# taz.de -- Norwegen im Nationalsozialismus: Das Schweigen der Heimatfront | |
> In Norwegen wird heftig über ein Sachbuch diskutiert. Es hinterfragt die | |
> gängige Erzählung vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus. | |
Bild: 26.11.1942: 530 norwegische Juden im Hafen von Oslo vor der Deportation i… | |
„Das Lebenswerk unserer Eltern und Großeltern wird in den Dreck gezogen“, | |
beschwerten sich vor wenigen Wochen Kinder und Enkel von acht Familien | |
ehemaliger Widerstandskämpfer gegen die Besetzung Norwegens durch | |
Hitlerdeutschland in einer gemeinsamen Erklärung: „Für uns waren es | |
Vorbilder und nun sollen sie grundlegende Ideale unserer Gesellschaft mit | |
Füßen getreten haben?“ | |
Wer so etwas behaupte, müsse auch Beweise vorlegen. Und die gebe es nicht. | |
Vielmehr stehe mittlerweile fest, dass mit solchen Anschuldigungen | |
Geschichtsklitterung betrieben werde. Weshalb man nun juristisch vorgehen | |
wolle: „Nicht nur um des Rufs der eigenen Familie willen, sondern auch um | |
künftigen Generationen ein möglichst wahrheitsgetreues Bild der | |
Kriegsgeschichte zu hinterlassen.“ | |
In Norwegen gibt es derzeit viel Aufregung über ein Buch. In erster Auflage | |
schon 2018 erschienen, fragt es bereits im Titel „Hva visste | |
hjemmefronten?“ („Was wusste die Heimatfront?“). Seine Verfasserin, die | |
Journalistin [1][Marte Michelet], stellt darin Teile der gängigen Erzählung | |
über den norwegischen Widerstand in Frage und wirft ihm und der | |
norwegischen Exilregierung in London vor, sie hätten sich nicht wirklich | |
bemüht, den Holocaust an Norwegens jüdischer Bevölkerung zu verhindern oder | |
zumindest zu begrenzen. Obwohl sie dazu eigentlich in der Lage gewesen | |
wären. | |
Im zeitgleich wie Norwegen von der Wehrmacht besetzten Dänemark konnte sich | |
fast die gesamte jüdische Bevölkerung vor der drohenden Deportation in die | |
Konzentrationslager Nazideutschlands in Sicherheit bringen. Teilweise dank | |
heldenhaften Einsatzes vieler DänInnen. Legendär wurde die | |
[2][Rettungsaktion, mit der am 1. Oktober 1943] 7.742 Menschen an Bord von | |
mehreren Hundert Booten und Fischkuttern über das Meer nach Schweden | |
gerettet wurden. | |
## Die Augen verschlossen vor den Deportationen | |
Zwar war das tatsächlich eine Ausnahme im von den Nazis besetzten Europa. | |
Aber wäre eine ähnliche „Ausnahme“ nicht auch in Norwegen möglich gewese… | |
Zumal die Grenze zwischen Norwegen und Schweden, Europas längste | |
Landgrenze, von der deutschen Besatzungsmacht nie auch nur annähernd | |
lückenlos kontrolliert werden konnte. Hunderte Jüdinnen und Juden konnten | |
sich über diese nach Schweden retten. | |
Schon in ihrem ersten Buch „Den største forbrytelsen“ („Das größte | |
Verbrechen“) hatte Michelet 2014 diese Frage angeschnitten und war zum | |
Ergebnis gekommen: Es waren jedenfalls nicht nur Vidkun Quisling und die | |
Parteigenossen seiner faschistischen „Nationalen Sammlung“, die der Gestapo | |
zur Hand gegangen waren, um 773 Jüdinnen und Juden in die Todeslager zu | |
verfrachten. Es gab genügend MithelferInnen und allzu viele NorwegerInnen | |
hätten die Augen verschlossen. | |
Die etablierte Erzählung lautete bislang: Eine landesweite | |
Verhaftungsaktion der Gestapo im November 1942 und die anschließende | |
Massendeportation seien in Norwegen wie ein Blitz aus heiterem Himmel | |
gekommen. Die Heimatfront habe alles in ihrer Macht stehende getan, um | |
wenigstens Teile der jüdischen Bevölkerung zu retten. Was Michelet in „Hva | |
visste hjemmefronten?“ aufgrund neuer Dokumente grundsätzlich in Frage | |
stellt. | |
Ihre Behauptung: Die Gestapo-Aktion sei zentralen Personen der | |
„Heimatfront“ drei Wochen zuvor bekannt geworden, aber Antisemitismus sei | |
bei diesen ebenso wie in Norwegen insgesamt recht verbreitet gewesen. Das | |
Schicksal der jüdischen MitbürgerInnen sei ihnen deshalb relativ | |
gleichgültig gewesen. | |
Ähnlich wie schon ihr erstes Buch, das nicht nur zum „Sachbuch des Jahres“ | |
gekürt, sondern beispielsweise von der Tageszeitung Vårt Land zur | |
„Pflichtlektüre in allen Schulen“ empfohlen worden war, wurde auch | |
Michelets „Hjemmefronten“-Buch beim Erscheinen hochgelobt. Für Dagbladet | |
war es das „wichtigste Buch des Jahres“, Klassekampen urteilte „gut, | |
aufsehenerregend und überzeugend“ und VG meinte, das, was Historiker schon | |
