wir | |
geahnt hätten, dass dadurch unser Leben gerettet worden ist“, schrieb er | |
später. „In der nächsten Angriffsnacht ging Hammerbrook im Feuersturm unter | |
und wir hätten noch im Zentrum des Glutofens gewohnt.“ Von den Bewohnern | |
seiner Nachbarhäuser habe keiner überlebt. | |
Ihre Rede handelt von der Nacht vom 27. zum 28. Juli 1943. Die ersten | |
Flieger warfen Bomben, die die Dächer der Häuser wegsprengten. Dann folgten | |
Phosphor- und Brandbomben, die die meist aus Holz gebauten Treppenhäuser | |
entzündeten. Zeitzeugin Frau S. berichtet, wie sie diese überlebte: „Mutter | |
und ich rasten den Grevenweg rechts runter zum Gesundbrunnen am Sportplatz, | |
dort war ein öffentlicher Luftschutzkeller. Wohin die anderen sich gewandt | |
hatten, weiß ich nicht.“ | |
## Luftschutzkeller wurden zur Todesfalle | |
Dort angekommen, sei es schon sehr voll gewesen. „Wir hätten im Stehen | |
sterben können, so eng war es“, erzählt die Zeitzeugin. Für Tausende | |
Hamburger seien diese Luftschutzkeller zur Todesfalle geworden, denn die | |
boten Schutz vor Einsturz, aber nicht vor glutheißen Flammen. Andere | |
suchten Freiflächen in einem Park oder auf einem Sportplatz. | |
Wieder andere flüchteten ins Wasser. Dem damals sechsjährigen Wolf | |
Biermann, später der berühmte Dichter und Sänger in der DDR, der damals in | |
Hammerbrook Kind war – und seit Langem wieder in Hamburg lebt –, wurde | |
zusammen mit seiner Mutter ein Kanal zur Rettung. | |
Überlebt haben viele, die einen Platz in einem der Bunker fanden, für die | |
es aber nicht genug Kapazitäten gab. 10.000 Plätze für 90.000 Einwohner. | |
Juden und Zwangsarbeiter mussten draußen bleiben. Das Stadtteilarchiv hat | |
einen solchen Bunker am Wichernweg trockengelegt und restauriert. | |
Gunnar Wulf macht hier seit Jahren Führungen, jüngst erst für eine Gruppe | |
junger Kriminalbeamter. Er sagt Sätze, wie, dass dieser Bunker auch zeige, | |
dass „nie wieder Krieg“ sein dürfe. Drei Worte, die in Deutschland bis zum | |
russischen Krieg gegen die Ukraine Common Sense waren. | |
Wir fahren mit dem Rad vom Stadtteilarchiv am Sievekingdamm über den | |
Thörls-Park, wo eine nachgebaute „Trümmerbank“ steht. Ein Kunstwerk, das … | |
die Kleinbahn erinnert, die hier in den fünfziger Jahren bergeweise Schutt | |
abtransportierte, hin zum neun Kilometer entfernten Stadtrand, wo durch | |
Trümmerhügel der spätere Öjendorfer Park entstand. | |
Auf der Bank ruhen sich zwei junge Männer aus, eingewandert aus Iran, die | |
in der nahegelegenen Berufsschule eine Umschulung machen. Sie haben die | |
daneben stehende Erklärtafel nicht gelesen und von „Gomorrha“ noch nie | |
gehört: „Aber man darf hier sitzen?“ Selbstverständlich. So ist es ja | |
gedacht: Kunst aus Bombentrümmern, die zur alltäglichen Benutzung einlädt. | |
Dann ein Stopp im Cafe May am Hammer Park, wo draußen am Tisch bei Quiche | |
und Cola eine angenehme Straßencaféatmosphäre herrscht: ein | |
[3][Nachbarschaftstreff,] der übliche Multikultimenschenmix, alles | |
friedlich. An der Hammer Kirche fotografieren wir das dortige Mahnmal, das | |
