# taz.de -- Hamburger Rabbiner über Judenhass: „Dann hat er mich angegriffen… | |
> Der Hamburger Rabbiner Daniel Alter ist nie ohne Hut oder Mütze auf | |
> seiner Kippa unterwegs – zu groß ist die Gefahr, als Jude identifiziert | |
> zu werden. | |
Bild: Nach dem Übergriff: Blumen, Kerzen und Briefe auf dem Gehweg nahe der Sy… | |
taz: Herr Alter, an Ihrem ersten Wochenende als Rabbiner in Hamburg gleich | |
ein Übergriff auf einen jüdischen Studenten in der Stadt. Was bedeutet das | |
für Sie? | |
Daniel Alter: Zynisch gesprochen: Das ist unser normales Leben. Auch wenn | |
dieser Übergriff relativ spektakulär war, ist diese [1][Art der Bedrohung | |
ein Teil unserer täglichen Realität]. Das ist bedauerlich und wir | |
versuchen, uns zu wehren. Aber es ist keine sonderliche Überraschung. | |
Wurden Sie schon einmal von Verschwörungsgläubigen angegangen? | |
Nein. Das hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass ich [2][immer noch | |
einen Hut oder eine Mütze auf meiner traditionellen Kopfbedeckung trage] | |
und deswegen nicht als Jude identifizierbar bin. | |
Warum machen Sie das? | |
In Deutschland ist es an vielen Orten nicht empfehlenswert, als Jude | |
identifiziert zu werden. Ich kann mir vorstellen, dass es auch in Hamburg | |
Stadtteile gibt in denen es problematisch sein kann. Allerdings kenne ich | |
Hamburg noch nicht gut genug, bisher habe ich mich hier recht sicher und | |
wohl gefühlt. | |
Ändert der Übergriff an diesem Gefühl etwas? | |
Nein, es kann einfach immer und überall passieren. Für mich ändert sich | |
also nichts, eine gewisse Vorsicht ist ohnehin immer dabei. | |
Sie wurden [3][2012 in Berlin auf offener Straße angegriffen]. Können Sie | |
die Szene beschreiben? | |
Ich war mit meiner damals siebenjährigen Tochter auf dem Heimweg. Da bin | |
ich einer Gruppe von fünf jungen Erwachsenen begegnet. Meiner Meinung nach | |
hatten sie einen muslimischen Migrationshintergrund. Der eine fragte mich: | |
„Bist Du Jude?“, und ich hab automatisch gesagt: „Ja.“ Er begann, alle | |
weiblichen Mitglieder meiner Familie zu bedrohen. Wir waren schon kurz vor | |
der Haustür und ich bin ihm ein Stück entgegengegangen, um Distanz zwischen | |
ihn und meine Tochter zu bringen. Dann hat er mich angegriffen. Er brach | |
mir mit einem Schlag das Jochbein. Ich wollte so schnell wie möglich | |
aufstehen und mich wehren, aber einer hat mir von hinten auf den Kopf | |
geschlagen. Dann sind sie weggerannt. | |
Wo beginnt für Sie Antisemitismus? | |
Ich finde den Ausdruck Judenhass viel treffender. Ich bin in Hessen | |
aufgewachsen und zu Fasching gibt es ganz kleine Kracher. Im Hessischen war | |
es völlig normal, die einen „Judenfurz“ zu nennen, weil die nicht besonders | |
laut knallen. Nicht mal das können sie anständig. Das wäre zum Beispiel | |
alltäglicher Judenhass. | |
Warum verwenden Sie lieber den Begriff Judenhass? | |
Semiten sind nicht nur Juden. Ein großer Teil der Menschen, die Hass auf | |
Juden propagieren, sind selbst Semiten, beispielsweise arabische Menschen. | |
Spricht man von Antisemitismus, entsteht eine Unschärfe. Außerdem ist der | |
Begriff etwas euphemistisch. Dann könnte man eine Atommülldeponie auch | |
Entsorgungspark nennen. Ich plädiere dafür, dass man die Begriffe | |
deutlicher differenziert. | |
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, warnt vor zunehmendem | |
Judenhass während Corona. Warum kocht das wieder hoch? | |
