# taz.de -- Geschredderte NS-Dokumente: Staatsarchiv räumt Fehler ein | |
> Das Staatsarchiv Hamburg hat Informationen über NS-Opfer für immer | |
> vernichtet. Im Nachhinein würde man „den Fall anders bewerten“, heißt es | |
> nun. | |
Bild: Ein Zurück gibt es nicht: Die Todesbescheinigungen für NS-Opfer sind un… | |
HAMBURG taz | Es waren vier Unterschriften – die letzte stammte vom Leiter | |
des Hamburger Staatsarchivs Udo Schäfer – und das Schicksal von mehr als | |
einer Million Dokumente war besiegelt. Im Juli kassierte das Staatsarchiv | |
sämtliche ärztliche Todesbescheinigungen der Jahre 1876 bis 1953. | |
Geschichtlich bedeutsame Dokumente wanderten in den Schredder und kaum | |
jemand bekam es mit. | |
Ein handfester Skandal, mutmaßlich für viele Angehörige von | |
Euthanasieopfern, in jedem Fall für zahlreiche Historikerinnen und | |
Historiker. „Es ist eigentlich ein Tabu, Dokumente aus der NS-Zeit zu | |
vernichten“, sagt Rainer Nicolaysen. Er ist erster Vorsitzender des Vereins | |
für Hamburgische Geschichte und Professor an der Universität Hamburg. Die | |
Todesbescheinigungen seien einmalige Quellen gewesen, manche Informationen | |
nun unwiderruflich verloren. | |
Dass Informationen durch die Vernichtung der Todesbescheinigungen verloren | |
gingen, bestritt das Staatsarchiv zunächst noch. „Mögliche | |
Forschungsvorhaben zu Todesursachen können zusätzlich auch über andere | |
Bestände abgedeckt werden“, hieß es in einer Stellungnahme Ende Juli. | |
Verwiesen wurde unter anderem auf Sterbebücher und Sammelakten. | |
Doch in den Sterbebüchern fehlt die in den Todesbescheinigungen vorhandene | |
Unterschrift des behandelnden Arztes. „Die Unterschriften der Ärzte auf den | |
Todesbescheinigungen sind unwiderruflich verloren gegangen“, sagt Rainer | |
Nicolaysen. „Das ist skandalös, weil mit Blick auf die NS-Zeit die | |
Arztunterschrift die Spur zu den Tätern ist.“ Auch die Todesursache sei oft | |
nicht vermerkt, wie Hildegard Thevs erklärt. | |
Thevs engagiert sich ehrenamtlich für die Initiative Stolpersteine Hamburg. | |
Sie hat sich intensiv mit dem Euthanasieprogramm des ehemaligen | |
Kinderkrankenhauses Rothenburgsort beschäftigt. Mehr als fünfzig Kinder mit | |
Behinderungen wurden während des Nationalsozialismus dort getötet. Thevs | |
versuchte, ihre Geschichte und die Todesumstände dieser Kinder zu | |
rekonstruieren. | |
Die Todesbescheinigungen waren dafür eine wichtige Quelle, wie der Fall des | |
im Alter von elf Monaten getöteten Andreas Ahlemann zeigt. Auf Andreas’ | |
Todesbescheinigung ist nicht nur die Todesursache vermerkt. Unterschrieben | |
wurde sie von seiner behandelnden Ärztin, die ihm auch die letztlich | |
tödliche Spritze verabreichte. | |
„All diese Informationen fehlen im Sterberegistereintrag des Kindes“, sagt | |
Hildegard Thevs. Der Fall sei ein extremer, aber auch die Daten anderer | |
Kinder seien im Sterberegister unvollständig. Mit dem Schreddern der | |
Todesbescheinigungen sei die wichtigste Quelle ihrer Arbeit vernichtet | |
worden, so Thevs. | |
## Eine Welle des Protests | |
Das Staatsarchiv Hamburg und die zuständige Kulturbehörde sah sich in den | |
Tagen und Wochen seit dem Kassieren der Dokumente mit einer Protestwelle | |
konfrontiert. Mittlerweile zeigt man sich einsichtiger als noch unmittelbar | |
nach der Aktion. Es sei möglich, „dass Forschungsansätze bestehen, die auch | |
der Todesbescheinigungen bedurft hätten“, heißt es in einer Antwort auf | |
eine Kleine Anfrage der Linken vom 24. August. | |
„Das Staatsarchiv würde den Fall heute anders bewerten“, räumt der | |
Pressesprecher der Kulturbehörde, Enno Isermann, gegenüber der taz ein. „Es | |
wurden einige Lehren daraus gezogen.“ Kassationen, also das Schreddern von | |
Dokumenten, kämen jedoch extrem selten vor. Das letzte Mal in den | |
1990er-Jahren, so Isermann. Tatsächlich löste jedoch auch diese Kassation | |
Empörung unter Historikerinnen und Historikern aus. Denn ein großer Teil | |
der Geschichte der Verfolgung Homosexueller wurde einfach vernichtet, Akten | |
über die strafrechtliche Verfahren gegen Homosexuelle geschreddert. | |
## Historiker-Kommission vorgeschlagen | |
Künftig sollen solch eklatante Fehler vermieden werden, indem vor | |
eventuellen Schredderaktionen überprüft wird, wer die Bestände nutzt, so | |
Isermann. Mit den Nutzerinnen und Nutzern solle dann besprochen werden, ob | |
Gründe vorliegen, den Bestand zu erhalten oder ob die Informationen an | |
anderer Stelle verfügbar sind. | |
Auch Rainer Nicolaysen sieht Verbesserungsbedarf in der Arbeitsweise des | |
Archivs. „Der Fehler des Staatsarchivs war, dass nicht ausreichend | |
überprüft wurde, welche Informationen tatsächlich doppelt vorliegen“, so | |
der Historiker. „Mir ist wichtig, dass so ein gravierender Fehler nicht | |
noch einmal passiert.“ | |
Nicolaysen hat dem Leiter des Staatsarchivs vorgeschlagen, eine Kommission | |
aus Hamburger Historikerinnen und Historikern zu gründen. Diese soll bei | |
Vorgängen, die sensible Bestände des Archivs betreffen, beratend | |
hinzugezogen werden. Laut Kulturbehörde will das Staatsarchiv mit den | |
Historikerinnen und Historikern klären, was die Aufgaben einer solchen | |
Kommission sein könnten. | |
4 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Marthe Ruddat | |
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