| # taz.de -- Ulf Poschardts Geschichtsbild: Gut gemeint, das Gegenteil von gut | |
| > Der „Welt“-Chefredakteur hat einen Detektor für NS-Vergleiche, der häuf… | |
| > Alarm schlägt. Bei eigenen Texten bleibt er stumm. Über verdächtige | |
| > Rhetorik. | |
| Bild: Mit Nazi-Analogien geht Ulf Poschardt auf Twitter nicht allzu vorsichtig … | |
| In meinem ersten Uni-Semester in Israel trat ich einem studentischen | |
| Debattierclub bei. Dieser Club verfügte über zwei Grundregeln: Man durfte | |
| weder mit Beispielen aus Skandinavien noch mit Nazivergleichen | |
| argumentieren. Die erste Regel hatte mit dem Klischee von Skandinavien in | |
| Israel zu tun, wonach dort der Sozialstaat immer perfekt funktioniere. Die | |
| zweite Regel müsste eigentlich nicht weiter begründet werden. | |
| Jahrzehnte später musste ich an diese Regel erinnern, als ich Besuch von | |
| Erika Steinbach empfing. Irgendwie hatte sie die eigenartige Vorstellung | |
| gewonnen, sie könnte meine Vorbehalte [1][gegen die AfD-eigene | |
| Desiderius-Erasmus-Stiftung] zerstreuen. Sichtlich stolz schwärmte sie von | |
| den zahlreichen Professoren, Anwälten und Ärzten, die die Stiftung | |
| unterstützten. Kopfschüttelnd erwiderte ich, dass Bildung leider nicht vor | |
| Barbarei schützt und dass auch in den KZs hochgebildete Ärzte gearbeitet | |
| hätten. Ob ich die Ärzte in der AfD mit Nazis verglichen habe, war dann | |
| sehr bald Gegenstand eines langen Rechtsstreits mit Frau Steinbach. Auch | |
| wenn der Rechtsstreit zu meinen Gunsten ausging, bin ich seither bei | |
| NS-Analogien noch vorsichtiger als zuvor. | |
| Ohnehin gilt es in der historischen Bildungsarbeit, mit der Dialektik des | |
| „Nie wieder“ sorgsam umzugehen. Denn „Nie wieder“ bedeutet: Natürlich … | |
| sich die Geschichte wiederholen. Schon allein deshalb müssen strukturelle | |
| Analogien grundsätzlich möglich sein. Aber direkte Vergleiche der Gegenwart | |
| mit der Nazizeit sind dafür in den allermeisten Fällen kein geeignetes | |
| Mittel. Jemand, der bei diesem Thema neuerdings ungewohnt zartfühlend | |
| auftritt, ist der Welt-Chefredakteur [2][Ulf Poschardt]. Er will | |
| NS-Vergleiche schon dort bekämpfen, wo manche zweifeln könnten, dass | |
| überhaupt welche stattgefunden haben. | |
| In der Jüdischen Allgemeinen knöpfte er sich etwa den Fernsehmoderator | |
| Georg Restle vor. Restle sei „nicht zimperlich“, wenn es um jüdische Themen | |
| gehe, so der Vorwurf, den Poschardt unter anderem damit belegt, dass Restle | |
| Vokabeln wie „Ökozid“ verwendet. Auch bei der Bundeskanzlerin schlug | |
| Poschardts Detektor an: Die nämlich hatte für Corona das Wort „Unheil“ | |
| verwendet – laut Poschardt „eine fatale Metapher, in der unüberhörbar | |
| das,Heil' anklingt“. | |
| Man würde sich wünschen, dass Poschardt diese sprachliche Sensibilität auch | |
| aufs eigene Schreiben richten könnte. Auf Twitter jedenfalls ist er nicht | |
| zimperlich mit Vergleichen, bei denen mir persönlich flau wird. Erst vor | |
| Kurzem postete er einen Welt-Artikel über die Umweltaktivistin Neubauer mit | |
| dem verfremdeten Goebbels-Zitat „Wollt ihr die totale Angst?“. Neubauer hat | |
| es Poschardt angetan: Erst letzten Monat verglich er sie und die | |
| Klimabewegung mit der verschwörungstheoretischen bis rechtsradikalen | |
| Querdenken-Bewegung. | |
| ## Reichlich selbstgemaltes Geschichtsbild | |
| Ebenfalls nicht zimperlich ging er mit linken Demos im Berliner | |
| Villenviertel Grunewald um – ähnliche Proteste hätte es laut Poschardt | |
| „schon mal“ gegeben, nämlich „zwischen 1933 und 1945“. Das geht nach d… | |
| Formel: Die Nazis von damals sind die Linken von heute, die Juden von | |
| damals sind die jetzigen Kapitalisten. Ohne jeden Skrupel reproduziert er | |
| dabei das Vorurteil, dass in einem Reichenviertel hauptsächlich Juden zu | |
| Hause sein müssen. | |
| Um sich das Ganze leichter zu machen, erklärt er uns wenig später, dass die | |
| Naziideologie eigentlich links sei: Sie entstamme nicht blankem Judenhass, | |
| sondern dem „Wunsch nach Gleichheit“. Hitler und Goebbels als Kämpfer für | |
| Gleichberechtigung? | |
| Wo schon der Chef über ein reichlich selbstgemaltes Geschichtsbild verfügt, | |
| werden mir einige Welt-Texte etwas verständlicher: Im Sommer etwa zeigte | |
| Welt-Chefkommentator Torsten Krauel mal eben Verständnis für | |
| Nazi-Verbrecher und stellte nostalgisch fest, dass viele von ihnen ihre | |
| Jobs nach dem Krieg auch deswegen behalten durften, weil es 1945 noch keine | |
| „Cancel Culture“ gab. | |
| NS-Vergleiche ja, aber nur, wenn es gegen die Richtigen geht: Mit dieser | |
| Regel wäre Poschardt schon an den Eingangstests meines israelischen | |
| Debattierclubs gescheitert. Gott sei Dank ist die Argumentationsweise eines | |
| Ulf Poschardt ziemlich unvergleichlich. | |
| 4 Jan 2021 | |
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