Wir befinden uns schon seit Jahren in einer ganz bedrängenden Situation. | |
[4][Das fing etwa 2014 an, als ein Mob durch Berlin zog] und skandierte: | |
„Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ Ich sehe nicht, dass die öffentliche | |
Eskalation während Corona sehr viel schlimmer geworden ist. Wir haben da | |
[5][dominante Figuren wie Attila Hildmann oder Xavier Naidoo], aber solche | |
Typen gab es auch vor Corona. Lassen Sie es mich zynisch ausdrücken: | |
Nachdem klar wurde, welches Ausmaß die Pandemie haben wird, hat es | |
eigentlich recht lang gedauert, bis Brunnenvergifterlegenden auftauchten. | |
Wir mussten fast 48 Stunden warten, bis Geistesgrößen auf die Idee kamen, | |
eine Verbindung zwischen dem Weltjudentum oder Israel und der Pandemie | |
herzustellen. Das hat mich beinahe überrascht. | |
Verschwörungsgläubige demonstrieren teilweise mit gelben Davidsternen, auf | |
denen das Wort „ungeimpft“ steht. Wie interpretieren Sie das? | |
Die Motive der Menschen zu interpretieren, ist nicht so einfach. Aber es | |
ist eine Verharmlosung der Shoah. Auch das ist für mich nicht neu. Ich kann | |
mich erinnern, dass vor über zehn Jahren ein schärferer Leinenzwang und | |
Maulkorbpflicht für Hunde in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. | |
Irgendwelche Hundefreunde bezeichneten das dann als einen Holocaust. Das | |
ist dasselbe, völlig verrutschte Denken, das das größte Verbrechen der | |
Menschheit in völlig falsches Licht setzt. Gerade vor dem Hintergrund, dass | |
es immer weniger Zeitzeugen gibt, ist das eine dramatische Entwicklung. | |
Und was löst das bei Ihnen aus? | |
Es ist für mich unheimlich schwer, damit umzugehen. Ein Teil meiner | |
Großeltern, Onkel und Tanten wurden in Auschwitz umgebracht. Mein Vater | |
hatte Glück, dass er körperlich so kräftig war, dass er nur einen Tag in | |
Auschwitz blieb und dann in das Arbeitslager in Mauthausen gebracht wurde. | |
Hätte der Krieg ein paar Tage länger gedauert, wäre er dort auch gestorben. | |
Wie viele Menschen meiner Generation trage ich die Traumata der | |
Überlebenden in mir. Das ist das sogenannte Second Generation Syndrom. Es | |
kostet mich unheimliche Anstrengungen, einigermaßen rational damit | |
umzugehen. Und wenn ich mich nicht professionell damit auseinandersetzen | |
muss, versuche ich es emotional nicht an mich heran zulassen. Das ist | |
Selbstschutz. | |
Würden Sie mit Verschwörungsgläubigen ins Gespräch treten? | |
Das halte ich für Zeitverschwendung. Aber lassen Sie mich das | |
differenzieren. Mit Xavier Naidoo oder Attila Hildmann muss man nicht mehr | |
reden, das wäre sinnlos. Wenn es um Menschen geht, die solchen | |
Rattenfängern nachlaufen, kann man unter Umständen Erfolge erzielen, wenn | |
man viel Zeit und Geduld aufbringt. | |
Wie kann die Politik auf den Judenhass reagieren? | |
Das muss man unter anderem durch Bildung regeln: Wie man Informationsflut | |
filtern kann und wie man erkennt, welche Nachrichten Verschwörungsmythen | |
sind und welche nicht. Es gab [6][2012 eine Kleine Anfrage an den Bundestag | |
zur Antisemitismuslage in Deutschland]. Die hat erschreckende Zahlen zu | |
Tage gebracht. Es gibt bei 25 Prozent der Bevölkerung latenten | |
Antisemitismus. Eine Expertenkommission empfahl dem Bundestag, dass der | |
Umgang mit dieser Problematik, dem Hass auf Juden, Teil der | |
Lehrerausbildung sein sollte. Das ist – nach meinem Kenntnisstand – bis | |