daran erinnert, dass von deutschem Boden aus von 1933 bis 1945 „Gewalt und | |
Terror, Mord und Vernichtung“ in die Welt der Völker getragen wurden. Und | |
wo es heißt: „Am Ende schlugen Gewalt und Zerstörung auf deutschen Boden | |
zurück“. | |
## Breites Wissen früher über die Luftangriffe | |
Fast niemand, der in Hamburg bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts | |
aufgewachsen ist, weiß nicht von diesen Luftangriffen, sie gehören zur | |
hanseatischen Nach-NS-Zeit-Erinnerungsgeschichte, jüngst erst titelte das | |
Hamburger Abendblatt, tonangebende Zeitung der Stadt, auf ihrer Seite 1 | |
„Als der Tod vom Himmel fiel“. | |
Im Gegensatz etwa zu Dresden, wo kurz vor dem alliierten Sieg über den | |
deutschen Nationalsozialismus mit Luftangriffen auch Tausende Menschen ihre | |
Leben ließen, hat es aber in Hamburg später „keine dezidiert antibritische | |
Stimmung gegeben“, wie der Historiker Helmut Stubbe da Luz sagt, der die | |
Ausstellung zum 80. Jahrestag der „Operation Gomorrha“ kuratierte. „Das m… | |
auch dran gelegen haben, dass die Briten als Besatzungsmacht nicht die | |
Schlechtesten waren.“ | |
## Historisches Wissen und Fühlen verblasst | |
Es scheint zudem, als ob es an Alster, Elbe und Bille bei vielen eine Art | |
vorbewusstes Wissen gab, dass das alles eben Teil des fürchterlichen, vom | |
NS-Deutschland begonnenen Krieges war. Man schien zu wissen, dass der | |
Schmerz ob der Getöteten eine selbstverschuldete Vorgeschichte hatte. Das | |
historische Wissen und Fühlen verblasst indes. | |
Als kürzlich mal wieder in Hamburg bei Bauarbeiten im Schanzenviertel eine | |
Fliegerbombe entdeckt wurde, musste das halbe Viertel für etliche Stunden | |
evakuiert werden – und bei spontanen Umfragen bei den Flüchtenden wussten | |
die meisten nicht zu sagen, woher diese „Blindgänger“ stammten, nämlich a… | |
dem Zweiten Weltkrieg. | |
Im Hamm benachbarten Stadtteil Rothenburgsort ist es nur die ansonsten | |
randständige CDU, die regelmäßig an einem dort aufgestellten Gedenkort an | |
diese „Operation Gomorrha“ erinnert. Ob das Gedenken je aus rechten | |
Gedankenwelten entspringt, wollen wir von Gunnar Wulf wissen. „Manchmal | |
musste ich mir im Bunker paar Sachen anhören. Ich habe dann mit den Älteren | |
auch diskutiert“, sagt er. | |
## Senat hält sich zurück mit Erinnerungspolitik | |
Wulf weist dann immer darauf hin, dass die Deutschen angefangen hatten, in | |
London gezielt Wohnbevölkerung zu bombardieren. Der Hamburger Senat hält | |
sich seit Längerem mit direkten erinnerungspolitischen Initiativen zurück, | |
die Ereignisse im Sommer 1943 erfassen die Gefühle einer ganzen Stadt nicht | |
mehr, keine Gedenkveranstaltungen wie einst auf dem Friedhof Ohlsdorf mit | |
Zehntausenden Menschen. | |
Die meisten der früheren Bewohner aus Hamm oder Hammerbrook leben nicht | |
mehr. SPD-Kultursenator Carsten Brosda hat immerhin eine, wenngleich wenig | |
ertragreiche, Universitätstagung zum Thema beschirmherrt. Und die am | |
Stadtrand gelegene Universität der Bundeswehr zeigt eine überaus | |
