# taz.de -- Versöhnlichkeit ritualisieren: Unrecht entschuldigen | |
> Grundlegende Gedanken zu den Begriffen Versöhnung, Vergebung und Reue | |
> anlässlich des jüdischen Feiertags Jom Kippur. | |
Bild: Fragment eines hebräischen Schriftstücks des Philosophen Maimonides (ve… | |
Was 2019 geschah, wäre nicht passiert, wenn es mehr Versöhnung gäbe“, | |
meinte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff (CDU) in seiner Rede zu | |
Jom Kippur in der Synagoge in Halle. Ein Jahr nach dem Anschlag auf dieses | |
Gotteshaus scheint die Politik immer noch nicht verstanden zu haben, dass | |
es mit Rechtsextremen keine [1][„Versöhnung“] geben kann. Es befremdet | |
stark, dass die Aufforderung „Versöhnt euch!“ an die Überlebenden des | |
Angriffs gerichtet wird – auch mit Verweis auf die jüdische Tradition. Im | |
Sinne von Jom Kippur möchte ich dennoch versöhnlich mit Reiner Haseloffs | |
Fehltritt umgehen. | |
Der Grundgedanke des Festes ist, dass jeder Mensch Fehler begeht. Deshalb | |
steht in seinem Zentrum die Entschuldigung bei den Mitmenschen. In der | |
Woche vor Jom Kippur sollen die Gläubigen ihr Gewissen erforschen und | |
prüfen, welche Handlungen des vergangenen Jahres sie am meisten bereuen: | |
Wem habe ich Unrecht getan? Diese Personen müssen aufrichtig um Verzeihung | |
gebeten werden. Wenn die Entschuldigung nicht angenommen wird, empfiehlt | |
der Philosoph Maimonides, es noch einmal zu versuchen und dann ein drittes | |
Mal – im Beisein von Freund*innen, die die ehrliche Zerknirschung bezeugen. | |
Diese jahrtausendealte Praxis ritualisierter Reue und Vergebung strahlt | |
momentan große Anziehungskraft aus. Fastfood-Entschuldigungen werden | |
genauso leichtfertig und berechnend produziert [2][wie die Skandale], die | |
sie notwendig machen. Der RBB entschuldigt sich für Witze von Serdar | |
Somuncu, Christian Lindner entschuldigt sich bei Linda Teuteberg für | |
sexistische Bemerkungen, sogar Attila Hildmann hat für seine Chatgruppe | |
eine „Entschuldigung“ bei Volker Beck verfasst, nicht ohne ihn weiter zu | |
beleidigen. | |
## Bierdeckeldiskurs von Friedrich Merz | |
Paradigmatisch für diese Gratisentschuldigungen ist die von [3][Friedrich | |
Merz], der Homosexualität zuvor als „Lebensentwurf“ bezeichnet hatte: „W… | |
sich irgendjemand davon persönlich getroffen gefühlt hat, bedauere ich das | |
wirklich sehr.“ Nach dem Motto, Selber schuld, wenn ihr euch schlecht | |
fühlt! | |
Im Deutschen ist „sich entschuldigen“ eine besondere linguistische | |
Konstruktion. Im Kurs „Deutsch als Fremdsprache“ lernte ich, die Vorsilbe | |
„ent-“ bringt zum Ausdruck, dass etwas in seinen Ausgangszustand gebracht | |
wird. Eigentlich kann man nur um Entschuldigung bitten, „entschuldigen“ | |
kann nur die geschädigte Person. „Ich entschuldige mich“ ist hingegen eine | |
autoritäre Selbstbefreiung, bei der die Vergebung der anderen Person | |
vorausgesetzt wird; von ihr wird nur mehr erwartet, dem | |
Selbstvergebungsritual zu applaudieren. | |
Wer das nicht tut, gilt als Spielverderber*in. Hier kommt die deutsche | |
Sprache dem Trend zu Fastfood-Entschuldigungen entgegen: Oft werden | |
Entschuldigungen von Jurist*innen und Marketing-Fachleuten diktiert; sie | |
sind selbst schon Teil einer Image-Kampagne, genauso kalkuliert wie die | |
Grenzüberschreitung zuvor. Sie sind schließlich auch die billigste Methode, | |
sich aus der Affäre zu ziehen: sich entschuldigen kostet nichts. Für meinen | |
Geschmack verstärken derart zynische, rein der Form halber vorgetragene | |
Entschuldigungen noch das begangene Unrecht. | |
Entschuldigungen machen niemanden wieder lebendig. Gerade in | |
Auseinandersetzungen um rassistische und sexistische Äußerungen in der | |
Öffentlichkeit scheinen mir Entschuldigungen einen viel zu hohen | |
Stellenwert einzunehmen. Sie sorgen dafür, dass Entgleisungen oft auf einer | |
rein emotionalen Ebene diskutiert werden: Gefühle wurden verletzt, aber | |
durch eine Entschuldigung kann diese Verletzung wieder aufgehoben werden – | |
damit ist die Debatte meist wieder beendet. Die intellektuelle und | |
politische Dimension bleibt dabei völlig unreflektiert. | |
Man müsste sich hier stärker am [4][Jom Kippur] orientieren: Alle | |
Entschuldigungen eines Jahres wären künftig an einem einzigen Tag | |
abzuhandeln – dafür müsste man es aber ernst damit meinen. Der Vorteil | |
wäre: Alle falschen, sinnlosen oder heuchlerischen Entschuldigungen blieben | |
uns fürs restliche Jahr erspart. | |
8 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Meron Mendel | |
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