# taz.de -- Norwegen im Nationalsozialismus: Gestörtes Selbstbild | |
> In ihrem Buch hinterfragt Marte Michelet die Erzählung über den | |
> norwegischen Widerstand gegen die Nazis – und löst eine Debatte aus. | |
Bild: Stolpersteine in Oslo erinnern an aus Norwegen deportierte Juden im Jahr … | |
Soll denn wirklich ein Gericht darüber entscheiden, wie ein wichtiges | |
Kapitel der Geschichte Norwegens im Zweiten Weltkrieg erzählt werden darf? | |
Das fragte am Sonntag ein Kulturkommentar in der norwegischen Tageszeitung | |
Bergens Tidende. Darauf scheint in der Tat nun der Streit über ein Buch | |
hinauszulaufen, welches das Land seit zwei Jahren beschäftigt: Marte | |
Michelets „Was wusste die Heimatfront“, [1][in dem die gängige Erzählung | |
über den norwegischen Widerstand gegen die Nazi-Okkupation hinterfragt | |
wird]. | |
Drei Tage zuvor hatten neun Nachkommen von Widerstandskämpfern – Söhne, | |
Enkel und eine Nichte – deutlich gemacht, dass sie mit dem Angebot von | |
Verlag und Verfasserin zur Lösung des zwischen ihnen entstandenen Konflikts | |
nicht zufrieden sind. Diese Lösung schien sich abzuzeichnen, nachdem | |
Michelet im Februar einige sachliche Fehler in ihrem Buch eingeräumt hatte. | |
Etwa dass sie einem Unternehmer, der jüdische MitbürgerInnen zur sicheren | |
schwedischen Grenze transportiert hatte, reine Profitmotive unterstellte. | |
Oder ein handgeschriebener Brief aus einem Archiv, den die Autorin wegen | |
einer Namensverwechslung einer anderen Person als dem wirklichen Verfasser | |
zuschrieb. | |
Im Gesamtzusammenhang ihres Buchs, das den Vorwurf erhebt, in Norwegen | |
hätte deutlich mehr getan werden können, um JüdInnen und Juden vor der | |
Deportation in die Konzentrationslager zu retten, waren das zwar nur kleine | |
Details – aber eben faktische Fehler. Der Gyldendal-Verlag hatte daraufhin | |
eine völlig überarbeitete Fassung ihres Buchs angekündigt, die im Herbst | |
erscheinen soll. „Verlag und Autorin sind sich bewusst, dass in dem Buch | |
Fehler entdeckt wurden, und wir erkennen an, dass dies eine Belastung für | |
die Nachkommen der in diesem Zusammenhang genannten Personen bedeutet“, | |
heißt es in einer Erklärung des Gyldendal-Direktors Arne Magnus. | |
Was der Verlag aber strikt ablehnt: Die Forderung, die jetzige Auflage | |
zurückzuziehen. Exemplaren, die noch im Handel sind, wird aber ein Erratum | |
beigelegt. | |
Das jedoch hält die Mehrheit der erwähnten Nachkommen für nicht | |
ausreichend. „Man kann nicht einfach Entschuldigung sagen und die | |
kränkenden Behauptungen weiterhin verbreiten, um Geld zu sparen“, | |
argumentiert deren Anwalt John Elden, der nun mit einem Prozess droht. | |
Die Fehler, die man Michelet nachgewiesen habe, rüttelten aber eben nicht | |
am Fundament ihrer Hypothese, meint der emeritierte Geschichtsprofessor | |
Hans Fredrik Dahl. Eigentlich könne doch niemand ernsthaft infrage stellen, | |
dass es für Norwegen alles andere als ein Ruhmesblatt sei, dass die Hälfte | |
seiner jüdischen Bevölkerung den Nazis in die Hände fiel. Sie sei davon | |
ausgegangen, dass man dies 75 Jahre nach Kriegsende auch sagen dürfe, sagt | |
Michelet: „Mir ist aber jetzt klar, dass ich damit immer noch in ein | |
Wespennest gestochen habe.“ | |
11 Mar 2021 | |
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[1] /Norwegen-im-Nationalsozialismus/!5739771 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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