# taz.de -- Betroffene von Rassismus klagen an: Heute herrscht eine andere Wut | |
> Die von rassistischer Gewalt und Ausgrenzung Betroffenen sind nicht mehr | |
> bereit, als „Fremde“ bezeichnet zu werden. Sie klagen an. | |
Bild: Ein Jahr danach: Gedenkfeier in Berlin für die getöteten Opfer des Ansc… | |
Am 19. Februar [1][jährte sich der rassistische Anschlag]. Am Gedenktag | |
waren nicht nur Trauer und Betroffenheit in Hanau spürbar, sondern vor | |
allem: ein großer Zorn. Ein Zorn, der so deutlich artikuliert wurde, dass | |
er auch eine Zäsur zum bisherigen Gedenken darstellte. Seit der | |
Wiedervereinigung wurden mehr als 200 Menschen durch rechtsextremen Terror | |
ermordet. Doch seit den Anschlägen von Mölln und Solingen Anfang der 1990er | |
hat sich etwas verändert. | |
Damals galten die tödlichen Angriffe auf Familie Genç in Solingen und auf | |
Ayşe Yılmaz, Bahide und Yeliz Arslan in Mölln als „fremdenfeindlich“. | |
Bundeskanzler Kohl sah keine Notwendigkeit, nach Mölln zu kommen, er | |
schickte den Außenminister. Eine Geste von zynischer Symbolik: Es ging um | |
„Fremde“, also um ein Problem der Außenpolitik. Hoffnung auf die | |
Mehrheitsgesellschaft hatten die Betroffenen nicht. Das Klima der Angst | |
nutzten türkisch-nationalistische Kräfte wie die Grauen Wölfe. | |
Heute herrscht eine andere Wut. Die Betroffenen sind nicht mehr bereit, | |
[2][als „Fremde“ bezeichnet zu werden]. Sie sagen, sie sind „von hier“,… | |
verlangen Anerkennung, Gleichberechtigung. Sie klagen an, dass die | |
Versprechen auf „Integration“ unerfüllt blieben. Du musst dich nur | |
anstrengen, so die Verheißung, um dazugehören zu dürfen, zum Deutschen zu | |
werden – sofern du dich den Normen und Maßstäben der Mehrheit anpasst, ihre | |
Sprache sprichst. | |
So richtet sich die Wut auf das gebrochene Versprechen, das ins Gegenteil | |
verkehrt wurde: Gerade der Aufstieg, die Erfolge der neuen Generation | |
sorgen für besonders starke Abwehr. Wie der Antisemitismus im 19. | |
Jahrhundert eine Reaktion auf die Emanzipation und die Forderung nach | |
Gleichberechtigung der Juden war, so erleben wir aktuell, wie gerade der | |
Erfolg von Menschen mit Migrationsgeschichte in Kultur, Politik und | |
Gesellschaft zu mehr Ablehnung und rassistischer Ausgrenzung führt. | |
## Rassisten unterscheiden zwischen weiß und nicht-weiß | |
[3][Der Rassist unterscheidet nicht zwischen integriert und | |
nicht-integriert], sondern zwischen weiß und nicht-weiß. Viele Menschen, | |
die nicht ins völkisch-rassistische Weltbild passen, haben mir erzählt, wie | |
Hanau ihre Hoffnung zutiefst erschüttert hat, vielleicht doch irgendwann | |
als deutsch durchzugehen. Das vorgebliche Integrationsangebot spiegelte | |
sich nicht einmal in der Alltagssprache wider: Noch vor wenigen Jahren | |
wurde von „Ausländern“ gesprochen, wenn Personen gemeint waren, die schon | |
in der dritten Generation hier leben. | |
Die neue Generation blickt fassungslos darauf, dass anscheinend von ihnen | |
erwartet wird, sich in die Rolle ewiger Gastarbeiter zu fügen. Denn die | |
Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erhebt sich nicht da, wo | |
migrantisierte Menschen Lebensmittel verkaufen oder Pakete austragen, | |
sondern da, wo angeblich die Integration wartete: wenn sie Richter*innen, | |
Journalist*innen, Politiker*innen werden. | |
Rufe wie „Eure Heimat ist unser Albtraum“ und „Almans sind Abfall“ | |
artikulieren diesen Zorn. Wir sind von hier, wir sind anders und bleiben es | |
– deal with it! Sosehr ich die Wut verstehen kann, so sehr kommt es mir | |
vor, als verberge sich in der Radikalität auch Resignation. Man richtet | |
sich in der Fremdheit ein, die einem aufgezwungen wurde, lehnt ein | |
deutsches Kollektiv grundsätzlich ab. Produktiver finde ich den Weg, den | |
postmigrantische Organisationen wie die Initiative DeutschPlus wählen: Sie | |
wollen die Idee der kollektiven deutschen Identität nicht aufgeben, fordern | |
aber eine neue Grundlage für ein deutsches „Wir“. Ein Wir, das nicht | |
völkisch definiert ist. | |
Mich hat beim Gedenken an Hanau beeindruckt, wie stark die | |
Mehrheitsgesellschaft mitging: wie sehr sich der Zorn auf die | |
Nichtbetroffenen übertragen hat. Ein rassistisches Attentat ist nicht | |
länger ein Problem von „Fremden“, sondern betrifft Nachbarn, Freunde; | |
zwingt zur Stellungnahme. Vieles mag Lippenbekenntnis sein. Doch will ich | |
mir den naiven Optimismus nicht nehmen lassen, darin eine Chance zu sehen: | |
auf eine Gesellschaft, in welcher sich ohne Angst verschieden sein lässt. | |
3 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Meron Mendel | |
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