# taz.de -- Felix Klein ein Jahr nach dem Anschlag in Halle: „Ängste sind wi… | |
> Der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein sorgt sich ein Jahr nach dem | |
> Anschlag in Halle um jüdische Gemeinschaft – und kritisiert | |
> Sachsen-Anhalts Innenminister. | |
Bild: Hier scheiterte der Attentäter vor einem Jahr: die Tür zur Synagoge in … | |
taz: Herr Klein, vor einem Jahr attackierte ein Rechtsextremist [1][die | |
Synagoge in Halle] und tötete zwei Menschen. Erinnern Sie sich noch, wie | |
Sie damals davon erfuhren? | |
Felix Klein: Ja, ich war mit meiner Frau auf dem Weg von der Gedenkstätte | |
Auschwitz-Birkenau zurück nach Berlin. Es war ein Schock für mich, wie für | |
alle. Wir hatten gerade zuvor wichtige Strukturen gegen den Antisemitismus | |
auf den Weg gebracht, eine Bund-Länder-Kommission, das Meldesystem Rias. | |
Und dann das. Ich fühlte mich sehr machtlos. | |
Der Täter wollte ein Massaker anrichten. Nur die Synagogentür hinderte ihn | |
daran. Hätten Sie so eine Tat für möglich gehalten? | |
Dass ein Anschlag im Bereich des Möglichen ist, glaubte ich schon. Gerade | |
wenn man sah, wie sehr sich der Ton im Internet radikalisierte. Aber solch | |
eine hasserfüllte, menschenverachtende Tat in dieser Dimension hatte ich | |
nicht erwartet. | |
Die Synagoge war damals nicht von der Polizei geschützt. Ein | |
unverzeihlicher Fehler? | |
Unverzeihlich wäre es gewesen, wenn es vorsätzlich passiert wäre. Aber | |
offenbar wusste die Polizei ja gar nicht, dass dort Jom Kippur gefeiert | |
wurde und ein erhöhter Sicherheitsbedarf bestand. | |
Aber das ist doch genauso ein Problem. | |
Ja, natürlich. Das war eine Nachlässigkeit, die nicht hinnehmbar ist. Und | |
dieser antisemitische Anschlag, der letztlich zwei Nichtjuden das Leben | |
gekostet hat, war ja auch eine Zäsur. Er hat die Sicherheitsbehörden | |
aufgerüttelt. Heute ist die Gemeinde in Halle permanent bewacht. Und die | |
Polizei hat sich weiterentwickelt, der Umgang mit religiösen Feiertagen | |
wurde verbessert. | |
Vor wenigen Tagen attackierte jedoch ein Mann [2][vor einer Synagoge in | |
Hamburg einen Gläubigen], verletzte ihn schwer. Wie sicher leben Juden in | |
Deutschland noch? | |
Hamburg hat ja gezeigt, dass diesmal Schutzmaßnahmen griffen. Den Feiertag | |
hatte die Polizei dort auf dem Schirm. Und die polizeilichen Objektschützer | |
haben den Angreifer sofort verhaftet und weitere Gewalt verhindert. | |
Den Angriff auf den jungen Gläubigen aber nicht. | |
Absoluten Schutz kann es nicht geben. Aber natürlich sollte der Anschlag | |
ein Anlass sein, um Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen noch | |
einmal zu überprüfen. | |
Also ist seit dem Halle-Anschlag zu wenig passiert? | |
Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall. Der Bund und die Länder mühen | |
sich hier mit aller Kraft. Gerade erst hat das Bundesinnenministerium 22 | |
Millionen Euro für bauliche Schutzmaßnahmen bereitgestellt, auch die Länder | |
haben noch mal Geld in die Hand genommen. Zudem hat die Bundesregierung ein | |
umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, etwa die Meldepflicht für | |
Online-Hasspostings an das BKA, von der ich mir viel im Kampf gegen | |
Antisemitismus verspreche. Denn die Klientel weicht zurück, wenn sie | |
Gegendruck bekommt und die Polizei vor der Tür steht. Und wir haben in | |
Halle ja gesehen, dass die Wurzel der Bedrohung eine Radikalisierung im | |
Internet war. | |
Reicht das? Nach dem Hamburg-Angriff forderte der Zentralrat der Juden | |
wieder mal [3][mehr Schutz für Glaubenseinrichtungen] und einen | |
entschiedenen gesellschaftlichen Einsatz gegen Antisemitismus. | |
Es gibt sicher weiter Verbesserungsmöglichkeiten. Ich würde mir etwa | |
wünschen, dass die Polizei bundesweit den jüdischen Kalender kennt und | |
weiß, an welchen Anlässen besonderer Schutz nötig ist. Und richtig ist | |
