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# taz.de -- Aufarbeitung des Nationalsozialismus: Anklage gegen Ex-KZ-Sekretär…
> Einer 95 Jahre alten früheren Sekretärin des Konzentrationslagers
> Stutthof wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Es geht um mehr als 10.000
> Fälle.
Bild: Das ehemalige deutsch Konzentrationslager Stutthof unweit der polnischen …
BERLIN taz | Auch 76 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes ist die
strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen nicht abgeschlossen. Die
Staatsanwaltschaft Itzehoe hat gegen eine ehemalige Sekretärin des
[1][Konzentrationslagers] Stutthof Anklage erhoben. Der heute 95-Jährigen
wird Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen vorgeworfen.
Ihr wird zur Last gelegt, als Stenotypistin und Sekretärin des
Lagerkommandanten zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen
des Lagers bei der systematischen Tötung von jüdischen Gefangenen,
polnischen Partisanen und sowjetrussischen Kriegsgefangenen Hilfe geleistet
zu haben.
Irmgard F. lebt nach Recherchen des NDR in einem Altenheim im Kreis
Pinneberg bei Hamburg. Gegenüber dem Sender bestätigte sie im Frühjahr
letzten Jahres, dass sie im KZ Stutthof als Sekretärin gearbeitet habe. Von
den Mordtaten will sie aber erst nach dem Krieg erfahren haben.
Bereits 1954 vernommen
Tatsächlich wurden in Stutthof mindestens 65.000 Menschen Opfer von
Erschießungen und Vergasungen oder starben unter den katastrophalen
Lebensbedingungen. Irmgard F. wurde schon 1954, neun Jahre nach dem Krieg,
erstmals vernommen. Damals sagte sie über ihren Chef Paul Werner Hoppe,
dieser sei ein „pflichtbewusster“ Vorgesetzter gewesen. Über ihren
Schreibtisch sei der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftshauptamt
gegangen, sie habe aber auch gewusst, das Hoppe Exekutionen beantragt habe.
Damals habe sie geglaubt, dass die Exekutierten den Tod verdient hätten.
Peter Müller-Rakow von der Staatsanwaltschaft Itzehohe sagte der taz, die
Behörde „geht von der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten aus“. Man habe
bereits Zeugen in den USA und Israel befragt sowie einen Historiker mit
Nachforschungen beauftragt. Beim zuständigen Landgericht mochte sich eine
Sprecherin nicht festlegen, wann dort mit einer Entscheidung über die
Zulassung der Anklage zu rechnen ist. Sollte es zu einem Prozess kommen,
muss dieser wegen des Alters der Angeklagten zum Tatzeitpunkt vor einer
Jugendkammer erfolgen.
Es wäre der dritte Prozess in jüngster Zeit gegen Beschuldigte, die in
Stutthof Dienst taten: Im Juli 2020 [2][verurteilte das Landgericht
Hamburg] einen 93-jährigen ehemaligen Wachmann wegen Beihilfe zum Mord in
5.232 Fällen zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe. Im April 2019
scheiterte ein Verfahren gegen einen anderen Wachmann vor dem Landgericht
Münster wegen dessen dauernder Verhandlungsunfähigkeit. Ein weiteres
Verfahren ist derzeit beim Landgericht Wuppertal anhängig. Der
Beschuldigte, ebenfalls ein früherer Wachmann, ist im Juli vergangenen
Jahres angeklagt worden. Eine Entscheidung über einen Prozess steht noch
aus.
## Lange keine Verfahren
Lange Zeit lehnte die bundesdeutsche Justiz Verfahren gegen indirekt
Beteiligte an den Morden in Konzentrations- und Vernichtungslagern ab.
Gefordert war vielmehr ein direkter Tatnachweis, der aber nur in den
seltensten Fällen erbracht werden konnte. Erst 2016 entschied der
Bundesgerichtshof, dass sich auch diejenigen der Beihilfe zum Mord schuldig
gemacht haben können, die dort ihren Dienst taten, ohne dass ein
individueller Mord nachweisbar ist. Diese Personen seien als Teil der
Todesmaschinerie einzuordnen.
Seit dieser neuen Rechtsprechung sind mehrere Urteile gegen frühere
SS-Wachmänner ergangen oder bestätigt worden, nicht aber gegen eine Frau
oder Personen aus dem KZ-Verwaltungsapparat, wie im Fall von Irmgard F.
Diese behauptete gegenüber dem NDR, sie habe das Lager selbst nie betreten.
Die früheren Verwaltungsbauten des bei Danzig/Gdańsk gelegenen KZ Stutthof
befanden sich unmittelbar neben dem Lagereingang.
Die Zahl der bundesweiten Ermittlungen gegen Beschuldigte, denen Verbrechen
während der NS-Herrschaft in Konzentrationslagern vorgeworfen werden, ist
indes rückläufig. Der Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, Thomas Will, sagte der
taz, dass derzeit neben den zwei Anklagen in Wuppertal und Itzehoe noch
sieben weitere Ermittlungsverfahren bei deutschen Staatsanwaltschaften
anhängig sind.
Das betrifft zwei Personen zum Tatkomplex Buchenwald, jeweils eine zu
Mauthausen und Neuengamme und drei zu Sachsenhausen. Noch im November
vergangenen Jahres waren es 13 gewesen. Durch das hohe Alter der
Beschuldigten und deren Verhandlungsunfähigkeit oder Tod kommt es immer
wieder zu Verfahrenseinstellungen vor einer Anklageerhebung.
7 Feb 2021
## LINKS
[1] /Buch-ueber-Konzentrationslager/!5747813
[2] /Urteil-gegen-Waechter-von-KZ-Stutthof/!5695384
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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