| # taz.de -- Gedenken an den Halle-Anschlag: Noch mehr Liebe | |
| > Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle wurde der Opfer | |
| > gedacht. Die Tat ist nicht vergessen, doch der Hass hat auch nicht | |
| > gewonnen. | |
| Bild: Gibt sich kämpferisch: Max Privorozki (links), Vorsteher der jüdischen … | |
| HALLE/BERLIN taz | Am Freitagnachmittag stehen sie im Hof der jüdischen | |
| Synagoge in Halle: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, | |
| Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, Ministerpräsident Reiner | |
| Haseloff, Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand. Die Polizei hat die | |
| Straße abgesperrt, die PolitikerInnen enthüllen ein Denkmal, legen Blumen | |
| ab, senken die Köpfe. Jetzt sind alle da. | |
| Vor einem Jahr war die jüdische Gemeinde in Halle noch allein. | |
| [1][Am 9. Oktober 2019], um kurz nach 12 Uhr, war der Rechtsextremist | |
| Stephan B. schwer bewaffnet vor der Synagoge vorgefahren. Die Gemeinde | |
| beging dort gerade Jom Kippur, ihren höchsten Feiertag. Der uniformierte | |
| 28-Jährige wollte ein Massaker anrichten und live ins Internet übertragen. | |
| Polizei war damals nicht vor Ort, die Gemeinde galt nicht als gefährdet. | |
| Stephan B. scheiterte dennoch, und zwar an der verschlossenen Eingangstür | |
| zur Synagoge. Aber er erschoss zwei andere Menschen: die Passantin Jana L. | |
| und den Maler-Azubi Kevin L., der im nahegelegenen Kiezdöner Mittag aß. | |
| Dort hatte der Attentäter weitergemordet, nun aus rassistischem Hass. | |
| Die Tat war und ist ein Fanal. Die Politik reagierte entsetzt, schob | |
| Maßnahmenpakete an. Bis heute wird über den Anschlag vor dem Landgericht | |
| Magdeburg verhandelt. Am Freitag nun, am ersten Jahrestag, erinnerten | |
| Gedenkfeiern in Halle an die Tat. Mittags, um 12.01 Uhr, läuteten stadtweit | |
| die Glocken. Am Abend sprach Steinmeier in der Ulrichskirche, auf der | |
| zentralen Gedenkveranstaltung, von „Scham und Zorn“, die er weiter über den | |
| Anschlag empfinde. Forderte, jüdische Einrichtungen besser zu schützen. Und | |
| Haltung gegen Antisemitismus zu zeigen. Dieser sei ein Seismograph für den | |
| Zustand der Demokratie, sagte der Bundespräsident. Je offener er sich | |
| äußere, desto stärker seien Werte der Menschenwürde angefochten. | |
| Und klar wurde: Die Wunden sind zwar nicht verheilt, doch der Hass hat auch | |
| nicht gesiegt. | |
| ## Auch nach dem Anschlag fiel kein Gottesdienst aus | |
| Auf dem Synagogenhof steht am Nachmittag auch Max Privorozki, der | |
| Gemeindevorsteher. Er war bei dem Angriff in dem Gebetshaus, zusammen mit | |
| 51 weiteren Gläubigen, einige von ihnen sind aus Berlin angereist. Man habe | |
| nach dem Anschlag keinen Gottesdienst ausfallen lassen, erinnert Privorozki | |
| bei einem Gespräch im Vorfeld. Der erste Schabbat sei sehr gut besucht | |
| gewesen, auch die Jüdischen Kulturtage. Und dennoch war nichts mehr normal. | |
| Die Gläubigen wurden psychologisch betreut, PolitikerInnen und | |
| JournalistInnen bestürmten die Gemeinde. | |
| Dann kam die Coronapandemie. Nur noch 19 Gläubige durften anfangs in die | |
| Synagoge. Das Pessach-Fest fiel erstmals seit 1945 aus, das Gedenken an die | |
| Schoah-Opfer musste virtuell stattfinden. Zum jüdischen Neujahr, | |
| traditionell mit einem Festessen begangen, gab es nur Essenspakete nach | |
| Hause. | |
| „Man kann schwer von einer Normalität sprechen“, sagt Privorozki. Der | |
| Mittfünfziger ist heute vor allem erschöpft. Er schreckt auf, wenn er | |
| Helikopter am Himmel hört – so wie vor einem Jahr über der Synagoge. Auch | |
| Silvester sei eine Belastung gewesen. Die Gemeinde selbst habe zuletzt kaum | |
| noch über den Anschlag gesprochen. Über Sicherheitsfragen aber durchaus. | |
| Kürzlich erst alarmierten Betende die Polizei, weil ein Fremder vor dem | |
| Eingang der Synagoge filmte. Der Vorfall blieb zwar folgenlos, zeigt aber | |
| die Anspannung. | |
| ## Die Synagogentür wird zum Denkmal | |
| Auch Lidia Edel steht an diesem Freitag auf dem Hof der Synagoge. „Heute | |
| macht jeder mit seinem Leben weiter, aber natürlich bleibt der Anschlag bei | |