instruktive, vom Historiker Helmut Stubbe da Luz [4][kuratierte | |
Ausstellung] zu „Hamburgs Gomorrha 1943 und die Folgen“ – sie wird gut | |
besucht, Alte und etwas Jüngere, einige Schulklassen. | |
Wer heutzutage wenigstens eine Art Vorstellung von der „Ausbombung“ (der | |
Begriff der Nachkriegszeit unter Überlebenden) sich ausmalen möchte, stelle | |
sich, etwa bei einer Bahnfahrt von Berlin nach Hamburg oder, aus dem Süden | |
kommend, über die Elbbrücken eingereist, jeweils rechts der letzten zwei | |
bis vier Kilometer engste Bebauung mit einigem Gewerbeanteil vor – | |
vergleichbar mit dem Berliner Neukölln. | |
Unten-Hamm, Rothenburgsort und Hammerbrook, das waren proletarische Viertel | |
im Aufstieg: mit Wohnungen, die lichter und trockener waren als die | |
vorsätzlich zugunsten der Hafenökonomie abgewrackten Quartiere in | |
direkterer Elbnähe. | |
## Fläche des vieltausendfachen Todes | |
Geblieben ist davon so gut wie nichts, wiederaufgebaut werden sollten die | |
Quartiere auch nicht, dafür kamen Kleinhöker, Ramschbetriebe, hier und da | |
ein Puff, wenige Kneipen. Die Stadtentwicklungsbehörden wiesen die Gegend | |
als Industriegebiet aus, eine No-Go-Area für ängstliche Menschen, faktisch | |
ja auch eine Fläche des vieltausendfachen Todes. | |
Die Gegend war in den fast zwei Jahren bis zur NS-Kapitulation ein | |
Sperrgebiet, umzäunt. „Eine zügige Bergung der allein auf dieser relativ | |
kleinen Fläche angefallenen Leichen schien unmöglich“, schreibt das | |
Stadtteilarchiv. Hammerbrook und Unten-Hamm: fürs erste und lange Zeit | |
aufgegeben. | |
Ein harter Kern von etwa 25 Ehrenamtlichen hat daran gearbeitet, die | |
Erinnerung an den Stadtteil Hamm überhaupt erst zu schaffen. Bis vor etwa | |
zehn Jahren sei das Archiv von Zeitzeugen häufig besucht worden, berichten | |
Gunnar Wulf und seine Kollegin Stephanie Kanne. | |
Für Oben-Hamm mit seiner grünen Lunge, dem Hammer Park, gab es nach dem | |
Krieg einen Wiederaufbauplan, kaum zerstört liegt es höher auf einem | |
Geestrücken. Es wurde mit breiten Zufahrtsstraßen auch zur nahen Autobahn | |
am Horner Kreisel – gen Ostsee und Westberlin – durchzogen und mit | |
günstigen kleinen Wohnungen derart wiederhergestellt, dass es seine alte | |
urbane Qualität und seinen Charme trotzdem nicht wieder gewann. Auch wenn | |
es dort, wie rund ums Café May am Park, viele schöne Ecken gibt – diese | |
gewisse metropole Quirligkeit wie einst, sie fehlt. | |
## Was schuf der Herrgott im Zorn? | |
Fragt man junge Leute, wo in Hamburg sie eine Wohnung suchen, nennen sie | |
nur Eimsbüttel, Altona und Ottensen und natürlich das legendäre | |
Schanzenviertel, beliebt sind die alten Gründerzeitbauten westlich der | |
Alster. „Billstedt, Hamm und Horn, schuf der Herrgott im Zorn“, lautet ein | |
Taxifahrerspruch, der angesichts der „Operation Gomorrha“ als Witz nicht | |
mehr richtig zündet. | |
Wir fahren vom Mahnmal an der Hammer Kirche kommend über einen steilen | |
Radweg den Geesthang runter nach Unten-Hamm. Anfangs noch an teils | |