auch, dass der Staat die Sache nicht allein richten kann. Dafür braucht es | |
eine mutige Zivilgesellschaft, die gegenhält, wenn sich Antisemitismus | |
äußert. Das ist das Allerwichtigste. Ich glaube, der beste Schutz wäre, | |
wenn jüdisches Leben viel stärker als etwas Selbstverständliches | |
wahrgenommen würde, als Teil deutscher Diversität. Dafür müssen wir mehr | |
tun. | |
Die Lage ist nach dem Halle-Anschlag und dem Angriff in Hambrug eine | |
andere: Die jüdische Community fühlt sich massiv bedroht. | |
Ja, das nehme ich auch so wahr, sie ist sehr in Sorge. Und das ist ja auch | |
sehr verständlich. Nachdem die Politik auf Halle reagiert hatte, war mein | |
Eindruck, dass in der Gemeinschaft etwas Beruhigung eingetreten war. Aber | |
jetzt sind die Ängste wieder da. Das müssen wir sehr ernst nehmen. | |
Ist das nicht gerade für Deutschland mit seiner Geschichte ein | |
Armutszeugnis? | |
Diese Sorgen müssen uns alarmieren, absolut. Allein die Tatsache, dass | |
jüdische Familien diskutieren, ob sie in Deutschland weiterleben können, | |
ist mehr als ein Alarmsignal. | |
Sie sind als Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung unterstellt. | |
Müssen Sie angesichts dessen nicht mehr Druck machen? | |
Wir unternehmen erhebliche Anstrengungen. Auch die Bundeskanzlerin | |
persönlich ist sehr engagiert. Allen ist der Ernst der Lage bewusst. | |
Viele Betroffene aber sagen: Wir wollen nicht mehr Zuspruch, [4][wir wollen | |
Taten sehen]. | |
Die hat es ja bereits gegeben. Viele der beschlossenen Maßnahmen müssen | |
jetzt erstmal umgesetzt werden. Dennoch wird es in Kürze einen weiteren | |
Maßnahmenkatalog geben, vom Kabinettsausschuss zur Bekämpfung des | |
Rechtsextremismus. | |
Im vorigen Jahr stieg die Zahl antisemitischer Straftaten um 13 Prozent, | |
auf gut 2.000 Delikte. Was ist Ihre Erklärung dafür? | |
Der Anstieg ist vor allem der Verrohung im Internet geschuldet und den | |
dortigen Volksverhetzungen und Holocaustleugnungen. Es gibt aber auch eine | |
positive Erklärung: Die Betroffenen bringen diese Vorfälle stärker zur | |
Anzeige. Das ist eine gute Entwicklung und etwas, zu dem ich auch ermutige. | |
Den Hass sichtbar zu machen, ist der erste Schritt zur Bekämpfung. | |
Warum landet solcher Hass immer wieder bei antisemitischen Ausfällen? | |
Das wundert mich nicht. Der Antisemitismus ist so eingeübt in unserer | |
Kultur, gerade in Zeiten von Unsicherheiten wird immer wieder darauf | |
zurückgegriffen. Schon im Mittelalter wurden Juden für die Pest | |
verantwortlich gemacht, heute wiederholt sich das beim Corona-Virus. Das | |
ist wirklich fatal. | |
Gerade beförderte selbst Sachsen-Anhalts [5][Innenminister Holger | |
Stahlknecht] (CDU) Antisemitismus, indem er auf Einsatzzeiten von | |
PolizistInnen vor jüdischen Gebäuden verwies, die anderswo fehlten. | |
Juden als privilegierte Menschen hinzustellen, für die Maßnahmen auf Kosten | |
der Allgemeinheit ergriffen würden, schürt tatsächlich Antisemitismus. Es | |
geht nicht, dass Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Leider brauchen | |
jüdische Gemeinden eine erhöhte Sicherheit, aber das liegt doch nicht an | |
den Juden, sondern an der Bedrohung gegen sie. Und der Staat hat die | |
Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie ihre Religion uneingeschränkt ausüben | |
können. Ich finde, er muss dafür auch 100 Prozent der Sicherheitskosten | |
tragen. Denn es geht hier um ein Grundrecht. | |
Glauben Sie, der Antisemitismus lässt sich eines Tages besiegen? | |
Er lässt sich zumindest so weit zurückdrängen, dass die Lebensqualität | |
erheblich verbessert werden kann. Davon profitiert die gesamte | |
Gesellschaft, nicht nur die Juden. Die große Mehrheit in Deutschland ist | |
demokratisch eingestellt und wachsam. Das gibt mir Hoffnung. | |
9 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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