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# taz.de -- Rassismus in der Kriminalitätsstatistik: Nie wieder Deutschland
> Heimatminister Horst Seehofer macht sich Sorgen um die
> „Deutschfeindlichkeit“. Damit geht ein rechter Kampfbegriff in
> staatliches Handeln über.
Bild: So relativiert und leugnet man Rassismus
Ich habe es Horst Seehofer zu verdanken, dass ich letzte Woche wieder an
meinen inzwischen verstorbenen Großvater erinnert war. Wie jedes Jahr hatte
der Bundesinnenminister die [1][Statistik „Politisch motivierte
Kriminalität“ (PMK)] vorgestellt. Diesmal jedoch mit ein paar Innovationen:
neben rechts- und linksextremistischer sowie islamistischer Kriminalität
wurde zum ersten Mal „Ausländerfeindlichkeit“ ausgewertet – und,
gewissermaßen als Pendant dazu, „Deutschfeindlichkeit“.
Da musste ich an meinen deutschfeindlichen Opa denken und an sein gern
wiederholtes Lebensmotto: „Du sollst alle Menschen lieben, außer die
Deutschen.“ Seine „Deutschenfeindlichkeit“ ist in seiner Biografie gut
begründet. Er verlor seine Familie im Holocaust. Nur sein Vater überlebte.
Die Begriffsbildung der PMK-Statistik ist seit jeher fragwürdig. Neben „PMK
links“ und „PMK rechts“ zählt sie „ausländische Ideologie“ sowie �…
Ideologie“. Eine Sprache, die eher noch aus Zeiten des Kalten Krieges zu
stammen scheint – denn welche Ideologie ist in Zeiten sozialer Massenmedien
überhaupt noch genuin „ausländisch“?
Der Attentäter von Halle radikalisierte sich mit dem Manifest des Norwegers
Anders Breivik und in US-amerikanischen Incel-Foren – ihn würde der
Innenminister jedoch sicher nicht als Anhänger einer ausländischen
Ideologie bezeichnen. Antisemitische Vorfälle in der PMK hingegen werden,
solange sie nicht aufgeklärt werden, traditionell der „PMK rechts“
zugeschlagen, gleich wer sie begangen hat.
## Ein ganz besonderer Fehlgriff
Mit der „Deutschfeindlichkeit“ ist dem Innen- und Heimatminister Seehofer
jedoch ein ganz besonderer Fehlgriff gelungen. Ausgerechnet im Jahr 2019,
das wie wenige sonst für den Aufstieg des Rechtsterrorismus steht, für die
Anschläge von [2][Kassel] und [3][Halle], verpflichtet sich Seehofer nicht
dem Minderheitenschutz, sondern führt den rechten Kampfbegriff der
Deutschfeindlichkeit in staatliches Handeln über.
Schon ein Blick in Wikipedia hätte genügt, um die Herkunft des Begriffs zu
klären, die [4][„Deutschfeindlichkeit“] als ein „in rechtspopulistischen
und rechtsextremistischen Kreisen genutzter Kampfbegriff“ führt. Ein
prominentes Beispiel ist der Rechtsextremist Gustav Sichelschmidt und sein
1992 erschienenes Buch „Der ewige Deutschenhass – Hintermänner und
Nutznießer des Antigermanismus“: Darin schreibt er, dass
Deutschenfeindlichkeit schlimmer sei als Antisemitismus, sei sie doch
letztlich die Ursache zweier Weltkriege gewesen.
Seehofers eigene Statistik zeigt, dass der Begriff nicht einmal
kriminalistischen Wert hat: Sie führt die stolze Zahl von 132
„deutschfeindlichen“ Straftaten auf (gegenüber 10.000
„ausländerfeindlichen“ Straftaten). Aus einer Nachfrage beim BKA geht
hervor, dass 10 dieser „deutschfeindlichen“ Straftaten noch dazu von
Rechtsextremen verübt wurden.
Kein Wunder, dass es die sozialen Medien nur wenige Tage gekostet hat, den
Begriff zu zerpflücken: Ist ein Angriff auf deutsche PoC
„deutschfeindlich“? Wenn nicht: Sind dann nur Angriffe auf weiße Deutsche
deutschenfeindlich? Und am wichtigsten: Wäre die Haltung meines Opas laut
BMI ebenfalls deutschenfeindlich?
## Der kleine Bruder von „white lives matter“
Viele freuen sich derzeit über den Abstieg der AfD in den [5][Umfragen].
Ich frage mich oft, ob das nicht zu optimistisch ist, ob dieser Abstieg
nicht einfach darin begründet liegt, dass die AfD ihre historische Mission
erfüllt hat, dass ihre Positionen längst im politischen Mainstream
angekommen sind. Wenn ein CSU-Minister sich im Jahr der Ermordung seines
Fraktionskollegen durch einen Nazi Sorgen um Deutschenfeindlichkeit macht,
braucht man keine AfD mehr. Sie regiert dann schon mit.
Die schäbigste Reaktion auf die „Black Lives Matter“-Demos der letzten
Wochen war der Hashtag [6][„all lives matter“] – der kleine Bruder von
„white lives matter“. Ich sehe hier eine Parallele zur
„Deutschenfeindlichkeit“: In beiden Fällen soll Rassismus relativiert
werden. Ein Satz wie „Nie wieder Deutschland“ ist keine Straftat, gegen
Nationalismus zu sein, kein Verbrechen. Schon gar nicht ist „Nie wieder
Deutschland“ mit strukturellem, oft mörderischem Rassismus gleichzusetzen.
Es gehört eine besondere Chuzpe dazu, in derselben Woche, in der man
entrüstet Rassismusvorwürfe gegen die Polizei zurückweist, neurechte
Terminologie zur Grundlage staatlicher Statistiken zu machen. Es scheint,
dass das unbedingte Bedürfnis, als Angehöriger der weißen
Dominanzgesellschaft ebenfalls als Opfer zu gelten, sich nicht mit dem
Aufstieg in hohe Ministerämter erledigt.
Das erinnert mich an noch einen Satz meines Opas: Nie wieder Opfer sein.
Was würde er heute sagen, wenn er wüsste, dass inzwischen das Opfersein
unter Rassismus leidender Weißer, von Sexismus betroffener Männer und durch
Klassismus benachteiligter Milliardäre im Trend ist?
16 Jun 2020
## LINKS
[1] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/PMKrechts/PMKrecht…
[2] /Jahrestag-des-Mords-an-Walter-Luebcke/!5690128
[3] /Attentaeter-von-Halle/!5629072
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschenfeindlichkeit_(Begriff)
[5] https://www.wahlrecht.de/umfragen/
[6] https://twitter.com/hashtag/alllivesmatter
## AUTOREN
Meron Mendel
## TAGS
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Kriminalität
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