| # taz.de -- Prozess zum Nazi-Anschlag von Halle: Kein Wahn | |
| > Der Attentäter von Halle tötete 2019 zwei Menschen und plante ein | |
| > Massaker. Vor Gericht ging es am Dienstag erstmals um seine | |
| > Schuldfähigkeit. | |
| Bild: Der abgesperrte Tatort vor der Jüdischen Synagoge in Halle (Saale) am Ta… | |
| Magdeburg taz | Menschen neigen dazu, ihnen unerklärliche Taten zu | |
| pathologisieren, die Täter als irre oder krankhaft zu deklarieren. Auch der | |
| Zeuge Valentin Lutset spricht an diesem Dienstagmorgen am Landgericht | |
| Magdeburg von Antisemitismus als Krankheit, als Krebsgeschwür. Von dieser | |
| Krankheit sei nicht nur der Täter betroffen, sondern die Gesellschaft. | |
| Lutset hatte vor gut einem Jahr die Entscheidung getroffen, mit einer | |
| jungen Gruppe berliner Jüd:innen an Jom Kippur nach Halle in die Synagoge | |
| zu fahren. Gerade deswegen habe er die Aussage im Prozess zum | |
| [1][antisemitischen Terroranschlag von Halle] lang vor sich hergeschoben, | |
| sagt er. Als er begriff, wie politisch der Prozess sei, habe er sich | |
| entschlossen, auszusagen. | |
| „In den letzten drei Monaten habe ich mich nicht getraut hier zu sein. Ich | |
| möchte aber darauf hinweisen, dass das Problem an uns allen liegt und nicht | |
| an dem Täter. Der Einzeltäter ist nur ein Werkzeug des | |
| gesamtgesellschaftlichen Problems“, sagt er. Das diese Erkenntnis später am | |
| Dienstag entscheidend für die Einschätzung der Schuldfähigkeit des Täters | |
| sein wird, dürfte Lutset an diesem Punkt noch nicht ahnen. | |
| Als irre oder krankhaft zu gelten – das wollte der Täter unter allen | |
| Umständen verhindern, berichtetet eine psychologische Sachverständige da. | |
| Sie hatte im vergangenen Jahr Intelligenz- und Persönlichkeitstests mit dem | |
| Täter durchgeführt. In der statistischen Auswertung der Tests zeigten sich | |
| eine durchschnittliche Intelligenz, von der Norm abweichende Werte in Bezug | |
| auf Depressionen und Naivität aber auch Hinweise die stark darauf | |
| hindeuten, dass der Mann nicht wahrheitsgemäß geantwortet hat. „Bei | |
| authentischer und ehrlicher Beantwortung hätten sich wohl mehr Ausschläge | |
| im auffälligen Bereich ergeben“, sagt die Sachverständige. | |
| ## „Es gibt keinen kollektiven Wahn“ | |
| Steht das Ego des Täters also der Einschränkung seiner Schuldfähigkeit im | |
| Weg? Mitnichten. Tiefergehend und insgesamt über zwölf Stunden beschäftigte | |
| sich der Neurologe und psychiatrischer Forensiker Norbert Leygraf mit der | |
| Psyche des Angeklagten. Dieser habe gern geredet, solange es um die Tat und | |
| die von ihm vertretenen Verschwörungsideologien ginge, sagt Leygraf. Bei | |
| persönlichen Fragen sei er aber angespannt gewesen und hätte die | |
| Untersuchung bald und lautstark abgebrochen. | |
| Aus früheren Krankenakten und wenigen Zeugenaussagen ergibt sich vom Täter | |
| das Bild eines Einzelgängers, der stets auffällig war. Sein Leben war von | |
| Ablehnung und persönlichem Scheitern geprägt. Und doch ist es keine | |
| Geschichte eines Antihelden, der aus einem plötzlichen Wahn heraus handelt. | |
| Das persönliche Schicksal war nur ein Nährboden für | |
| Verschwörungsideologien. „Das hat ihn empfänglicher gemacht, weil sie eine | |
| außerhalb von ihm liegende Erklärung für sein Scheitern bieten“, sagt | |
| Leygraf. | |
| Der Forensiker attestiert dem Täter eine umfassende Persönlichkeitsstörung | |
| mit dem Rechtsbegriff „seelische Abartigkeit“. Voll schuldfähig sei der | |
| Täter dennoch. | |
| Wie passt das zusammen? Das erfragen sowohl ein Richter als auch der | |
| Verteidiger des Angeklagten. „Es geht um krankhaftes Wahnverhalten“, sagt | |
| Leygraf. Dieses aber sei bei dem Täter nicht vorzuweisen. Die kollektive | |
| Ebene ist zentral in seiner Argumentation. Weder glaubte der Täter an eine | |
| Verschwörung, die sich an ihn persönlich richtete, noch habe er eigene | |
| Verschwörungstheorien. „Er vertritt Verschwörungsideologien, die viele | |
| andere Menschen auch vertreten“, sagt Leygraf. Und weiter: „Es gibt keinen | |
| kollektiven Wahn“. | |
| Der Täter hatte nachweislich im Laufe seiner Biografie kaum soziale | |
| Kontakte. Laut Leygraf habe sich der Täter eher einer diffusen Gruppe | |
| weißer Männer zugehörig gefühlt und sich die ihm passenden | |
| Meinungsäußerungen aus dem Internet herausgesucht, um seine eigenen | |
| Ansichten zu begründen Meinung begründet. Vorhergegangene [2][rechtsextreme | |
| Attentate] wie Christchurch und Utøya galten ihm als Vorbild. Dem | |
| Onlineverhalten des Täters und der globalen Vernetzung rechter und | |
| rechtsextremistischer Ideologien und Personen im Internet widmet sich der | |
| kommende 19. Verhandlungstag ausführlicher. | |
| 4 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Pia Stendera | |
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