propperen, keineswegs prunkvollen Wohnhäusern vorbei, bald aber auf lauten | |
Autostraßen mit ungemütlichem Lkw-Verkehr. | |
Das untere Hamm und Hammerbrook wurden als Wohngebiete viele Jahre eben gar | |
nicht wiederaufgebaut. Vor dem Bombardement gab es mehr Brücken, viel mehr | |
Kanäle, mehr Wohnhäuser, mehr urbane Infrastruktur, sogar eine U-Bahn-Linie | |
– die sich, so die Hamburger Stadtplanung, wieder in Verkehr zu bringen | |
nach 1945 nicht mehr lohnte. | |
Viele Alte erinnern sich noch sehr gut, ihre Erinnerungen sind voll da. | |
Auch die Mutter der Co-Autorin erzählt von diesen Bombennächten. Sie kam | |
gerade mit ihrer Mutter und ihren kleinen Brüdern von einer vorsorglichen | |
Landverschickung zurück nach Hamburg, als der Himmel am Hauptbahnhof | |
schwarz vor Rauch war. Ihr Vater kaperte kurz entschlossen das Motorrad | |
seines Nachbarn mit Beiwagen und fuhr damit die fünfköpfige Familie | |
schnellstmöglich raus aus der Stadt ins 30 Kilometer entfernte Siek. Auch | |
von dort sah man die Flugzeuge am Himmel. | |
Seit der Ukrainekrieg ausgebrochen ist, spricht die 86-Jährige häufiger | |
davon, wie viele ihrer Generation in dieser Stadt. Die Zeitzeugen, die den | |
„Feuersturm“ erlebten, sehen sich durch den Krieg in der Ukraine | |
hochbelastet. So berichtet es Ulrich Lamparter von der Hamburger Uniklinik | |
Eppendorf, der Betroffene im Rahmen des Projekts „Das Erinnerungswerk | |
Hamburg Feuersturm 1943“ im Mai 2022 befragte. | |
## Manifeste posttraumatische Symptome | |
Es ist bereits das zweite Forschungsprojekt. Das erste wurde 2013 | |
abgeschlossen und kam zu dem Fazit, dass die Erinnerung an diese Nächte | |
sehr präzise sich hält und in einer Art Sondergedächtnis abgespeichert | |
bleibt, wie Lamparter kürzlich bei einem Vortrag berichtete. Bei etwa einem | |
Drittel der über 60 befragten Überlebenden zeigten sich manifeste | |
posttraumatische Symptome, bei einem weiteren Drittel eine „basale | |
Erschütterung“. | |
Die Aufarbeitung der psychomentalen Folgen sei lange Zeit rudimentär | |
gewesen „und musste angesichts des Holocaust auch rudimentär bleiben“, | |
sagte er und zitierte Hort Eberhard Richter mit dem Satz, „Es war nicht | |
vorzeigbar, was an Zufügungen im Dienste des Nazi-Unrechts geschehen war.“ | |
Und doch blieb immer ein Schmerz, eine Wunde bei den Überlebenden, die | |
öffentlich kaum thematisiert werden konnte. | |
Die Friedensbewegungen der Nachkriegszeit, interessanterweise sowohl in | |
Großbritannien wie in der Bundesrepublik, speiste sich aus den | |
Überlebenden, jenen Menschen auch in Hamburg, die auf „Krieg“, wie sie | |
sagen, unbedingt verzichten wollen, jetzt und für alle Generationen nach | |
ihnen. | |
Lamparter befragte auch Kinder von Zeitzeugen. Die Hälfe hat konkretes | |
Wissen über die damaligen Luftangriffe und kann sich in das Erleben der | |
Eltern einfühlen. Und auch wenn die beiden Generationen es nicht leicht | |
miteinander gehabt hätten, stimmten sie einig der Aussage zu: „Ich wollte, | |
dass meine Kinder wissen, wie schlimm Krieg ist.“ | |
Es gibt Zukunftspläne für die geschundenen Viertel. Auf der Nahtstelle | |