| allen im Hinterkopf“, sagt die 20-Jährige. Edel ist seit Jahren Teil der | |
| Hallenser Gemeinde, gibt dort Kindern und Jugendlichen Kunstunterricht – | |
| auch wenn sie gar nicht jüdisch ist. Edel aber gehört zur osteuropäischen | |
| Community der Stadt, die in der Gemeinde stark vertreten ist. Als der | |
| Anschlag geschah, war sie zu Hause, eine Freundin befand sich in der | |
| Synagoge. Von ihr hörte Edel von dem Attentat – und wie die Tür standhielt. | |
| Die Tür ist der Grund, warum auch Lidia Edel am Freitag beim Gedenken | |
| teilnimmt. Denn sie war es, die das Denkmal gestaltete, das nun enthüllt | |
| wurde. Zentrales Element: die zerschossene Synagogentür, vor wenigen Wochen | |
| erst ausgetauscht. „Alle wollten, dass die Tür nicht verschwindet. Aber | |
| keiner wusste, was genau damit geschehen soll“, sagt Edel. „Da hatte ich | |
| die Idee der künstlerischen Umgestaltung, denn die Symbolkraft der Tür ist | |
| ja offensichtlich.“ Die Gemeinde stimmte dem Vorschlag zu. | |
| Das Denkmal zeigt nun die Tür, umfasst von einem Eichenbaum in Form einer | |
| Hand. 52 Blätter hängen hinter der Tür, zwei davor. Sie stehen für die 52 | |
| Gläubigen, die beim Angriff in der Synagoge waren – und für Jana L. und | |
| Kevin S. Zwei weitere Blätter sind hinzugefügt, welche für die weiteren | |
| Verletzten stehen, auf die Stephan B. schoss. Das Denkmal soll an all diese | |
| Opfer erinnern, sagt Edel. „Es ist aber auch eine Mahnung, nichts zu | |
| verdrängen. Und es zeigt, dass das Leben weitergeht, dass alles ein | |
| Kreislauf ist.“ | |
| ## Gerade erst wieder Angriff in Hamburg | |
| Das Leben geht weiter, [2][aber die Gefahr bleibt]. 2.032 antisemitische | |
| Straftaten zählte die Polizei 2019 bundesweit, ein Anstieg um 13 Prozent. | |
| Erst zuletzt schlug ein Mann einen jungen Gläubigen vor [3][einer Synagoge | |
| in Hamburg] mit einem Spaten nieder. Wieder trug er Uniform, wieder geschah | |
| es an einem Feiertag, diesmal dem Laubhüttenfest. Die Erinnerung an Halle | |
| war sofort da. Die Angst in der jüdischen Community auch. | |
| Auch die Gläubigen, die den Angriff in Halle erlebten, schilderten im | |
| Magdeburger Prozess zuletzt, wie sie sich teils weiter in Therapien | |
| befänden, wie sie unter Antisemitismus litten. Dieser sei „trauriger Alltag | |
| unseres alltäglichen Lebens“, sagte dort [4][Christina Feist, eine | |
| Philosophiedoktorandin], die inzwischen nach Paris gezogen ist. „In | |
| Deutschland lebe ich in Angst.“ Sie und andere kritisierten auch die | |
| Polizei: Unsensibel hätten Beamte sie nach der Tat behandelt, ohne Wissen | |
| über die Traditionen an Jom Kippur. Und viel zu wenig sei zu dem | |
| rechtsextremen Netzwerk des Attentäters ermittelt worden. | |
| Max Privorozki lobt zumindest die heutige Sicherheitslage seiner Synagoge. | |
| „Die Zusammenarbeit mit der Polizei läuft jetzt anders“, sagt er. Es | |
| bestehe ständiger Kontakt, die Beamten wüssten über alle Aktivitäten der | |
| Gemeinde Bescheid. Vor der Synagoge steht ein Polizeicontainer. Zur | |
| Wahrheit gehört aber auch: Hinter den Kulissen verhandelte die jüdische | |
| Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt bis zuletzt über eine | |
| Sicherheitsvereinbarung mit dem Land. Und dies, obwohl die Innenminister | |
| nach dem Anschlag unisono einen besseren Schutz jüdischer Einrichtungen | |
| versprochen hatten. | |
| ## Langes Ringen um Sicherheitsvereinbarung | |
| Auch wenn zuletzt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) für diesen Zweck | |
| noch einmal 22 Millionen Euro in den Haushalt einstellte: Einige Gemeinden | |
| klagen, dass sie [5][bis heute Bittsteller seien], wenn es um ihre | |
| Sicherheit geht; sich selbst um Zäune oder eigenes Wachpersonal kümmern | |
| müssten. Sachsen-Anhalt verkündete nun am Dienstag eine Einigung: Das Land | |
| übernimmt komplett den Schutz jüdischer Einrichtungen, zahlt Umbauten und | |
| das Sicherheitspersonal, investiert dafür 2,4 Millionen Euro. Man betrete | |
| damit bundesweit „Neuland“. Privorozki zeigte sich zufrieden – nun gehe es | |
| darum, die offene Liste der Sicherheitsumbauten für seine Gemeinde | |
