# taz.de -- Antisemitischer Angriff in Hamburg: Verwirrt, Einzeltäter – wie … | |
> Auf antisemitische Attentate folgen die immer gleichen, leeren | |
> Politphrasen. Dabei müsste längst klar sein: Solidarität allein reicht | |
> nicht. | |
Bild: Am Sonntagabend, 4. Oktober, kam es vor der Synagoge in Hamburg zu dem An… | |
Wenn mal wieder etwas Schreckliches passiert, ein antisemitischer Überfall, | |
eine antisemitische Attacke, ein Anschlag, dann nimmt Betroffene nicht nur | |
die Tat an sich mit, nicht sie allein schmerzt. Was ermüdend ist, was | |
wehtut und wütend macht, ist für viele, was sich am Rande abspielt. Der | |
sich wiederholende Zirkus drumherum quasi. | |
Am Sonntag feierten die jüdischen Gemeinden in Deutschland Sukkot, das | |
sogenannte Laubhüttenfest. Bis zu dem Moment, als vor der Hamburger | |
Synagoge am Nachmittag [1][ein 26-jähriger jüdischer Student angegriffen | |
wurde]. Der Täter soll laut Polizeiangaben Tarnkleidung getragen haben und | |
den Studenten mit einem Klappspaten erheblich im Gesicht verletzt haben. | |
Außerdem habe die Polizei in der Hosentasche des Täters ein Papier mit | |
einem handschriftlich aufgemalten Hakenkreuz gefunden. Die Beamten schätzen | |
die Tat mittlerweile als versuchten Mord ein, mutmaßlich mit | |
antisemitischem Hintergrund. | |
Viel mehr ist bislang nicht bekannt. Der Täter soll ein 29-jähriger | |
Deutscher aus Berlin „mit kasachischen Wurzeln“ sein. Er soll einen „extr… | |
verwirrten Eindruck“ gemacht haben, sagte eine Polizeisprecherin am | |
Sonntagabend. | |
Man hörte Deutschland kollektiv aufatmen, als diese Details bekannt wurden. | |
Nochmal Glück gehabt. Keiner „von uns“ also. Jedenfalls nicht so richtig. | |
Denn ein Täter mit kasachischen Wurzeln, das macht ihn doch irgendwie zum | |
Ausländer, oder? Und ist Kasachstan nicht ein muslimisch geprägtes Land? | |
## Der Mythos lebt | |
Klar, mit der deutschen Gesellschaft hat dieser Antisemitismus mal wieder | |
nichts zu tun. Ein angeblich in Kasachstan verwurzelter Täter, der auch | |
noch einen verwirrten Eindruck machte. Verwirrter Einzeltäter, der Mythos | |
lebt. Dass der Täter aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Deutschland, | |
das es nicht schafft, seine Nazi-Vergangenheit und -Gegenwart zu | |
bearbeiten, sozialisiert wurde – sei's drum. | |
Schon [2][beim Anschlag in Halle] sprach man beim Täter von einer psychisch | |
kranken, also verwirrten Person. Macht ihn das weniger oder mehr zum | |
Antisemiten, Rassisten, Rechtsextremisten? | |
Antisemitische und rassistische Taten werden selten sofort als das gesehen, | |
was sie sind: antisemitisch und rassistisch. Stattdessen werden die | |
Verbrechen pathologisiert. Es ist einfacher, von einem antisemitischen | |
Einzelgänger zu sprechen, der versuchte, an Jom Kippur eine Synagoge zu | |
stürmen und ein Massaker anzurichten. Oder von einem einzelnen Rassisten, | |
der in Hanau zehn Menschen ermordete. Es ist einfacher, | |
rechtsextremistische Chatgruppen bei der Polizei als vereinzelte Probleme | |
wahrzunehmen. Einzelgänger. Einzeltäter. Einzelfälle. Niemals Zusammenhang | |