heute in keinem Bundesland umgesetzt worden. Ich persönlich empfinde das | |
als Skandal. | |
Würde ein Antisemitismus-Beauftragter helfen? | |
Der [7][deutsch-israelische Autor und Psychologe Ahmad Mansour] sollte ja | |
eigentlich Antisemitismus-Beauftragter werden. Darauf hatte man sich vor | |
ein paar Wochen geeinigt, aber nur pro bono, nur ehrenamtlich. Und das hat | |
Mansour abgelehnt. Er habe keine Lust, nur betroffene Reden zu halten, wenn | |
wieder mal etwas passiert ist. Das verstehe ich und finde es ausgesprochen | |
bedauerlich. Die ehrenamtlichen Antisemitismus-Beauftragten machen hier | |
gute Arbeit, aber wir brauchen – auch in Hamburg – dennoch jemanden, der | |
sich Vollzeit kümmert, der Programme umsetzt und eben nicht nur betroffene | |
Reden hält. | |
Wie bereiten Sie Ihre Kinder darauf vor, dass sie mit Judenhass | |
konfrontiert werden? | |
Als meine älteste Tochter in der ersten Klasse war, las sie auf einem | |
Klettergerüst: „Scheiß Juden, alle raus.“ Ich musste es ihr erklären. Na… | |
dem Angriff auf mich in Berlin haben wir sehr viel öffentliche Solidarität | |
erfahren. Wir haben täglich mindestens zwei Leute getroffen, die zu uns | |
kamen, um uns Unterstützung anzubieten. Wir haben viele Briefe und E-Mails | |
bekommen, darunter auch von mehreren Kinder- und Jugendtherapeuten, die | |
angeboten haben, das mit uns aufzuarbeiten. Was für meine Kinder | |
wahrscheinlich wichtig war, war, dass ich sehr rational damit umgehen | |
konnte. Ich bin nicht wutentbrannt durch die Gegend gelaufen, habe keinen | |
Hass versprüht, ich bin auch nicht vor Angst zerflossen. Natürlich bin ich | |
von Menschen mit muslimischem Background angegriffen worden, aber ich wurde | |
nicht von „den Moslems, den Arabern oder den Türken“ angegriffen. Die | |
Verantwortung oder Schuld ist auch hier eine individuelle und keine | |
kollektive. Und irgendwie kam das bei meinen Kindern auch richtig an. | |
Was raten Sie Menschen, die ähnliche Situationen erlebt haben? | |
So was darf man nicht in sich reinfressen, sondern man muss an die | |
Öffentlichkeit gehen und darüber reden. Der verkehrte Weg wäre, zu sagen: | |
Ich traue mich nicht mehr aus dem Haus. Das ist ein Loch, aus dem man nicht | |
mehr so schnell raus kommt. Dadurch, dass ich nicht mehr überall und an | |
jedem Ort meine Kippa aufhabe, bewege ich mich genauso unbeschwert wie | |
früher. | |
Haben Sie schon mal daran gedacht, Deutschland zu verlassen? | |
Prinzipiell ist das immer eine Option. Ich bin hier, ich arbeite hier, ich | |
versuche mich positiv in die Gesellschaft einzubringen. Und wenn ich die | |
Gelegenheit habe, agiere ich gegen Judenhass, Muslimenhass, Homophobie oder | |
Hass auf Sinti und Roma. Aber wenn die Situation sich noch weiter | |
verschlimmert, kann es irgendwann unerträglich werden. Ich bin hier, aber | |
das ist nicht in Stein gemeißelt. | |
7 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Antisemitischer-Angriff-in-Hamburg/!5715981/ | |
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[4] /Anti-israelische-Demos-in-Berlin/!5037193/ | |
[5] /Koepfe-der-Corona-Relativierer/!5681132/ | |
[6] https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2012/37499490_kw04_antisemiti… | |
[7] /Ahmad-Mansour-im-Interview/!171193/ | |
## AUTOREN | |
Deborah Kircheis | |
Ilka Kreutzträger | |
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