zwischen der Hafencity, dem Hafen und Hammerbrook und Hamm, am Ausgang der | |
Elbbrücken, entsteht das zukünftig höchste Gebäude der Stadt, der | |
„Olaftower“ genannt wird, weil der frühere Bürgermeister Olaf Scholz sich | |
für dieses Projekt stark gemacht hat. | |
Danach sind die Areale, die die „Operation Gomorrha“ plattmachte, wieder | |
dran. Nicht mehr nur Gewerbegebiet, sondern schöne Wohnhäuser mit viel | |
Grün, ein bisschen so wie früher, etwa wie das Osterbrook-Viertel, das in | |
Unten-Hamm schon entstanden ist. | |
## „Gute Mischung, gute Busverbindung“ | |
Da in der Nähe, an der Bushaltestelle Braune Brücke an der Süderstraße, der | |
Zentralachse von Unten-Hamm, steht eine Frau, wie sie äußerlich zur Roten | |
Flora im Schanzenviertel nicht besser passen könnte. Darf man fragen? | |
Gerne! Lebst du hier? Sie heißt hier Lisa, und sie sprudelt los: „Ja, seit | |
vier Jahren. Ist ja keine rechte Ecke mehr hier. Früher viele Hell’s | |
Angels, Zuhälter und so. Jetzt wohnen hier klasse Leute. Gute Mischung, | |
gute Busverbindung nach Altona und in die Stadt.“ | |
Und in Wurfweite entfernt eine Kneipe an der Bille, dem dritten Fluss | |
Hamburgs, idyllisch gelegen, szenig, weltoffen, aufgeklärt, mit | |
alternativem Programm zum Gedenken an die „Operation Gomorrha“. Die | |
Bürgerinitiative BOOT – Untertitel „Sport, Kultur, Nachbarschaft und | |
Gastronomie im Billebecken“ – nimmt sich der Erinnerungen an. | |
Es heißt zum Anspruch: „Die friedliche Heilung der Stadt ist ein wichtiger | |
Prozess – wir sehen uns mit unseren Zielen im BOOT e.V. als Teil dieses | |
Heilungsprozesses. Wir halten es aber für ebenso wichtig, den Blick auf die | |
Lücken frei zu halten – Sie zeigen uns, dass nichts, was wir zu sehen | |
meinen, selbstverständlich für immer da sein wird.“ | |
## Sich kümmern um die Folgen des „Feuersturms“ | |
Stephanie Kanne, Kollegin von Stadtteilarchivar Gunnar Wulf, ist | |
Historikerin – und seine designierte Nachfolgerin. Wird sie sich denn auch | |
um die Folgen des „Feuersturms“ kümmern? Sie sagt: „Natürlich mache ich… | |
dieser Frage weiter. Mich interessieren aber auch Fragen des Kolonialismus, | |
dazu habe ich bereits in einem Museum gearbeitet.“ | |
Sie meint zum Beispiel die Teilhabe wohlhabender Hamburger an kolonialer | |
Ausbeutung (nicht nur) in Afrika. Hamburger, die so prunkvolle Häuser wie | |
die Villa Ohlendorff in Hamm bauen konnten. „Ich werde da mit Oben-Hamm zu | |
tun haben“ – diese Aufarbeitung stehe jetzt an. | |
So geht die Zukunft, auch für diesen Stadtteil – wie sonst? | |
25 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://hh-hamm.de/home/stadtteilarchiv/ | |
[2] https://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/digbib/asearch | |
[3] https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/13229782/2019-11-20-basfi-bkm-platz… | |
[4] https://www.ub.hsu-hh.de/ausstellung-ausgebombt-hamburgs-gomorrha-1943-und-… | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
Kaija Kutter | |
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