oder Kontinuität. Sonst müsste man ja als Gesellschaft fragen: Was hat das | |
mit mir zu tun? Und als Staat: Wie können wir diese Menschen besser | |
schützen? Und warum haben wir uns so lange geweigert, das ernsthaft zu tun? | |
Kurz nach der Tat am Sonntag meldete sich Bundesaußenminister Heiko Maas | |
auf Twitter zu Wort: Die Tat sei „widerlicher Antisemitismus“, „wir alle�… | |
müssten uns dem entgegenstellen. | |
## Schutz ist keine Normalität | |
Es sind solche und andere leere Phrasen, die ebenfalls zum Zirkus nach | |
antisemitischen Attacken gehören. Ein einstudiertes Ritual. Dabei können | |
Rituale in manchen Situationen ja hilfreich sein, Sicherheit bieten. Im | |
Bezug auf Antisemitismus sind sie aber so überflüssig wie Kerzen oder | |
Blumen vor Synagogen. Nette Aufmerksamkeiten und lieb gemeint, jedoch so | |
lange unnütz, bis tatsächlicher Schutz endlich Normalität wird. | |
Jüdische Menschen in Deutschland müssen seit Jahrzehnten aus der Position | |
des Bittstellers ihre Forderungen vortragen: Bessere Aufklärungsarbeit in | |
Schulen, die strafrechtliche Verfolgung von antisemitischen Taten, | |
Schutzkonzepte für ihre Einrichtungen. Denn auch ein Jahr nach Halle sind | |
die meisten jüdischen Gemeinden noch immer „nicht sicher“. | |
Das haben die Journalisten Alex Rühle und Ronen Steinke recherchiert, ihr | |
Text erschien kürzlich [3][in der Süddeutschen Zeitung.] Ran Ronen, | |
Dezernent für Sicherheit im Zentralrat der Juden, sagt darin: Die Mängel | |
beruhten darauf, dass Landesregierungen nicht bereit seien, „die Gefahr auf | |
dem Niveau zu bewerten, wie es sein sollte“. | |
Am Freitag, den 9. Oktober, jährt sich der antisemitische und | |
[4][rassistische Anschlag von Halle.] Besonders für jüdische Menschen | |
erinnert die Tat vom Sonntag deshalb an die Ereignisse von vor einem Jahr. | |
Gerade jetzt dürfen sie mehr erwarten als solidarische Worte. | |
## Antisemitismus ist wie Herpes | |
[5][In dem erst kürzlich ausgezeichneten (und wirklich sehenswerten) Film | |
„Masel Tov Cocktail“] von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch sagt der | |
16-jährige Dima, die Figur eines russischen Juden in Deutschland, einen | |
entscheidenden Satz: „Antisemitismus ist wie Herpes. Niemand kennt 'n | |
Heilmittel gegen den Scheiß. Man klebt kleine Pflaster auf die Eiterblasen | |
und hofft, dass er schnell wieder verschwindet.“ | |
Leere „wir alle“-Phrasen und das inkonsequente Verfolgen antisemitischer | |
Taten und rechtsextremer Strukturen sind solche Pflaster. Am Ende kommen | |
die Bläschen immer wieder. | |
5 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /26-Jaehriger-schwer-am-Kopf-verletzt/!5718373 | |
[2] /Prozess-zum-Anschlag-in-Halle/!5699441 | |
[3] https://www.sueddeutsche.de/politik/judentum-anschlag-halle-jom-kippur-1.50… | |
[4] /Jom-Kippur-nach-dem-Attentat-in-Halle/!5716839&s=Halle/ | |
[5] https://www.daserste.de/unterhaltung/film/filme-im-ersten/videos/masel-tov-… | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
## TAGS | |
Antisemitismus | |
Vergangenheitsbewältigung | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Gedenken | |