| umzusetzen. „Es gibt noch sehr viel zu tun.“ | |
| Als die Gemeinde vor knapp zwei Wochen erneut Jom Kippur feierte, diesmal | |
| wegen Corona im städtischen Kulturtreff, zeigte die Polizei Präsenz. Vor | |
| Ort waren auch wieder einige der Gläubigen aus Berlin. Natürlich sei ihm | |
| der Anschlag nicht aus den Kopf gegangen, sagt Privorozki. Man habe für die | |
| Ermordeten, Jana und Kevin, gebetet. Aber es sei erleichternd gewesen, | |
| diesmal das Abschlussgebet von Jom Kippur zu sprechen – was ihm vor einem | |
| Jahr nicht mehr möglich gewesen war. | |
| Den Gottesdienst besuchte mittags auch Ministerpräsident Haseloff, der eine | |
| kurze Rede hielt. Es sollte ein Zeichen der Solidarität sein, aber nicht | |
| alle nahmen es so auf. Christina Feist klagte danach über ein | |
| „PR-Schaustück“, erneut seien die Gebete an Jom Kippur gestört worden. | |
| Privorozki widerspricht: Er selbst habe die Delegation eingeladen, die Rede | |
| sei „ein schönes Zeichen“ gewesen. | |
| ## Ein antisemitische Steilvorlage des Innenministers | |
| Dennoch war es nicht die einzige Dissonanz zuletzt. Erst vor wenigen Tagen | |
| rechnete Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht die Einsatzzeiten | |
| von PolizistInnen vor jüdischen Einrichtungen im Land vor – die an anderer | |
| Stelle fehlen würden. [6][Eine antisemitische Steilvorlage]. Privorozki, | |
| der sich politisch sonst zurückhält, war empört. „Ich habe meinen Ohren | |
| nicht getraut.“ Der Satz sei unerträglich, er stifte sozialen Unfrieden. | |
| Und der Gemeindevorsteher äußert diese Kritik am Freitag auch offen bei der | |
| Gedenkfeier in der Ulrichskirche, an der auch Stahlknecht teilnimmt. | |
| Dabei erlebte die Gemeinde nach dem Anschlag vor allem eines: Solidarität. | |
| Als Privorozki kürzlich im Prozess in Magdeburg als Zeuge aussagte, | |
| berichtete er von den Kundgebungen, die erste noch am Tattag. Der Täter | |
| gehöre zu einer „absoluten Minderheit“. Die Mehrheit bestünde aus „guten | |
| Menschen“. | |
| Beim Gedenken am Freitag im Synagogenhof präsentiert Privorozki auch ein | |
| dickes Buch. Darin enthalten seien Schreiben aus aller Welt, welche die | |
| Gemeinde nach dem Anschlag erhalten habe, sagt der Gemeindevorsteher. „Das | |
| hat Mut gemacht.“ | |
| ## Solidarität unter den Betroffenen | |
| Die Opfer des Anschlags zeigen sich auch untereinander solidarisch: Einige | |
| Gläubige haben sich mittlerweile mit Betroffenen aus dem Kiezdöner | |
| vernetzt. Gemeinsam sprachen sie auf Kundgebungen, trafen sich diese Woche | |
| zu einem Fest in Berlin. Am Mittwoch teilte Privorozki dem Imbissbetreiber | |
| Ismet Tekin mit, dass ihm seine Gemeinde Verzehrgutscheine im Wert von | |
| 1.000 Euro abkaufen werde. Zugleich überreichte auch die Jüdische | |
| Studierendenunion Tekin knapp 30.000 Euro an Spenden, die sie eingesammelt | |
| hatte, weil das Geschäft nach dem Anschlag ins Straucheln geraten war. | |
| Am Ende sorgte der Anschlag damit auch für: Selbstbehauptung. Im Prozess | |
| bekräftigten die Betroffenen immer wieder, ihr Leben und ihren Glauben | |
| weiterzuführen. Jüdisches Leben werde in Deutschland weiter aufblühen. | |
| [7][Ismet Tekin sagte dem Attentäter ins Gesicht]: „Sie haben auf ganzer | |
| Linie versagt. Entstanden ist noch mehr Zusammenhalt und Liebe.“ Auch | |
| Privorozki erklärte: „Nach dem 9. Oktober fühle ich mich hier mehr zu Hause | |
| als zuvor.“ | |
| In seiner Gemeinde erinnerten sich die Gläubigen an Jom Kippur daran, wie | |
| das jüdische Volk selbst in schlimmsten Zeiten nie seinen Optimismus | |
| verlor. Es soll auch diesmal wieder gelten. Noch am Feiertag begannen die | |
| Gläubigen mit einer Spendensammlung für eine neue Tora-Rolle. | |
| 9 Oct 2020 | |
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| [1] /Schuesse-und-Tote-in-Halle/!5628784 | |
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| [5] /Ein-Jahr-nach-dem-Anschlag-in-Halle/!5715354 | |
| [6] /Schutz-von-juedischen-Einrichtungen/!5716143 | |
| [7] /Prozess-zum-Nazi-Anschlag-von-Halle/!5709776 | |
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| Konrad Litschko | |
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