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# taz.de -- Anklage einer ehemaligen KZ-Sekretärin: Historische Tragweite
> Die Staatsanwaltschaft Itzehoe klagt die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard
> F. wegen Beihilfe zum Mord an. Ein Urteil wäre ein Novum in der Justiz.
Bild: Der Grundriss des Konzentrationslagers Stutthof als Kreidezeichnung bei e…
Hamburg taz | Die Anklage, die die Staatsanwaltschaft Itzehoe gerade gegen
Irmgard F. erhoben hat, kann zu einem historischen Urteil führen. Erstmals
in der juristischen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen durch
deutsche Behörden könnte eine Frau für die Beihilfe an Massentötungen in
einem Konzentrationslager verurteilt werden – ohne dass sie selbst direkt
an den Tötungen beteiligt gewesen sein soll.
Beinahe fünf Jahre liefen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Itzehoe
gegen F., die als Sekretärin des Lagerkommandanten des KZ Stutthof, Paul
Werner Hoppe, gearbeitet hat. Die Staatsanwaltschaft wirft der heute
95-Jährigen vor, in dem KZ nahe Danzig zwischen Juni 1943 und April 1945
Beihilfe bei der Ermordung von mehr als 10.000 Menschen geleistet zu haben.
Peter Müller-Rakow, Sprecher der Staatsanwaltschaft, drückt es so aus: Die
Beschuldigte soll den „Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen
Tötung von jüdischen Gefangenen, polnischen Partisanen und sowjetrussischen
Kriegsgefangenen Hilfe“ geleistet haben.
Die Anklage ist besonders, da Frauen in der Betrachtung des historischen
Nationalsozialismus und auch des aktuellen Rechtsextremismus bisher häufig
doppelt ausgeblendet werden. Zum einen, weil ihnen unterstellt wird,
aufgrund ihres Geschlechts keine wirklich überzeugten
Nationalsozialistinnen sein zu können, zum anderen, weil Frauen nicht als
aktive Täterin wahrgenommen werden. Noch im NSU-Verfahren zweifelten etwa
einzelne Medien die politische Überzeugung der Hauptbeschuldigten Beate
Zschäpe an.
Die Forschungen zum Nationalsozialismus zeigten allerdings schon, dass
Frauen nicht bloß Mitläuferinnen waren. Manche unterstützten „den Führer�…
auch durch die Geburt von Kindern oder denunzierten Nachbarn. Und manche
mordeten mit – in KZs und Euthanasieanstalten.
Bereits im Mai 1946 wurden nach Ermittlungen im KZ Stutthof fünf
Aufseherinnen zum Tode verurteilt. In den KZs im besetzten Polen sollen an
die 3.500 Frauen beschäftigt gewesen sein, schätzt Historikerin Andrea
Rudorff.
## Schleppende Ermittlungen
Die Ermittlungen und Verfahren gegen sie liefen in den ersten
Nachkriegsjahren jedoch schleppend. Dazu trugen auch die Tätigkeiten der
Frauen bei: Die meisten KZ-Täterinnen kamen nicht vor Gericht, da gegen sie
als Lagerpersonal, das in der Küche oder Verwaltung oder Telefonzentrale
tätig war, gar nicht ermittelt wurde. Dies gilt auch für Männer in diesen
Positionen. Erst 2011 änderte sich die Rechtsinterpretation – seither
können die Staatsanwaltschaften auch Anklage erheben, wenn die Person Teil
der Vernichtungsmaschinerie war.
In Itzehoe hat die Staatsanwaltschaft vor der Jugendkammer des Landgerichts
Anklage erhoben, da F. zur Tatzeit 18 bis 20 Jahre alt war. Von den
Tötungen will sie vor Ort nichts mitbekommen haben. In den 1950er-Jahre
sagte F. aus, dass ihr einstiger Chef ein „pflichtbewusster“ Vorgesetzter
gewesen sei, und sie räumte ein, dass über ihren Schreibtisch der gesamte
Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt gelaufen sei. Die
Staatsanwaltschaft sieht sie als verhandlungsfähig.
12 Feb 2021
## AUTOREN
Andreas Speit
## TAGS
KZ Stutthof
Frauen
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deutsche Justiz
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ARD
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