lange versäumt hätten, hole die Verfasserin nun endlich nach. | |
Eine Journalistin deckt auf, was HistorikerInnen versäumt haben? Schlimmer | |
noch: Etwas bewusst unter den Teppich gekehrt hatten? Der Vorwurf wog | |
natürlich schwer. Im November veröffentlichten Mats Tangestuen, Bjarte | |
Bruland und Elise Berggren eine Art „Gegenbuch“. Tangestuen ist Historiker | |
an der Universität Bergen und Mitarbeiter beim Jüdischen Museum in Oslo. | |
Bruland arbeitete dort ebenfalls, war zeitweilig Direktor des Jüdischen | |
Museums Trondheim und veröffentlichte vor zwei Jahren ein Buch über den | |
Holocaust in Norwegen. Berggren schreibt derzeit an einer Masterarbeit zur | |
Restitution jüdischen Eigentums in Norwegen. | |
## Kritik an der Autorin, aber auch Zustimmung | |
„Viele und grobe Fehler“ hätten sie veranlasst, ihren „Rapport einer | |
Überprüfung“ des Michelet-Buchs zu verfassen, [3][begründen sie ihre | |
Buchherausgabe]. Insgesamt gestehen sie der Journalistin zwar zu, „wichtige | |
Fragen gestellt zu haben“. Desto schwerwiegender sei aber die Tatsache, | |
dass ihre Antworten „von umfassenden systematischen Fehlern geprägt“ seien: | |
Selektive Quellenauswahl, Fehlinterpretationen, gekürzte Zitate. Wolle | |
Geschichtswissenschaft glaubhaft sein, dürfe man das nicht durchgehen | |
lassen. | |
Ja, sie werde wohl einige Fußnoten korrigieren müssen, gesteht Michelet | |
mittlerweile zu, nachdem sie zunächst arrogant reagiert und die Kritik | |
kategorisch als „pedantisch“ zurückgewiesen hatte. Aber was ändere das am | |
Gesamtbild? | |
Tore Pryser, Geschichtsprofessor in Lillehammer, teilt ihre Einschätzung | |
und wirft den VerfasserInnen des „Gegenbuchs“ „bloße Nörgelei“ vor. �… | |
Historiker haben versagt“, meint Eirinn Larsen, Professorin für Geschichte | |
an der Universität Oslo. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sei eine | |
„patriotische Grunderzählung“ dominant geworden, bei der der norwegische | |
Widerstandskampf die zentrale Rolle gespielt und „weder das Schicksal der | |
Juden noch die Rolle der Frauen Platz gefunden hat“. | |
Es gebe keine einfache Antwort auf die Frage, wer was getan oder versäumt | |
habe, wenn man wie in Norwegen eine Bevölkerung gehabt habe, die ja selbst | |
Opfer gewesen sei, konstatiert der dänische Historiker Bo Lidegaard, | |
Verfasser eines Buchs über die Rettung der dänischen Juden. In allen | |
betroffenen Ländern sei das eine schwierige Debatte gewesen, die oft erst | |
nach Jahrzehnten in Gang gekommen sei. Deutschland sei bei der Frage seiner | |
moralischen Verantwortung am weitesten gekommen, dazu aber auch gezwungen | |
gewesen. In Norwegen, als einem Land auf der Seite der „Sieger“, sei die | |
Tendenz zum Blick in den Spiegel womöglich zu kurz gekommen. | |
## Antisemitismus war verbreitet | |
„Wir haben keine Zweifel, dass in Norwegen weit mehr hätte getan werden | |
können, um Juden zu retten“, schreiben Tangestuen, Bruland und Berggren in | |
der Einleitung ihres „Rapport einer Überprüfung“. Sie bestreiten weder den | |
verbreiteten Antisemitismus im Lande noch die Tatsache, dass die | |
„Heimatfront“ womöglich aktiver hätte sein können. Aber Michelets | |
Schlussfolgerungen zum Vorabwissen der Deportationsaktion und | |
Antisemitismus als entscheidender Erklärung für mangelnde Hilfe seien von | |
ihr nicht bewiesen worden. | |
Der von Marte Michelet in einem TV-Interview erhobene Vorwurf, ihre | |
Kritiker wollten „die Tür wieder schließen, die ich geöffnet habe“, und | |
„viele Forscher seien mehr loyal mit den Angehörigen der Heimatfront als | |
den Opfern der Judenverfolgung“, kann man diesen drei HistorikerInnen wohl | |
kaum machen. Da Michelet aber auch betont, mit ihren Büchern habe sie doch | |
nur erreichen wollen, „dass endlich ein breites Forschungsprojekt in Gang | |
gesetzt wird, das allen offenen Fragen nachgeht“, stellt sich allerdings | |
die Frage: Warum gibt es das in Norwegen 75 Jahre nach Kriegsende | |
eigentlich immer noch nicht? | |
29 Dec 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.gyldendal.no/forfattere/michelet-marte/a-131297-no/ | |
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[3] https://www.dreyersforlag.no/rapport-fraa-ein-gjennomashygang-av-hva-visste… | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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