Halle | |
Hamburg | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Judentum | |
Halle | |
Antisemitismus | |
Religionsfreiheit | |
Antisemitismus | |
Jüdische Gemeinde Hamburg | |
Terroranschlag | |
Synagoge | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ermordete Shoah-Überlebende: Blanka Zmigrod, unvergessen | |
Ein Rechtsterrorist ermordet die Shoah-Überlebende 1992 in Frankfurt am | |
Main. Eine Petition will verhindern, dass Zmigrod in Vergessenheit gerät. | |
Kein Bafög für Halle-Überlebende: Auf Todesangst folgt Existenzangst | |
Eine Studentin wurde Opfer des Terroranschlags in Halle. Nun wurde ihr das | |
Bafög gestrichen, weil sie nicht mehr arbeiten kann. | |
Anschlag vor Synagoge in Hamburg: Attacke laut Anklage unpolitisch | |
Die Hamburger Staatsanwaltschaft will den Mann, der vor der Synagoge einen | |
Juden attackierte, anklagen. Ein politisches Motiv sieht sie nicht. | |
Prozess zum Nazi-Anschlag von Halle: Kein Wahn | |
Der Attentäter von Halle tötete 2019 zwei Menschen und plante ein Massaker. | |
Vor Gericht ging es am Dienstag erstmals um seine Schuldfähigkeit. | |
Jüdisches Museum Frankfurt neu eröffnet: Selbstbewusstsein der Verfolgten | |
Nach fünf Jahren Umbau präsentiert das Jüdische Museum Frankfurt eine neue | |
Dauerausstellung. Sie richtet den Blick nicht nur auf Vergangenes. | |
Gedenken an antisemitischen Anschlag: Steinmeier fordert Zusammenstehen | |
Am Jahrestag des Anschlags auf die Synagoge in Halle wird den Opfern | |
gedacht. Die Gesellschaft müsse zusammenhalten, sagt der Bundespräsident. | |
Hamburger Rabbiner über Judenhass: „Dann hat er mich angegriffen“ | |
Der Hamburger Rabbiner Daniel Alter ist nie ohne Hut oder Mütze auf seiner | |
Kippa unterwegs – zu groß ist die Gefahr, als Jude identifiziert zu werden. | |
Attacke vor Synagoge in Hamburg: Keine Akzeptanz für Antisemitismus | |
Man darf dem Antisemitismus nicht nachgeben. Kinder und Jugendliche dürfen | |
nicht in einer Gesellschaft aufwachsen, die sich damit abfindet. | |
Schutz von jüdischen Einrichtungen: Steilvorlage für Antisemiten | |
Die Äußerung von Sachsen-Anhalts Innenminister über Polizei vor jüdischen | |
Einrichtungen fördert Antisemitismus. Auch wenn er es nicht so gemeint hat. | |
Angriff vor Synagoge in Hamburg: Jüd:innen fordern mehr Schutz | |
Nach dem Angriff auf einen jüdischen Studenten wird immer mehr über den | |
mutmaßlichen Täter bekannt. Verbände mahnen an, Konsequenzen zu ziehen. | |
Angriff vor Synagoge in Hamburg: Mit Militärkleidung und Hakenkreuz | |
Die Attacke vor der Hamburger Synagoge am Sonntag soll antisemitisch | |
motiviert gewesen sein. Hinweise auf Mittäter*innen gebe es bislang nicht. | |
26-Jähriger schwer am Kopf verletzt: Angriff vor Hamburger Synagoge | |
Nach einer mutmaßlich antisemitischen Attacke ermittelt der Staatsschutz. | |
Das Opfer ist außer Lebensgefahr. Jüdische Verbände und Politiker:innen | |
sind entsetzt. | |
Prozess gegen Halle-Attentäter: Ohne Scham menschenverachtend | |
Am Dienstag ging der Prozess gegen den Attentäter von Halle weiter. Dieser | |
machte keinen Hehl aus seiner rechtsextremen Weltanschauung. |